„Die erste Lieferung von medizinischem Cannabis ist angekommen“, schrieb Alain Origer, nationaler Drogenbeauftragter Luxemburgs, kurz vor Weihnachten auf Facebook. Zum Beweis veröffentlichte er ein Foto mit weiß-grünen Dosen, dicht an dicht gestellt in einem Regalschrank, dessen genauen Aufenthaltsort Origer im Land-Gespräch lieber nicht verraten will. „Es muss nicht jeder wissen, wo wir die Medizin aufbewahren.“
In den Dosen befinden sich Cannabisblüten aus Kanada, mit jeweils unterschiedlichen Anteilen von THC und CBD, beides wichtige Inhaltstoffe in Hanfpflanzen. CBD steht für Cannabidiol und THC steht für Delta-Tetrahydrocannabidiol. CBD interagiert mit den Rezeptoren an den Nervenzellen und fördert die Reaktion des Nervensystems im menschlichen Körper. Es ist ein natürliches Beruhigungsmittel. THC bindet ebenfalls an die Nervenzellrezeptoren an, hat anders als CBD jedoch berauschende Wirkung. Durch die Interaktion von THC mit dem Gehirn wird Dopamin ausgeschüttet. „Nicht jeder Patient braucht die gleiche Zusammensetzung von THC und CBD. Manche benötigen vor allem CBD, andere eher THC. Das muss ein Arzt feststellen“, erklärt Origer. Am 19. Januar beginnt die erste Fortbildung für Mediziner, die Cannabis verschreiben können wollen. Das Interesse ist groß, 150 Ärztinnen haben sich für den ersten Durchgang gemeldet.
Es kann also losgehen mit der Testphase. Ab diesem Jahr startet die zweijährige Versuchsreihe mit medizinischem Cannabis. Das entsprechende Gesetz wurde im Juni einstimmig vom Parlament verabschiedet. Künftig sollen Patienten Cannabis auf Rezept erhalten können, ohne dass sie sich oder die verschreibende Ärztin strafbar machen. Aber unter strengen Auflagen und auch nicht jeder Schmerzpatient, sondern nur jene, die es beantragt und von ihrem Arzt für eine der zugelassenen Krankheiten verschrieben bekommen haben.
Die Einschränkung habe man bewusst gewählt, sagt Alain Origer. „Wir wollten den Zugang zunächst für die Fälle erlauben, in denen der Nutzen des Medikaments am besten belegt ist.“ Belegt ist die therapeutische Wirkung von Cannabis vor allem bei Symptomen chronischer Schmerzpatienten, bei Spastik bei Multiple Sklerose, Appetitlosigkeit bei HIV/Aids und Übelkeit aufgrund einer Krebs-Chemotherapie. Das heißt, klinische Studien haben nachgewiesen, dass Patienten, die unter diesen Krankheiten und Symptomen leiden, durch Cannabis Linderung erfahren können. „Cannabis heilt keine Multiple Sklerose und auch keinen Krebs“, betont Origer.
Die Vorsicht ist zum Teil verständlich. Die Forschung zum therapeutischen Nutzen von Cannabis steckt noch immer in den Kinderschuhen. Seitdem einige Länder, vor allem Bundesstaaten wie Kalifornien, Nevada oder Colorado in den USA, medizinisches Cannabis zugelassen haben, steigt zwar die Zahl der Cannabis-Patienten und mit ihnen die Zahl der Studien. Wer genauer hinschaut, wird jedoch erkennen, dass längst nicht jede Untersuchung den Goldenen Standard der Wissenschaft erfüllt: Oft sind die Testgruppen zu klein oder es fehlen Kontrollgruppen.
