„Mir war schwindelig und ich habe alles doppelt gesehen“, berichtet Miranda* lachend, als sie sich die Brille vom Kopf nimmt und die Haare schüttelt. Die Brille und die damit verbundenen Gleichgewichtsübungen sind der Höhepunkt an diesem Dienstagmorgen in der Mehrzweckhalle des Lycée Nic Biewer in Düdelingen. Wer durch die Gläser blickt, erlebt die Welt dank eines besonderen Schliffs wie jemand, der oder die 1,8 Promille Alkohol im Blut hat: Geradeaus zu gehen, ist nur unter größter Anstrengung möglich, und selbst dann sieht der Gang torkelig und unbeholfen aus. Entsprechend herzlich wird gelacht.
Für eine Woche hat das Präventionsprojekt Alkohol Limitiert seine Stationen aufgebaut: Es stammt von den deutschen Pädagogen Agnes Weber und Heinz-Jürgen Vogelsang, seit vielen Jahren in der Drogenprävention tätig und in Luxemburg mittlerweile Stammgäste: Engagiert vom Service de Coordination de la Recherche et de l’Innovation pédagogiques et technologiques (Script) des Erziehungsministeriums im Bereich der schulischen Gesundheitsförderung bieten sie auf Sekundarstufen und in Grundschulen Aufklärung zu Sucht, wie Tabak und Alkohol, an. Im Durchschnitt trinken Jugendliche in Luxemburg im Alter von 15,9 Jahren ihr erstes alkoholisches Getränk. Knapp vier Prozent der 17- bis 18-jährigen Mädchen, die für die Wohlbefindlichkeitsstudie der Weltgesundheitsorganisation 2014 in Luxemburg befragt wurden, gaben an, bereits im Alter von elf Jahren zum ersten Mal Alkohol zu sich genommen zu haben, ein Viertel der Jungen und Mädchen war im Alter von rund 14 Jahren zum ersten Mal betrunken.
Vier Stationen sind es, die die Schüler in dieser Doppelstunde durchlaufen werden. Begleitet werden sie von als Moderatoren geschulten Lehrkräften. An der ersten Station, ein großer Tisch mit einem Spielbrett und überdimensionierter Spielfigur (eine Bierflasche aus Holz), lernen Schüler Mythen hinterfragen, die rund ums Thema Alkohol kursieren. Es ist ein Würfelspiel, bei dem die Spieler Felder vorrücken und Fragekarten aufdecken, die sie dann gemeinsam mit den Moderatoren diskutieren. Heute braucht es etwas Anlauf: Die Jungs und Mädchen der sechsten Klasse sind müde, sie hängen tief in ihren Sitzen. Als der Moderator jedoch die Frage vorliest, was kann beim Sex passieren kann, wenn man zu viel getrunken hat, werden sie hellhörig. Schüchtern sagt eine: „Man könnte vergessen zu verhüten.“ Ein anderer: „Es könnte etwas daneben gehen.“ Der Moderator ergreift schließlich selbst das Wort: „Ja, oder es läuft gar nichts.“ Alkohol in großen Mengen zu sich genommen, könne die Erektionsfähigkeit beeinträchtigen. Kichern.
An einer anderen Station im hinteren Teil der Halle ist ein Computerbildschirm mit mehreren Kopfhörern aufgebaut. Hier zeigen die Moderatoren süffige Werbefilme. „Die Jugendlichen lernen, die Botschaften zu hinterfragen“, erklärt Vogelsang. Gerade wird laut gelacht: In einem Video soll einem ängstlichen Fallschirmschüler der Absprung schmackhaft gemacht werden – mit einem Kasten Leicht-Bier, den der Ausbilder aus dem Flugzeug wirft. Doch nicht er hechtet dem Bier hinterher, sondern der Pilot. Lustig sind sie, die Werbefilme, und ziemlich clever gemacht.
Suchtprävention gilt oft als langweilig oder belehrend und nimmt eher illegale Drogen wie Cannabis oder Ecstasy ins Visier. Dabei sind die gesundheitlichen Folgen übermäßigen Konsums von Alkohol gravierender als von beispielsweise von LSD oder Cannabis: Langfristig schädigt Alkohol nicht nur die Leber, auch das Gehirn und andere Organe werden durch Alkoholmissbrauch in Mitleidenschaft gezogen. Bei anhaltendem Missbrauch nehmen die Gedächtnisleistung und das Konzentrationsvermögen ab, das Urteilsvermögen und die Intelligenz werden massiv beeinträchtigt, bis hin zu irreversiblen Beeinträchtigungen. Außerdem ist Alkoholmissbrauch Auslöser für Krebserkrankungen und die Wahrscheinlichkeit für Herzmuskelerkrankungen steigt. Von den gesellschaftlichen Folgen ganz zu schweigen: kaputte Beziehungen, Verkehrsunfälle, Gewalttaten. Trotzdem ist Alkohol legal erhältlich.
