Das Schöne an Traditionen: Man weiß, wann sie kommen, wie sie kommen, zu wie viel sie kommen – und man kann sich drauf freuen (oder auch nicht). Traditionell zur Tradition Weihnachten: der Besuch der Kinderoper im TNL in der Adventszeit. Die Vorfreude auf Kinder-oper dürfte bei den Erwachsenen ungleich größer sein als bei den Kindern – zumindest ist das bei uns in der Familie so, wo die Jungs allemal eine zünftige Kampfszene singenden und tanzenden Märchenfräulein vorziehen. Dass jedes Bühnenspektakel unter dem Titel „Kinderoper“ den Anspruch auf „kulturell anspruchsvoll“ erheben mag, bedeutet ja noch lange nicht, dass jede Kin-deroper-Inszenierung voll und ganz gelungen ist. Mangels anderer Referenzen hierzulande, vergleicht der treue Besucher die diesjährige Vorführung zwangsläufig mit der vom vorigen Jahr, vorvorigen Jahr, vorvorvorigen Jahr… und zieht seine eigenen subjektiven Schlüsse.
Mit Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck hat sich das Team um Regisseurin Jacqueline Posing-Van Dyck die wohl älteste, bekannteste und am meisten aufgeführte Kinder-oper überhaupt ausgesucht. Fast alle großen Opern- und Kindertheaterhäuser im deutschsprachigen Raum haben das 1893 uraufgeführte Werk schon einmal im Programm gehabt. Die Originalfassung von Humperdinck, mit dem Libretto von Adelheid Wette, war als „Märchenspiel in drei Bildern“ gedacht und hatte eine Spieldauer von etwa zwei Stunden – richtete sich demnach bestenfalls von der Thematik her an ein jüngeres Publikum, weniger von der Form her.
Zur Kinderoper wird das Originalwerk erst durch Kürzungen und durch eine Regiearbeit, die das altbackene, zudem etwas gruselige Grimm-Märchen an die Leseart und an den Gustus des heutigen Publikums anpasst. Für die TNL-Fassung des bekannten Werks hat Regisseurin Posing-Van Dyck Hänsel und Gretel so viele alte Zöpfe abgeschnitten, dass die beiden fast nackt auf der Bühne stehen. Will heißen: Der klassische Erzählstrang wurde so umgewandelt, dass man das Märchen kaum noch wieder erkennt. Statt üppiger Kostüme, grandioser Bühne und einem Dutzend Darsteller bietet die Aufführung eine eher minimalistische Inszenierung mit drei Sängerinnen, zwei Musikern und einer überschaubaren Bühnengestaltung mit zwei Betten, zwei Bäumen und einem karg verzierten Knusperhäuschen. Statt der erwarteten Knusper-Orgie nur Magerquark in der Oper?
Hänsel und Gretel ist einfach enttäuschend – wenn man die mitreißenden musikalischen Themen der Originalfassung im Kopf hat. Wenn man die Kinderoper-Inszenierungen des TNL der letzten Jahre in Erinnerung hat. Diese wussten durch eine gelungene Mischung von darstellerisch-erzählerischen Elementen und rein klassisch musikalischen Einlagen zu überzeugen. Den kleinen Zuschauern waren die Mitmach-Elemente besonders lieb geworden – obwohl Letztere im Programm angekündigt werden, sind sie letztendlich inexistent. Hänsel und Gretel mangelt es an Ausgeglichenheit innerhalb der Szenen, an Präzision in der Erzählstruktur.
Der erste Akt, der im Original die Geschwister im freudlosen Zuhause bei der fiesen Mutter zeigt, wurde in die Gegenwart geholt und das Märchen an sich in eine vorgelesene Gute-Nacht-Geschichte umgewandelt. Dieser Auftakt, der eine zeitgenössische Rahmenhandlung hätte bieten können, wird leider anschließend als solche nicht wieder aufgenommen. Der zweite Akt im Wald zeigt die der Kinderoper zugrunde liegende Problematik der Narration auf: Werden die Geschichte und die dargestellten Gefühle vornehmlich über die Libretti erzählt, sind sie für jüngere (zudem nicht deutschsprachige) Zuschauer kaum verständlich. Der dritte Akt lehrt das Gruseln mit dem Auftritt der blauhäutigen, rothaarigen Hexe (Olga Gorodetskaia), die wenig spektakuläre Zaubertricks vorführt – und kommt sehr schnell, zu schnell, zum Schluss. Ohne dass man erfährt, was aus den Kindern und ihren Eltern wird …
Den Erwachsenen dürfte auf jeden Fall die bekannte Musik von Engelbert Humperdick gefallen, hervorragend vorgetragen von Klauspeter Bungert am Klavier und Luc Hemmer und Sven Kiefer an der Perkussion. Die Volkslieder, wie Ein Männlein steht im Walde und Brüderchen, komm tanz mit mir, fehlen nicht, ebenso wenig wie die wunderschönen Duette, von Annette Pfeifer und Iris Marie Kotzian vorgetragen: Abends wenn ich schlafen geh – zum Dahinschmelzen schön …