Trotzdem sorgt die restriktiv-vorsichtige Vorgehensweise der Regierung für Kritik: Die Initiative CannaMedica, die 2017 ins Leben gerufen wurde, um für die Legalisierung von medizinischem Hanf einzutreten, bemängelt, dass die Nutzung von Cannabis hierzulande nur testweise zwei Jahre erlaubt sein soll. Bei den für eine Cannabisbehandlung zugelassenen Krankheiten und Symptome sei der therapeutische Nutzen bewiesen. Auch dass die Präparate nur in Krankenhaus-Apotheken erhältlich sind, hält der Verein für übertrieben, seien doch andere Medikamente mit nachweislich höheren Gesundheitsrisiken, wie das Beruhigungsmittel Benzodiazepin, in jeder Apotheke erhältlich. Kritik hatte es zudem am Vorhaben des Gesundheitsministeriums gegeben, die Verschreibung nur durch Fachärzte zuzulassen. Erst auf Intervention des Staatsrats wurde der Kreis der verschreibungsfähigen Mediziner auf Allgemeinmediziner erweitert – vorausgesetzt, sie durchlaufen eine 24-stündige Fortbildung.
„Wir haben uns das deutsche Modell angesehen und können davon lernen“, sagt Origer. In Deutschland ist die testweise Abgabe von medizinischem Cannabis seit März 2017 erlaubt. Im dortigen Gesetz wurde darauf verzichtet, einzelne Indikationen aufzuführen. Cannabisblüten und -extrakte können für jede Indikation verordnet werden, wenn „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht“ oder wenn diese Leistung „im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann“.
Demzufolge kann eine Behandlung mit Cannabis auch dann verschrieben werden, wenn weitere, bisher nicht eingesetzte (zugelassene) Behandlungen zur Verfügung stehen und der Patient noch nicht „austherapiert“ ist. In Deutschland können beispielsweise auch Epilepsie-Patienten medizinisches Cannabis bekommen. Der deutsche Gesetzgeber entschied sich zudem, es den Ärzten selbst zu überlassen, sich fortzubilden. Nicht alle Patienten, die sich für eine Cannabis-Behandlung entschieden, hatten sogleich Zugang. Die Nachfrage nach medizinischem Cannabis stellte sich als deutlich größer heraus als zunächst angenommen: Bald waren die Vorräte leer und es kam zu ernsthaften Lieferengpässen. Um langfristig eine ausreichende Versorgung mit Cannabisarzneimitteln in standardisierter Qualität sicherzustellen, wurde dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die Aufgabe übertragen, eine Cannabisagentur einzurichten, sodass demnächst ein staatlich überwachter Canna-bisanbau in Deutschland erlaubt sein wird. Allerdings nur zu medizinischen Zwecken und frühestens ab 2020. Eigentlich sollten die ersten Zuschläge im ersten Quartal diesen Jahres erteilt werden, jetzt will das Institut die Zuschläge ab Sommer 2019 bestimmen.
In Luxemburg rechnet das Ministerium mit etwa 500 bis tausend Patienten, „wobei eine realistische Einschätzung schwierig ist“, gibt Origer zu. Unklar ist beispielsweise, wie viele Grenzgänger, die in Luxemburg arbeiten respektive sozialversichert sind, sich für das Cannabis-Projekt melden. Und wie viel Cannabis eine Patientin benötigt. „Das kann je nach Erkrankung variieren, da müssen wir Erfahrungswerte sammeln“, so Origer. Bisher übernimmt das Ministerium die Kosten der Behandlung, die Verhandlungen mit der Krankenkasse CNS sind im Gange. Die Inhalatoren, um den Dampf mit den Inhaltsstoffen aus den erhitzten Cannabisblüten einzuatmen, bezahlen Patienten in Luxemburg aus eigener Tasche.
Die ersten 20 Kilogramm lieferte die kanadische Firma Aurora Cannabis, die in Nordamerika mehrere staatlich zugelassene und kontrollierte Hanfplantagen besitzt und zu den Marktführern der boomenden Branche zählt. Firmenaktien brachten es 2016 und 2017 zu Höchstständen an der Börse. Die jetzt gekauften Bestände sollen bis April halten, das Gesundheitsministerium wird bald den nächsten Auftrag ausschreiben, dabei gehe es neben Blüten vor allem um Cannabisölextrakte mit unterschiedlichen vorgegebenen THC- und CBD-Werten. Auswahlkriterien seien Preis, Fertigungsqualität und die Liefergeschwindigkeit, sagt Origer. Einige CBD-haltige Produkte sowie Cannabisöle sind bereits in Luxemburg legal erhältlich. Allerdings muss deren THC-Wert unter drei Prozent liegen, damit sie nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen.