Pierre Blaise, Arbeitsmediziner, trägt eine böse Vorahnung mit sich herum. Eine Zeit könnte kommen, da werden arbeitsmedizinische Praxen überrannt von Studenten und Praktikanten. Blaise ist Präsident der Arbeitsmedizinervereinigung Alsat und Chef des bei der Fédil angesiedelten Service de santé au travail de l’industrie (STI). „Schon heute“, klagt er, „verbringen die Arbeitsmediziner im Schnitt die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Einstellungsuntersuchungen. Da bleibt zu wenig Zeit für präventive Arbeit in den Betrieben.“
Der Studenten-Run, fürchtet Dr. Blaise, könnte dann einsetzen, wenn das Gesetz in Kraft tritt, das die Ärzte eigentlich entlasten soll. Sechs Jahre, nachdem Luxemburg sich als eines der letzten EU-Mitgliedsländer eine Gesetzgebung über Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gegeben hat, ist eine teilweise Reform in der Diskussion. Neu geregelt werden soll die Funktion der arbeitsmedizinischen Dienste, die erst am Jahresanfang 1995 ihre Tätigkeit aufgenommen hatten. Neben den schon vorher bestehenden betriebsinternen Diensten von Arbed, CFL, DuPont de Nemours und Goodyear entstanden noch vier weitere: der STI bei der Fédil, die Association pour la santé au travail du secteur financier (ASTF) bei der Bankenvereinigung ABBL, ein Dienst der Entente des hôpitaux und die größte Einrichtung im Bunde, der Service national de santé au travail (SNST). Jeder Betrieb, der keinen eigenen arbeitsmedizinischen Dienst unterhält, muss sich einer solchen Institution anschließen; welcher, spielt dabei keine Rolle – auch eine kleine Schlosserei kann die Arbeitsmediziner der Bankenvereinigung konsultieren.
Seitdem ist auch die Untersuchung jedes neu einzustellenden Beschäftigten vorgeschrieben, daneben die regelmäßige Kontrolle der auf „postes à sécurité“ Tätigen. Darunter fallen alle Arbeitsplätze mit der Gefahr, Berufskrankheiten zu erleiden, oder Arbeiten an schweren Maschinen. 138 156 Einstellungsuntersuchungen wurden bis Ende 2000 von den sieben Diensten durchgeführt sowie 97 440 regelmäßige Kontrollen. Trotz eindeutiger Vorschrift aber sehen die Ärzte nur jeden zweiten neu einzustellenden Mitarbeiter, notiert in ihrem Jahresbericht 2000 die Division de la santé au travail beim Gesundheitsministerium, der all die arbeitsmedizinischen Dienste unterstehen. Und die Wartezeiten für einen Termin beim Arzt, sagt Carlo Steffes, Leiter der Division, können schon mal bis zu vier Wochen betragen. Nicht selten, dass die Untersuchung erst stattfinden kann, wenn der Betrieb den neuen Mitarbeiter schon eingestellt hat.
Die Reform, die noch unter dem LSAP-geführten Gesundheistministerium entstand und sich schon seit Anfang Februar auf dem Instanzenweg befindet, werde die Arbeit der Mediziner „vereinfachen und zielgerichteter gestalten“, davon ist Marco Schroell (DP), Chamber-Berichterstatter für den Gesetzentwurf, überzeugt. Wer einen befristeten Arbeitsvertrag von nur bis zu drei Monaten Laufzeit erhält, soll nicht mehr untersucht werden. Das würde für Saisonarbeiter und Aushilfskräfte zutreffen. Chambre de commerce und Staatsrat hielten in ihren Gutachten 1999 und 2000 diese Idee zwar für ebenso gut wie jene, wonach in Zukunft eine Einstellungsuntersuchung bis zu vier Wochen nach Aufnahme der Tätigkeit erfolgen darf.
Würde das Gesetzesprojekt nicht auch Studenten, Praktikanten und zur „mis au travail“ gesandte RMG-Empfänger einschließen. Zwar werden auch diese Personen in der Regel nur für kurze Zeit befristet eingestellt, doch wird nach dem Reformprojekt prinzipiell immer untersucht werden müssen, wer für die Arbeit auf so genannten „postes à risque“ vorgesehen ist.
Diese Definition ist neu, und gegen sie argumentieren die Ärzte der Alsat. Der Streit mutet zwar reichlich technisch an, wirft aber grundlegende Fragen zur Qualität der Arbeitsmedizin hier zu Lande auf. Für „postes à risque“ wird die schon bestehende Definition der „postes à sécurité“ erweitert um Arbeitsplätze, an denen der Beschäftigte einen Unfall am Arbeitsplatz selbst davon tragen könnte oder wo er gesundheitsschädlichen bzw. Krebs erregenden Stoffen ausgesetzt wird. Als riskant soll ebenfalls gelten, wenn an einem Arbeitsplatz die Sicherheit und Gesundheit anderer Mitarbeiter oder Dritter ernsthaft gefährdet sein könnte. Jeder Arbeitgeber soll in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Arbeitsmediziner ein Risikoposten-Inventar zusammenstellen und der Division de santé au travail beim Gesundheitsministerium zur Bestätigung übermitteln.
