Sie kamen um zu helfen – und mussten dann selbst Hilfe rufen. Mit einem Messer bedrohte ein Betrunkener Rettungssanitäter, die herbeigerufen worden waren, und hielt sie fest, bevor die Helfer von der Polizei befreit und der Angreifer in Handschellen abgeführt werden konnte. Solches Glück im Unglück hatten ein Feuerwehrmann und sein Kollege in Paris Anfang September nicht: In eine Wohnung gerufen, um einen psychisch gestörten Mann medizinisch zu versorgen, ging dieser mit einem Messer auf die Helfer los, verletzte einen tödlich und den anderen schwer.
„Gewalt und Aggression gegen das Rettungspersonal sind vielleicht nicht häufiger, aber sie sind im Ausmaß heftiger geworden“, sagt Paul Schroeder, Direktor der Corps grand-ducal d’incendie et de secours (CGDIs), wie das nationale Rettungswesen seit 1. Juli heißt, nachdem freiwillige Feuerwehr, Protection civile mit den hauptamtlichen Rettungshelfern, dem Samu-Dienst und der Flughafenfeuerwehr in einer Struktur zusammengelegt wurden. „Wir merken auf Rettungseinsätzen, dass der Umgang insgesamt rauer geworden ist.“ 21 Angriffe auf Einsatzkräfte vermeldete der CGDIS im ersten Quartal dieses Jahres, von Drohungen, Beleidigungen und Anpöbeleien über Bespucktwerden bis hin zu Handgreiflichkeiten – alles dabei. Auch zwei Angriffe mit Waffen wurden gemeldet. Die Gewalt geht nicht selten von Patienten selbst aus, die unter Drogen oder Schock stehen und/oder sich gegen Hilfe wehren. Immer öfter aber auch von umstehenden, unbeteiligten Dritten.
Hohe Dunkelziffer
Im Ausland sind Statistiken und Studien zu Gewalt gegen Rettungskräfte längst üblich, in Luxemburg erfasst die Zentrale des Rettungswesens Angriffe gegen ihr Personal systematisch erst seit dem unglücklichen Einsatz in Differdingen. Sie unterscheidet dabei drei Eskalationsstufen: Zur ersten Stufe, verbalen Attacken, wurden dieses Jahr 34 gemeldet, zur zweiten Stufe, körperliche Angriffe, waren es elf, und schließlich zwei Angriffe, bei denen Waffen gegen die Helfer in Not gerichtet wurden. Amokläufe zählen ebenfalls zur Stufe drei. Dorothee Knauf, Chefin der Abteilung Gesundheit im CGDIS, geht jedoch von einer hohen Dunkelziffer vor allem bei verbalen Aggressionen aus: „Weil wir da nicht immer eine Meldung bekommen.“
Um Sanitäter und Feuerwehr besser vor Gewalt zu schützen, sollen Übergriffe gegen Rettungskräfte künftig höher bestraft werden: Wer Helfer im Einsatz angreift oder Bergungsarbeiten behindert und sich den Aufforderungen des Rettungspersonals widersetzt, muss künftig, neben einer möglichen Zivilklage, mit einer Strafanzeige rechnen. Gewalt kann mit Haft zwischen acht Tagen und fünf Jahren geahndet werden sowie mit einer Geldstrafe zwischen 251 und 10 000 Euro. So sieht es jedenfalls der Entwurf vor, den Justiz- und Innenministerium gemeinsam formuliert haben und der in den Code pénal geschrieben werden soll. Allerdings hat der Staatsrat in seinem diese Woche veröffentlichten Gutachten Bedenken angemeldet, zum Beispiel was die Frage des Vorsatzes derartiger Übergriffe und Behinderungen betrifft, und ob derlei Attacken nicht schon nach geltendem Recht bestraft werden können. In Belgien, ebenfalls mit einer zunehmenden Gewaltbereitschaft gegen Rettungs- und Polizeikräfte konfrontiert, entschied sich der Gesetzgeber nach eingehender Prüfung dagegen, einen neuen Tatbestand zu schaffen.
