Es gehe ihr besser, sagte LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert in einem ihrer ersten Interviews dem Radio 100,7 nach ihrem Kollaps am 23. März. Ihre Schlüsselrolle beim Krisenmanagement der Corona-Pandemie hatte ihr alles abverlangt. 70-Stunden-plus-Wochen über Monate, Riesenverantwortung und zunehmender öffentlicher Druck hatten ihren Tribut gefordert. „Es hat mich ziemlich erschreckt“, so Lenert. Die drei Wochen Pause hätten ihr gutgetan. „Die Herausforderung für mich ist, einen Weg zu finden“ (…), die „Pausen zu nehmen, die man braucht“, resümierte Lenert, die nicht viel politische Vorerfahrung hat. Der CSV-Abgeordnete, Kehlener Bürgermeister und damals CSV-Generalsekreträr Félix Eischen hatte wegen Burnout im August für eine Zeit alle seine politischen Ämter niedergelegt.
Eine Pause hätte Claude Wiseler wohl auch nicht geschadet, als der CSV-Politiker am 7. April sein positives Covid-Testergebnis bekam: „Ich habe mich vorschriftsgemäß isoliert und von Zuhause gearbeitet“. Zeit zum Kürzertreten gab es nicht, obwohl er von Covid-Symptomen geplagt war: Die Vorbereitungen für den Landeskongress gingen in die heiße Phase. Es galt, nach dem turbulenten Abgang des Parteipräsidenten Frank Engel ein neues Führungsteam zusammenzustellen. Die geplante Pressekonferenz, um die Kolleg/innen vorzustellen, fiel wegen Corona aus. Wiseler verlegte die Interviews kurzerhand auf Zoom. Am Telefon spricht der frisch gebackene Parteipräsident vorsichtig, immer wieder vom Husten unterbrochen. „Nach einigen hundert Meter bin ich außer Atmen“. Als Klagen über Belastung will er das aber nicht verstanden wissen.
Ständige Öffentlichkeit, ungeregelte Arbeitszeiten, 60-Stunden-plus-Wochen, seien in der Politik „normal“, bestätigt CSV-Fraktionschefin Martine Hansen – „und das ohne die Parteisitzungen gerechnet“. Politik bedeutet permanente Belastung und doch erfährt die Öffentlichkeit wenig über diesen Druck. Politiker/innen reden selbst nicht gerne darüber: Um sich keine Blöße zu geben, aber auch weil die Öffentlichkeit mit Argusaugen jede Bewegung „der Elite“ beobachtet und niemand sich sagen lassen will, auf hohem Niveau zu jammern. Der Vorwurf, es sich auf Kosten des Steuerzahlers gut gehen zu lassen, ist schnell erhoben.
Macher-Image Wer in die Politik geht, muss hart im Nehmen sein, „sich für den Job draufmachen“, erzählt die LSAP-Abgeordnete Francine Closener. „Da gerät in Vergessenheit, dass auch Politiker Menschen sind.“ Je mehr Verantwortung, „umso weniger kann man über den eigenen Kalender bestimmen“. Nur bei dramatischen Ereignissen, wie den tragischen Zusammenbrüchen der Grünen Camille Gira und Félix Braz, oder jetzt von Paulette Lenert, wird mit einem Schlag deutlich, wie hoch die Belastung ist und der Preis, zu den höchsten Zirkeln der Macht zu zählen. „Hochrisikoberuf“ nannte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach den Job. In Beliebtheitsumfragen stehen Politiker/innen meist am untersten Ende der Skala und müssen oft als Prügelbock für alles herhalten. Doch so viele es in die Politik zieht; es winken neben Futter fürs Ego, Erfolg und Ruhm, einem gutem Gehalt zudem Bluthochdruck, Herzrhythmus- und Schlafstörungen und sonstiger körperlicher und mentaler Verschleiß als Belohnung.