Als zu vage kritisierten Staatsrat und Chambre de commerce die Risiko-Definitionen. Und Alsat-Präsident Pierre Blaise sieht damit beinahe jeden auf einem Risikoposten arbeiten. Wenigstens übernahm die parlamentarische Gesundheitskommission vor zwei Monaten die Alsat-Empfehlung „am Arbeitsplatz selbst“ als Attribut zur näheren Beschreibung möglicher Arbeitsunfälle in den Gesetzentwurf, vorher war jede Form von Unfall riskant, vom Sturz aus großer Höhe bis zum verstauchten Fuß auf dem Weg zur Toilette. Auch die Gefährdung Dritter ist umstrtitten. Wäre doch damit nach Pierre Blaises Ansicht beispielsweise auch jeder Fahrer, der die Repas sur roues austrägt, regelmäßig zu untersuchen. „Es müsste einen Katalog von Risiken geben“, sagt Pierre Blaise, „etwa nach dem Vorbild Deutschlands.“ Berücksichtigt werden müsse außerdem die Dauer, in der ein Mitarbeiter einem Risiko unterliegt.
Diesen Risiko-Katalog wird es nicht geben. Patronat und Alsat meinen, den Betrieben die Risikoerhebung zu überlassen, sei keine flexible Lösung und könne vor allem kleinere Betriebe überfordern. Die Alsat sieht damit eine „Ver-Administrierung“ im Anmarsch. Wenn nicht klar sei, ob die Zahl der Einstellungsuntersuchungen tatsächlich sinken werde, drohten womöglich Verhältnisse wie in Frankreich: zwar kommt dort ein Arbeitsmediziner auf 2 500 Beschäftigte, was besser ist als in Luxemburg, wo per Gesetz eine Relation von 1:5 000 vorgeschrieben ist. Französische Arbeitsmediziner aber müssten jeden Berufstätigen einmal jährlich untersuchen, hätten im Schnitt nur sieben Minuten Zeit pro Konsultation, so Pierre Blaise, in Luxemburg seien es momentan immerhin noch 20 Minuten. „Eigentlich müsste unsere Aufgabe aber vor allem darin bestehen, zu ermitteln, welche Beschwerden mit dem Arbeitsplatz in Verbindung stehen.“ Zuviel Untersuchungsroutine sei kontraproduktiv.
Carlo Steffes, schon unter den Ministern Lahure und Wohlfahrt einer der Mitautoren des Reformentwurfs, sieht sehr wohl auch für die Zukunft viele Routinekonsultationen auf die Arbeitsmediziner zukommen. Die Lösung könne aber nicht in zuviel Pragmatismus bestehen: „Das Problem ist: Wir haben einfach nicht genug Ärzte.“
Tatsächlich fehlen für die im Gesetz über Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz festgelegte Quote von 5 000 Beschäftigten pro Arbeitsmediziner gegenwärtig sechs Ärzte. Wirtschaftsboom und Arbeitsplatzwachstum der letzten Jahre trugen dazu ihr Übriges bei. Doch mit der Neueinstellung von Arbeitsmedizinern ist das so eine Sache. Finanziert wird die Arbeitsmedizin aus der Lohnmasse der Unternehmen. Dass davon bis zu 0,2 Prozent für die Finanzierung des SNST verwendet werden können, schrieb das Gesetz von 1994 vor, da der SNST ein öffentliches Unternehmen ist. Alle anderen Dienste sollten die Finanzierung mit ihren Trägern regeln. Doch die Patronatsseite, stets hellhörig, wenn es um die Steigerung von Lohnnebenkosten geht, wurde schon damals aufmerksam, und in ihrem Gutachten zum Reformprojekt verwies die Chambre de commerce erneut auf die Kostenfrage. Tatsächlich jedoch hat der SNST nie das 0,2-Prozent-Maximum ausgeschöpft; im ersten Jahr seiner Tätigkeit stellte er den Betrieben 0,15 Prozent in Rechnung, kürzte den Betrag ein Jahr später auf 0,12 und ein weiteres Jahr danach auf 0,11 Prozent. Mit Ende Juni 19 400 Betrieben ist der SNST der mit Abstand größte arbeitsmedizinische Dienst, Nummer zwei, der STI der Fédil, betreute zum gleichen Stichdatum 470 Unternehmen. Beide Dienste versuchen einander nicht zuviel Konkurrenz zu machen: allerdings unterbietet der STI den Kostenfaktor des SNST leicht und kassiert lediglich 0,105 Prozent. Nicht ohne den Hintergedanken, Betriebe könnten zum SNST abwandern.