„Die Androhung von Strafen verhindert sicher nicht, dass unsere Leute weiterhin in Gefahr geraten können. Aber es hätte Signalwirkung“, ist CGDIS-Leiter Schroeder überzeugt. Auch der Berufsverband der Feuerwehr, die Fédération nationale des sapeurs-pompiers, begrüßt die Initiative: „Es muss etwas geschehen. Es kann nicht sein, dass wir Kopf und Kragen riskieren und Übeltäter straffrei ausgehen“, sagt Verbandspräsident Marc Mamer, demzufolge Handgreiflichkeiten und Pöbeleien gegen Feuerwehr und Rettungsdienst zunehmen. „Bei schwierigen Patienten ist oft von Anfang an eine gewisse Aggression da. Das war früher nicht so.“ Der erfahrene Feuerwehrmann erinnert sich an einen rezenten Fall: Einer jungen Kollegin wurde während eines Einsatzes der Arm derart ausgekugelt, dass sie berufsunfähig war. Sein Verband fordert seit längerem, die Politik müsse handeln. „Lange Zeit hieß es, da können wir nichts machen“, ärgert sich Mamer. Dabei komme es häufig vor, besonders wenn Drogen im Spiel sind, dass Rettungskräfte von renitenten Patienten oder Umstehenden angegriffen würden, manchmal sogar mit verunreinigten Spritzen. Im Verband habe man deshalb über den Einsatz von stichfesten Schutzwesten diskutiert, wie sie etwa Rettungskräfte des Deutschen Roten Kreuzes in Nürnberg tragen. Dagegen spricht aber, dass diese die Helfer beim Einsatz behindern könnten.
Schutzweste wie im Krisengebiet?
So weit gehen wie das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen, das Rettungsfahrzeuge mit einer 180-Grad-Kamera ausrüsten will, um Beweismaterial zu dokumentieren und potenzielle Angreifer rasch identifizieren zu können, wollen die Verantwortlichen für das Rettungswesen in Luxemburg nicht: „Gewalt beim Rettungseinsatz ist kein Massenphänomen. Aber jeder Fall ist ein Fall zu viel“, betont Schroeder, der sich um die Abschreckungseffekte sorgt, die derlei Angriffe auf den dringend benötigten Nachwuchs haben könnten. Wer hat schon Lust, für geleistete Erste Hilfe Ärger oder eine Kopfnuss zu riskieren?
Die Differdinger Geiselnahme hat dazu geführt, dass Feuerwehr und Rettungsdienst eigene Sicherheitsvorkehrungen überdacht und verstärkt haben. Werden Rettungskräfte angegriffen, haben sie klare Verhaltensregeln, um möglichst unversehrt aus der Gefahrenlage herauszukommen. Welche genau, will Schroeder nicht sagen, schon um Unruhestifter keinen Vorteil zu verschaffen. Nur so viel verrät er: „Wenn wir im Vorfeld wissen, dass ein Einsatz gefährlich werden kann, versuchen wir, unser Team vorzuwarnen.“ Fällt bei der Notrufmeldung das Stichwort Eigengefährdung, wissen die Rettungskräfte, dass sie sich auf eine konfliktträchtige gefährliche Lage einstellen und erhöhte Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. Das kann von deeskalierendem Auftreten reichen, etwa wenn Retter zu einer Schlägerei gerufen werden. Im schlimmsten Fall wird die Polizei hinzugezogen – wenn sie nicht ohnehin vor Ort ist, weil es einen Verdacht auf eine begangene Straftat gibt. „Wir arbeiten mit den Kollegen der Polizei zusammen. Unsere vorderste Aufgabe ist aber, Erste Hilfe zu leisten.“
Zu den Einsätzen, zu denen die Frauen und Männer gerufen werden, zählen neben Unfällen im Straßenverkehr auch gewalttätige Auseinandersetzungen, sei es in der Familie, auf der Straße, beim Dorffest, in der Disko oder zu Silvester. Wochenenden sind besonders kritisch. Oft ist Alkohol im Spiel. Dann rastet jemand aus, können friedliche Situationen mit einem Mal umschlagen. Um Gefahren erkennen und richtig einschätzen zu können, lernen Feuerwehrleute und Rettungssanitäter in der Grundausbildung deeskalierende Maßnahmen und andere Vorkehrungen, um Risiken zu mindern und sich selbst zu schützen.