„Natürlich bringt das zum Nachdenken“, sagt Fränz Bausch offen. Der grüne Transportminister und Wohnungsminister Henri Kox waren mit Camillie Gira eng befreundet. Sein plötzlicher Tod war ein Schock für alle, über Parteigrenzen hinweg. „Man fragt sich, ob man Warnzeichen hätte früher wahrnehmen müssen“. Der Umweltstaatssekretär stand unter großem Druck, das Naturschutzgesetz zum Erfolg zu führen. Monatelange Kontroversen, nicht nur mit den Koalitionspartnern und dem politischen Gegner, die zum Teil heftig ausgetragen wurden, sondern auch Marathonsitzungen oft bis spät mit Wirtschaftsvertretern, Bauern und anderen Interessengruppen. „Camille hatte sich mehr als 120 Prozent für die Sache eingesetzt“, erinnert sich Kox.
Der grüne Wohnungsbauminister weiß, was es heißt, unter Erfolgsdruck zu stehen. Das Wohnungsbaudossier ist, neben Corona, wahrscheinlich derzeit politisch am stärksten umkämpft – und der Wahlkampf kommt erst noch. Kox muss liefern, will er für die Koalition, und insbesondere die Grünen, Sympathiepunkte halten. Er versucht zwar, sich davon nicht zu sehr beeindrucken zu lassen. „Ich habe Verantwortung für mein Ressort, aber die großen Entscheidungen treffen wir gemeinsam“, sagt er. Kox war vor seinem Wechsel auf den Ministerstuhl Vorsitzender der parlamentarischen Wohnungsbaukommission. „Das hat mir erlaubt, inhaltlich direkt anzuknüpfen“, so Kox. Für sein zweites Ressort gilt das nicht: Als Polizeiminister verantwortet er mit der Justiz die viel diskutierte Reform des Polizeidatenschutzes. „Man muss lernen sich abzugrenzen und nicht alles persönlich zu nehmen“, sagt Kox.
Warnzeichen Das konnte er nicht immer, gibt er zu: Die verlorene Bürgermeisterwahl in seiner Heimatgemeinde Remich und ein lokaler Wahlkampf, in dem der politische Gegner ihn scharf attackierte, waren ihm nah gegangen. „Ich hatte damals Bluthochdruck“. Um abzuschalten fuhr Kox in den Kurzurlaub – und rutschte beim Wandern aus. Siebenfacher Splitterbruch. „Für mich war das ein Weckruf“, erinnert er sich. Sich besser abzugrenzen oder, wie es die CSV-Abgeordnete Martine Hansen nennt, „gut zu filtern“, habe geholfen, eine neue Balance zu finden. „Meine Frau war mir da und ist mir generell eine wichtige Gesprächspartnerin“, erzählt er.
Der Remicher hat wie viele Kolleg/innen Ausgleich im Sport gefunden: Francine Closener lief als LSAP-Staatssekretärin für Wirtschaft, auf Anraten ihres Doktors, dreimal die Woche, Parteikollegin Lydia Mutsch startete mit intensivem Sport mit 45 Jahren, als sie Bürgermeisterin von Esch/Alzette war. Martine Hansen läuft täglich. Triathlon-Fan Kox läuft, schwimmt und fährt Rad. Auch Fränz Bausch ging früher joggen. „Jetzt geht das nicht mehr so gut“, gibt er zu. Der Verkehrsminister steigt aufs Fahrrad. Auch für den dienstältesten Grünen hat es Momente gegeben, wo er fast hingeschmissen hätte: „1994 war ich zermürbt. Da war ich nah dran aufzuhören – dann wurde ich über Nacht gewählt.“ Der Zoff zwischen dem realpolitischen Flügel, zu dem Bausch zählte, und den Fundis hatte ihm zugesetzt. Zweifel überkamen ihn erneut 2013 nach der Geheimdienstaffäre. „Ich konnte nicht verstehen, warum unser Einsatz so wenig vom Wähler gewürdigt wurde.“ Bausch spricht offen über Erfolg und Niederlage. Sein Vorbild: Robert Habeck von den deutschen Grünen. Der hat zugunsten von Annalena Baerbock auf die Kanzlerkandidatur verzichtet und in Interviews zugegeben, das sei ihm nicht leichtgefallen, obwohl die Förderung von Frauen bei den Grünen Programm ist.