Allein die bei Einzelbetrieben bestehenden arbeitsmedizinischen Dienste haben ein höheres Budget. Bei der Arbed oder DuPont de Nemours erreicht es 0,2 Prozent oder übersteigt es sogar. Doch dort besteht bereits seit Jahrzehnten eine arbeitsmedizinische Kultur. Sondermaßnahmen, wie sie die Arbed derzeit in einer Studie zu den Auswirkungen und der Vermeidung von Stress am Arbeitsplatz durchführt oder Konzepte zur Erhöhung des Wohlbefindens der Angestellten von DuPont kosten Geld, offenbar jedoch wurde der volkswirtschaftliche Nutzen der Arbeitsmedizin längst erkannt.
Und über den besteht im Jahre sechs nach Einführung der Arbeitsmedizin in Luxemburg in vielen anderen Unternehmen noch Unklarheit. Auch Pierre Blaise kann zwar auf viele Bemühungen des STI zur Prävention in den Betrieben verweisen: von Lärmschutz- und Hygienemaßnahmen über komplexe Konzepte in dem STI mittlerweile angeschlossenen Großbetrieben mit innerbetrieblichem Dienst wie Goodyear bis hin zu Seminaren und der Schulung von insgesamt 400 „travailleurs désignés“, die als Bindeglied zwischen Betriebsleitung, Arbeitsmediziner und Belegschaft fungieren. Auch das Gesundheitsministerium lobt, dass die Mehrzahl der Vorschläge zur arbeitsmedizinischen Innovation vom STI kämen. Doch Pierre Blaise muss einräumen: „Es wäre gut, wenn die Betriebe uns viel öfter um Unterstützung bitten würden.“
Leider aber ist der volkswirtschaftliche Nutzen der Arbeitsmedizin außerhalb der Vorreiterbetriebe mit ihren eigenen Diensten derzeit noch nicht beziffert. Weder das Gesundheitsministerium noch beispielsweise der STI verfügt über Statistiken, wie sich durch arbeitsmedizinische Maßnahmen etwa der Krankenstand verringert hat und welche positiven Kostenresultate das hatte. Regelmäßig erfasst werden allein die Arbeitsunfälle. Diese Statistik ist noch immer beunruhigend, auch nach Einführung der Gesetze geschehen noch immer viele Unfälle. 1992 waren es über 21 000 gewesen, im vergangenen Jahr 23 000. 1992 starben an ihrem Arbeitsplatz 24 Menschen, im Jahr 2000 waren es 26. Wurde der Schaden durch die Unfälle 1992 auf zwischen 9,6 und 16,5 Milliarden Franken pro Jahr geschätzt, war im letzten Jahr von fast 24 Milliarden die Rede. Nicht jeder Unfall lässt sich durch arbeitsmedizinische Prävention vermeiden, aber wenn Carlo Steffes meint, die Arbeitsmediziner müssten viel häufiger ein Auge auf die Sicherheitsgegebenheiten in den Firmen haben, stellt sich die Frage, ob die Zahl der Kontrollgänge nicht durch ein Mehr an Ärzten erhöht werden könnte und müsste.
Doch während in anderen medizinischen Fachdisziplinen, wie etwa der Augenheilkunde, sich allmählich ein Ärzteüberschuss aufbaut, ist in der Arbeitsmedizin das glatte Gegenteil der Fall. „Es gibt“, stellt Carlo Steffes fest, „bei uns derzeit keine freien Arbeitsmediziner.“ Und Pierre Blaise lässt durchblicken, dass man in diesem Beruf zumindest nicht reich werden kann: „Ein niedergelassener Allgemeinmediziner kann brutto doppelt so viel verdienen wie wir. Wenngleich wir als Angestellte eine geregelte Arbeitszeit haben.“
Ein gordischer Knoten, für dessen Lösung sich denn doch eine bessere Dotierung arbeitsmedizinischer Leistungen aufdrängt. Das neue Gesetzesprojekt schafft dafür zusätzlichen Raum: die 0,2-Prozent-Obergrenze, die ohnehin nur für den SNST galt, wurde gestrichen. „Und im Schnitt gibt jeder Betrieb pro Beschäftigten jährlich 1 500 Franken für arbeitsmedizinische Betreuung aus“, sagt Carlo Steffes. „Das ist wirklich nicht viel.“
Noch wichtiger wäre freilich eine schnelle Klärung des volkswirtschaftlichen Nutzens der Arbeitsmedizin. So bald aber werden diese Daten nicht zu haben sein, und so versucht der Gesetzentwurf einen schwierigen Spagat. Dass den Unternehmensinteressen dabei nicht genug Rechnung getragen würde, kann allerdings nicht mit allem Fug und Recht behauptet werden: Arbeiter- und Privatbeamtenkammer hatten sich dagegen gewehrt, dass Einstellungsuntersuchungen noch vier Wochen nach der Arbeitsaufnahme möglich sein sollen: der Betroffene säße dann zwischen zwei Stühlen, eventuell könne ja eine Entlassung wegen Berufsunfähigkeit drohen. Auf Anraten der Chambre de commerce wurde die Frist Anfang Mai sogar auf acht Wochen verdoppelt.