„Wenn die Weinabteilung im Supermarkt so groß ist, dass man sie quasi mit Wanderschuhen abschreiten kann, sagt das einiges über den Stellenwert von Alkohol in unserer Gesellschaft aus“, sagt Heinz-Jürgen Vogelsang. Kein Party ohne Alkohol, ob das Bier auf der Betriebsfeier, der Sekt zum Geburtstag oder die krasseste Form, (jugendliches) Komasaufen, bei dem in kurzer Zeit große Mengen Bier oder Schnaps getrunken werden, bis zum Vollrausch. Bierfirmen werben mit coolen Sprüchen im Instagram-Stil für ein hippes Lebensgefühl: „Das Leben kannst Du nur bunt sehen, wenn Du es bunt machst.“
Weber und Vogelsang haben deshalb noch andere Filme im Gepäck: Aufklärungsvideos mit Schreckmoment, etwa wenn ein normaler Familienvater nach einem trinkfreudigen Abend mit Kollegen ins Auto steigt, wegen einer kleinen Unachtsamkeit und verlangsamter Reaktionsgeschwindigkeit durch die Gläser zu viel auf ein Kind zurast. In einem anderen Video kotzt ein junger Mann, der lässig in der Disko Frauen aufreißen wollte, auf die Tanzfläche, ein anderer pinkelt statt in die Toilette gegen die Wand: „Peinlich“, kommentiert Pedro* und hält sich das Gesicht. Das ist oft der Moment, wo Weber und Vogelsang einhaken: Warum ist es peinlich? Und vor allem: Wie könnte ein Alkoholkonsum aussehen, der die Gesundheit nicht gefährdet und eine/n am Ende blöd aussehen lässt?
Viele Jugendliche wissen nicht, dass sie aufgrund ihres geringen Körpergewichts viel empfindlicher auf Alkohol als Erwachsene reagieren, dass der Alkoholgehalt im ihrem Blut stärker und schneller ansteigt und der Alkoholabbau langsamer erfolgt. Ihr Körper, der sich noch in der Entwicklung befindet, kann das dafür zuständige Enzym noch nicht wie bei Erwachsenen produzieren. Bei Kindern und Jugendlichen kann sich eine Alkoholabhängigkeit innerhalb weniger Monate oder Jahre entwickeln. Und das Gehirn viel schneller irreversibel Schaden nehmen.
Und trotzdem ist der Konsum von Alkohol in Luxemburg ab 16 Jahren erlaubt. Der Besuch von Weinfesten gilt als Kulturgut, Weinanbau und -verkauf machen einen nicht unwesentlichen Anteil der heimischen Landwirtschaft aus. Alkoholsucht-Präventionsprogramme liefen eher nebenbei und oft auch halbherzig. Die Neuauflage des Aktionsplans Alkohol, den die ehemalige Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) eigentlich noch hatte vorstellen sollen, lässt auf sich warten. Maßnahmen, die darin diskutiert werden: Die Altersgrenze für Hochprozentiges auf 18 Jahren anzuheben und gemeinsam mit dem Erziehungsministerium die Vorsorge zu verstärken und das Bewusstsein für die Risiken zu schärfen.
Wer Suchtprävention in der Schule hört, denkt an Verbote und strenge Hausordnungen. Alkohol auf dem Schulgelände ist untersagt, auch auf Klassenfahrten ist der Konsum verboten. Der Ansatz von Alkohol limitiert ist interaktiv, informativ und unterstützend. „Wir verurteilen Jugendliche, die trinken wollen, nicht. Wir informieren sie, damit sie die Folgen und Risiken realistisch einschätzen können“, sagt Agnes Weber. Statt Absentismus und unrealistische Verbote zu predigen, sollen die Teenager lernen, verantwortungsvoll mit ihrem Körper umzugehen und wenn, dann gesundheitsverträglich und altersgerecht konsumieren. Besonders problematisch sind in dem Alter der Gruppendruck und die Risikobereitschaft, die gerade unter männlichen Jugendlichen besonders ausgeprägt ist und nicht selten zur Selbstüberschätzung führt. „Jugendliche sollen lernen, Nein zu sagen“, erklärt Heinz-Jürgen Vogelsang.
Weil Alkohol limitiert keine einmalige Aktion sein will, sondern ein Präventionsprogramm, das fester Bestandteil des Schulalltags ist, werden die Lehrkräfte und Erzieher aktiv als Moderatoren in den Ablauf eingebunden. Dazu müssen sie eine vierstündige Ausbildung durchlaufen, die sie als Weiterbildung anrechnen lassen können. Im Lycée Nic Biewer, wo der Sozialdienst den Kontakt mit dem Script organisiert und die Suchtprävention seit vier Jahren im Programm führt, klappt die Zusammenarbeit gut. Es gebe Schulen, die hakten „den Punkt manchmal pflichtschuldig ab“, bedauert Astrid Schorn, zuständige Koordinatorin im Script. Das Ministerium wollte die Anlernzeit auf zwei Stunden kürzen, aber das wollten die Veranstalter nicht: „Erwachsenen geht es nicht viel anders als den Jugendlichen: Sie glauben bestimmte Mythen und haben sie nicht hinterfragt“, weiß Agnes Weber.
Wir sind an der letzten Station angekommen. Die Pädagogin steht an einer Tafel, auf der alkoholische Getränke in typischen Gläsern abgebildet sind. „Welches Getränk hat den höchsten Alkoholgehalt?“, fragt sie in die Runde. „Schnaps oder der Likör“, antworten die Jugendlichen. „Das sagen die meisten“, nickt Weber. Dann klärt sie auf: Elf Gramm Alkohol lautet die richtige Antwort – für jedes abgebildete Getränk. Lehre Nummer eins: Es kommt auf die Menge an, die jemand trinkt. „Wenn eure Eltern fragen, wie viel Bier ihr getrunken habt, und ihr antwortet: nur ein Glas, dann heißt das nicht viel.“ Weber hält einen Humpen hoch. Er umfasst drei Mal die Menge eines herkömmlichen Bierglases. Auch das Geschlecht und das eigene Körpergewicht beeinflussen die verträgliche Menge. Mithilfe einer Formel und anhand eines fiktiven Falls sollen die Jugendlichen selbst eine Alkoholmenge im Blut bestimmen: Eine Mitschülerin trinkt ein Bier und eine Flasche Crémant. Nicht nur der Führerschein wäre weg, sondern die junge Frau mit über zwei Promille sehr wahrscheinlich im Krankenhaus. Daher das Motto: Kenn᾽ Dein Limit.