Zu schaffen machen den Rettungskräften auch zunehmende Respektlosigkeit und rücksichtsloser Egoismus. „Wenn wir mit Blaulicht zum Unfallort fahren, erleben wir es immer wieder, dass Autofahrer den Weg nicht freimachen oder sich beschweren, weil wir eine Straße absperren müssen“, sagt Marc Mamer. Autofahrer sind gehalten, im Falle eines Unfalls unverzüglich eine Rettungsgasse zu bilden. „Oft bilden sie sie erst, wenn wir mit dem Rettungswagen kommen. Und selbst das ist nicht sicher.“ Obwohl das Prinzip, eine freie Gasse in der Mitte der Fahrbahn zu lassen, um Bergungsfahrzeugen den zügigen Weg zur Unfallstelle zu ermöglichen, gesetzlich vorgeschrieben ist (Blockieren wird als Ordnungswidrigkeit verfolgt) und dies zu üben Bestandteil der Fahrprüfung zum Führerschein ist, gibt es immer noch VerkehrsteilnehmerInnen, die sich damit schwer tun: Sei es, weil sie es nicht besser wissen, weil sie unaufmerksam und durchs Handy oder anderes abgelenkt sind oder weil sie den Sinn nicht einsehen wollen. Derweil vergehen wertvolle Minuten, die für den Verletzten im schlimmsten Falle tödlich sein können. Ein zügiges Erreichen der Unfallstelle erhöht die Überlebenschancen der Verunglückten.
Gaffer als Gefährder
Und mit noch einem anderen Phänomen sind Rettungskräfte und Polizei zunehmend konfrontiert: Menschen, die aus Sensationsgier bei einem Unfall stehenbleiben und so Bergungsarbeiten erschweren oder fürs schnelle Foto sogar behindern. Bei Unfällen mit Schwerverletzten kommt mit der Ambulanz inzwischen oft ein Einsatzwagen mit Sichtschutz mit, um Verletzte vor sensationslüsternen Blicken abzuschirmen und Sanitätern ihre Arbeit störungsfrei zu ermöglichen. Der Stress bei Rettungseinsätzen ist generell hoch, jeder Griff muss sitzen, unnötige Ablenkungen sind daher zu vermeiden. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass Gaffer den Zugang blockieren, Unfall und sogar Verletzte fotografieren, als sei das ihr gutes Recht. „Es ist, als sei die Hemmschwelle allgemein gesunken“, sagt Feuerwehrmann Marc Mamer. Mit dem Smartphone wird ungehemmt auf die Unfallstelle draufgehalten, Gruselbilder für den schnellen Kick und Klick in soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook hochgeladen. Dort machen sie die Runde, ohne dass sich die Gaffer über die Privatsphäre und die Folgen für die Opfer und ihre Angehörigen scheren. Es ist vorgekommen, dass Angehörige übers Internet erfuhren, dass jemand aus der Familie oder dem Freundeskreis verunglückt war, noch bevor die Polizei sie informieren konnte.
Die menschliche Sensationslust und ihre Exzesse werden sich eher nicht per Gesetz eindämmen lassen, aber durch die drastischen Strafen hofft die Politik auf eine abschreckende Wirkung zumindest bei gewalttätigen Übergriffen. „Die Diskussion um Gewalt gegen Einsatzkräfte der Polizei gibt es schon länger und wurde mit der Reform des Polizeigesetzes angegangen. Jetzt wollen wir dasselbe für die Rettungskräfte“, sagt Simone Beissel, liberale Abgeordnete und im hauptstädtischen Gemeinderat vor der Fusion mit dem Rettungswesen von Luxemburg-Stadt befasst. Wer Widerstand gegen Ordnungshüter leistet, muss künftig statt mit bisher zwei Jahren mit bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen. Außerdem testet die Polizei seit September im Rahmen eines Pilotprojekts so genannte Bodycams, also kleine Kameras an der Brust der Beamten, um in Konfliktfällen Beweismaterial zu sammeln. Sollte der Passus zu den Rettungsdiensten also tatsächlich Eingang ins Strafgesetzbuch finden, wären Polizei, Feuerwehr und Sanitäter diesbezüglich gleichgestellt.