Freund, Feind, Parteifreund Über die innerparteiliche Konkurrenz, und wie hart – und gemein – da zuweilen gekämpft wird, sprechen Politiker noch seltener als über die eigenen Arbeitsbedingungen. Schon, um sich nicht verletzlich zu zeigen. Dabei schmerzen Attacken aus den eigenen Reihen oft besonders. Eine Politikerin will den Namen eines Konkurrenten, der ihr „eine Falle gestellt hatte“, nicht nennen: „Aber das habe ich mir gemerkt.“ Wie weit Intrige gehen kann und wie erbarmungslos mitunter ausgeteilt wird, konnte man zuletzt bei der CSV beobachten. „Ich hatte in meiner Partei immer Kloppereien“, spielt Ex-EU-Kommissionspräsident und CSV-Übervater Jean-Claude Juncker gegenüber RTL die Schlammschlacht der letzten Wochen herunter. Keiner werde immer „zu 100 Prozent gestützt“. Politik gehe „nicht ohne Kratzer, Nuancen oder Kritik“.
„Auseinandersetzung gehört zum politischen Geschäft. Aber es wird unschön, wenn nicht mit offenen Karten gespielt wird“, sagt indes CSV-Fraktionschefin Martine Hansen. Ihre Partei war durch das Gezerre um den inzwischen gefallenen Frank Engel, zuletzt beinahe täglich in den Schlagzeilen, auch weil Mitglieder ihrer Fraktion den Ex-Parteipräsidenten bei der Staatsanwaltschaft angezeigt hatten – eine Vorgehensweise, die Juncker überhaupt nicht goutiert.
Hass im Netz Interne und externe Kritik sind an der CSV-Politikerin nicht spurlos vorübergegangen. Zusätzlich zu missbilligenden Medienkommentaren fand die Affäre viel Resonanz in den sozialen Medien – die sich öfters alles andere als sozial gebärden. Schnell schlägt der Tonfall in Hass und Häme um. Hansen erinnert sich noch gut an den Shitstorm, den ihr ihre Forderung einbrachte, während des Lockdown sollten Minister in den Ausschüssen des Parlaments physisch Rede und Antwort stehen,. „Seitdem bin ich vorsichtiger“. Francine Closener, früher Journalistin, liest keine „schlecht moderierten Kommentarspalten“ mehr. Lydia Mutsch hat sich gar nicht erst bei Facebook angemeldet, trotz Kritik von Kolleg/innen. Ihr bevorzugtes Medium ist Twitter: „Da kann ich mich informieren“. Fränz Bausch hat Twitter verlassen, nachdem er wegen eines weitergegebenen Briefes an die Staatsanwaltschaft 2018 öffentlich angegangen wurde. „Auch ein Politiker hat ein Recht auf Privatsphäre“, begründete er damals seinen Schritt. Er bereut ihn nicht. „Ich sehe den Mehrwert der Diskussionen dort nicht.“
Kollegin Tanson ist auf Twitter geblieben, schloss aber ihr Facebook-Konto, nachdem die ADR eine Kampagne gegen die Justizministerin wegen dem Gesetzentwurf zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gestartet hatte, die in Beschimpfungen gipfelte: „Ich muss mir das nicht antun.“ Dabei diskutieren beide Politiker viel und sind sich für keine inhaltliche Auseinandersetzung zu schade. „Frust in sich hineinzufressen, ist keine gute Idee. Man braucht Freunde, einen Partner oder eine Partnerin, die da sind“, sagt Tanson.
