Manchmal fühlt man sich bei Ulrike Bails neuem Gedichtband im halblichten geäst deines atems an verdecktes gelände von Nico Bleutge erinnert, zelebrieren die Texte doch das Haptische, Erdige, Spür- und Ertastbare, das man kneten und formen kann und das dabei wie schwer duftender Humus zwischen den Fingern zu Boden rieselt. Es wäre in diesem Sinne zu kurz gegriffen, wenn man sagen würde, dass sich die Gedichte von Ulrike Bail mit dem literarischen Sujet des Walds befassen. Vielmehr versteht es die Autorin, Gedankenfäden zu spinnen, mit denen sie wie mit einem zartgliedrigen Spinnennetz den Forst, das Gehölz, das Waldgewächs als Thema einrändert: „mit locker trugdoldigem blütenstand / flaniert das weiße fingerkraut durch / die saumgesellschaften der nacht“.
Dabei verbinden sich die unterschiedlichen Modalitäten der Wahrnehmung zu synästhetischen Erlebnissen, die den Wald in seiner Totalität erfahrbar machen – plötzlich also ist vom „blaugrünen zitronenduft“ die Rede oder von den Tönen, die „zerstreutporig“ in einer Hand liegen. Doch es sind nicht nur die Sinneseindrücke, die ineinanderfließen, sondern auch verschiedenste Bildbereiche, die in diesen Poemen zueinanderfinden. So werden die Baumkronen zum Beispiel zu einem „wipfelmeer“ und das lyrische Du setzt vergebens „ein segel / ins kahle geäst“. Die hier dargestellten hochkomplexen Wahrnehmungskonstellationen und -kombinationen fängt Bail mit Wortneuschöpfungen ein, die in ihrer betörenden Eigenwilligkeit die Erlebnisfülle, die einen bei einem Streifzug durch den Wald erwarten kann, deutlich machen. Das Laub, über das der Nebel wabert, ist „feuchtfett“ und die Elsbeeren, die sich das angesprochene Du schmecken lässt, „leibschmerzlindernd“. Lindern sie auch den Seelenschmerz? Bails Gedichte tun das auf jeden Fall – im halblichten geäst deines atems ist eine Lektüre so frisch und befreiend wie der Duft der Kiefern und Wegrandblumen, die Bail so liebevoll in ihren Gedichten besingt.
Ulrike Bails Beobachtungsenthusiasmus schlägt sich nieder in einer feinsinnigen Lyrik, die erforscht ohne zu vermessen, die erzählt ohne zu vereinseitigen, die sich tastend an ihren Gegenstand – oder vielmehr ihre Gegenstände – heranwagt ohne sie dadurch festhalten zu wollen. Genauer führt die Erkundungstour, welche die Autorin in „im halblichten geäst deines atems“ unternimmt, sie – und mit ihr den Leser – in die Tiefen des Walds, in dem ihr Tiere wie der Damhirsch begegnen, „waldengelwurz hundspetersilie schierling“ aus dem Boden schießen und das lyrische Du „die goldgrün / metallischen körper der fliegen“ sammelt.
Die Erkundungsreise, die Ulrike Bail in im halblichten geäst deines atems unternimmt, führt sie – und mit ihr den Leser – in die Tiefen des Walds, in dem ihr prachtvolle Tiere wie der Damhirsch begegnen, „waldengelwurz hundspetersilie schierling“ aus dem Boden schießen und das lyrische Du wie in einem kindlichen Spiel „die goldgrün / metallischen körper der fliegen“ sammelt. Es ist die Überfülle dieses wundersamen grünen Biotops, welche sich in den Texten offenbart: „am wegrand ungeduldig nach / ausbruchsbereiten kapseln jener / kniehohen pflanzen suchen / die ihre samen ins erschrecken / schleudern.“ Dabei streift die Autorin aber auch die menschlichen Abgründe, die ihre Spuren im Wald hinterlassen haben, spricht von dem „versplitterte[n] holz“ und den Gewehrkugeln, die noch in den Stämmen stecken. Die Bäume erscheinen hier also als das Gedächtnis des Walds, in das sich vergangene Schrecken, unter anderem Kriege, physisch eingeschrieben haben. Dennoch erscheint hier die Vergangenheit nicht einfach eingekapselt in der materiellen Realität der Jetztzeit, vielmehr lässt die Autorin Jahrtausende, wenn nicht Jahrmillionen in wenigen Zeilen Revue passieren: „was plankton vom wald erzählt / in die flüsse eingeschwemmt flöße / aus sturmholz von lautlosen geistern / bewohnt totholz über grund spült es / die ufer stromschnellen hin treibholz / in gezeiten triftiges gut am meeresboden / versunken oasen für muschel und mensch“. Ulrike Bails Beobachtungsenthusiasmus schlägt sich, das lässt sich festhalten, nieder in einer feinsinnigen Lyrik, die sich tastend an ihre Grundthematik – den Wald – heranwagt ohne sie allzu sehr umklammern und somit auf Einzelaspekte festlegen zu wollen.