Kinderlose Männer Das ist ebenfalls kaum Thema: Politik wird in weiten Teilen als Männerdomäne gesehen, weil der Job nur möglich ist, wenn zuhause die Partnerin (und immer häufiger der Partner) den Laden und die Familie zusammenhalten. Kinder berühmter Politiker wie Walter Kohl, Sohn von Helmut Kohl, erzählen von der großen Einsamkeit, die der abwesende Vater hinterlassen hatte. Manche sind bei Amtsantritt ihrer Eltern schon erwachsen. Es gibt Politiker, die entscheiden sich bewusst gegen Kinder, oder haben keine: Juncker etwa, oder Angela Merkel. Für Tanson keine Option: „Für mich ist die Familie auch Erholung, ein Ort, wo ich Kraft tanke.“
Für unzählige männliche Kollegen gilt das ebenso. Nur sind es meist die Frauen, die nach der Vereinbarkeit von Amt und Familie gefragt werden. Auch von Medien. Männer müssen sich für ihr familiäres Engagement (oder die häufige Abwesenheit) nicht rechtfertigen, Frauen dagegen schon. Und sie stemmen beides und noch mehr: Justiz- und Kulturministerin Sam Tanson hat zwei Kinder im schulpflichtigen Alter, Fraktionschefin Martine Hansen erzieht die Tochter allein. Es ist ein ausgeklügeltes fragiles Gleichgewicht, das viel Organisation abverlangt.
Auslaufmodell Da wirkt die Aussage von Jean-Claude Juncker, im RTL-Interview gefragt, wie Christophe Hansen sein Amt als EU-Abgeordneter in Brüssel und als frisch gebackener Generalsekretär für die Partei zusammenbringen soll, der Tag habe mehr als zwölf Stunden, da passe viel hinein, geradezu anachronistisch und wie ein Ruf aus alten Zeiten. Von einem „Paradigmenwechsel“ spricht Ex-Gesundheitsministerin Lydia Mutsch, die auf eine lange Politikkarriere zurückblickt: „Für die Generation heute ist Work-Life-Balance wichtig“. Auch Geschlechterrollen würden anders gelebt – dank Eltern-urlaub gehe das besser. Die Grüne Djuna Bernard hatte 2017 den Elternurlaub auch für Abgeordnete gefordert und war dafür belächelt worden. Dabei ist sie vielleicht bloß ihrer Zeit voraus: In Finnland gibt es den. Die Grünen waren die erste Partei, die konsequent mit Doppelspitze angetreten ist, etwas, das sich Juncker für die CSV partout nicht vorstellen mag. Doch der Führungsstil mit Übervater an der Spitze, der den Takt vorgibt und bei Streit mit der Faust auf den Tisch haut, wird sogar bei den Konservativen zum Auslaufmodell. „Es muss nicht immer für alles einen Leithirsch geben“, betont Martine Hansen.
Zumal sich die Krise der CSV auch als Folge dieses alten Verständnisses von Führung lesen lässt: Die Fixation auf einen ging so lange gut, wie sich die Frage nach der Nachfolge nicht stellte. Gleichzeitig war die Partei zunehmend nach innen ausgehöhlt. Heute fordert der Nachwuchs sein Recht auf Beteiligung selbstbewusster ein und ist zudem nicht mehr bereit, für die Politkarriere alles aufzuopfern. Die LSAP plant eine männlich-weibliche Doppelspitze, déi Lénk funktionieren mit einem Rotationsprinzip. „Es ist gut, dass sich der Politikerberuf wandelt“, findet Francine Closener. „Dann werden sich mehr junge Leute dafür interessieren.“ Mit dem Druck umzugehen, müsse „jeder erst lernen“. Das hänge auch von der Persönlichkeit ab. Sie nennt einen Aspekt, den sie, bei allem Termin- und Erfolgsdruck, als sehr positiv erlebe: In der Politik gebe es viel Kollegialität. „Gerade, wenn es mal nicht so gut läuft. Wahrscheinlich, weil jeder das schon durchgemacht hat.“