Bis vor einem Jahr kannte kaum jemand die Frau mittleren Alters mit dem blonden Bob, den blauen Augen und der runden Brille. Im Politmonitor von Wort und RTL landete sie im Oktober 2019 auf dem vorletzten Platz. Sogar Claude Meisch erhielt damals mehr Kompetenz- und Sympathiepunkte als die neue Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit und Verbraucherschutz. Keine zehn Monate später sah das Bild ganz anders aus. Die Corona-Pandemie hat die inzwischen zur Gesundheitsministerin beförderte Paulette Lenert zum Shootingstar der Luxemburger Polit-Szene erhoben. Mit ihrer pragmatischen und besonnenen Art hat sie an der Seite von Premierminister Xavier Bettel („zwischen uns passt kein Blatt Papier“) die Herzen der Luxemburger Wähler/innen bei unzähligen öffentlichen Auftritten erobert. Im Kampf gegen das irrationale und unsichtbare Virus ist sie zum Sinnbild des „gesunden Menschenverstands“ geworden.
Erst vor einem Jahr hat Paulette Lenert den öffentlichkeitsmüden Étienne Schneider (LSAP) abgelöst, der Weihnachten 2019 in weiser Voraussicht seinen Rückzug aus der großen Politik bekannt gegeben hatte. Während Franz Fayot das mit Schneiderschen Altlasten beladene Wirtschaftsressort übernahm, bekam Paulette Lenert von ihrer Partei das Gesundheitsministerium zugewiesen, das Schneider erst ein Jahr zuvor von Lydia Mutsch geerbt hatte. Sie hätte sich laut eigenen Aussagen auch für Wirtschaft begeistern können, doch wählen konnte sie nicht. Wie die Jungfrau zum Kind, sei sie zu diesem Amt gekommen, sagt Mars Di Bartolomeo (LSAP), der von 2004 bis 2013 das Gesundheitsressort leitete und heute Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Parlament ist.
Geboren wurde Paulette Lenert am 31. Mai 1968 in Luxemburg. Als jüngste von drei Geschwistern wuchs sie in Mondorf auf. Ihr Vater Paul war Mathematiklehrer und leidenschaftlicher Organist. Ende der 1970-er Jahre wechselte er in den öffentlichen Dienst. Unter Fernand Boden (CSV) wurde er Erster Regierungsrat im Bildungsministerium und vertrat die Regierung Santer-Poos im Verwaltungsrat der Forschungszentren Henri Tudor und Gabriel Lippmann. Ihre sozialistischen Wurzeln führt Paulette Lenert auf ihre Familie mütterlicherseits zurück. Ihr Großvater, den sie nie kennengelernt hat, sei in den 1950-er Jahren im Ösling in der LSAP sehr aktiv gewesen, ihre Mutter Leni Hoffmann sei als Kind nicht getauft worden. Mehr will sie nicht verraten; die Ministerin mag es nicht, wenn es „zu privat“ wird.
Wenn Paulette Lenert von ihrem Leben erzählt, wirkt es wie eine Aneinanderreihung glücklicher Zufälle und Fügungen, auf die sie, rastlos und getrieben, selber kaum Einfluss hatte. Und wenn sie doch einmal Entscheidungen treffen musste, ist sie stets ihrem Verstand gefolgt und hat den sicheren Weg gewählt. Ihre Wünsche und Träume opferte sie einer beispiellosen Karriere im Dienste des Staats und des Landes.
Nach ihrem Abitur im Athénée wollte sie eigentlich Philosophie oder Architektur studieren. Doch gemäß der Maxime „le droit méne à tout“ begann sie ein Jurastudium in Nancy. Später zog es sie nach Aix-en-Provence und nach London, wo sie 1992 ihren Master in Europäischem Recht mit Spezialisierung in Steuerrecht ablegte. Als sie nach Luxemburg zurückkehrte, habe sie darüber nachgedacht, Journalismus zu studieren, doch sie hatte schon eine Karriere als Anwältin eingeschlagen und fühlte sich „geankert“. Politisch interessiert sei sie immer gewesen, doch aktiv engagiert habe sie sich lange Zeit nicht. „Ich bin kein Mensch aus dem Vereinsleben“, sagt Paulette Lenert im Gespräch mit dem Land.
1994 wechselte sie zum Staat. Im Justizministerium half sie nach der Procola-Affäre beim Aufbau des Verwaltungsgerichts, dem sie bis 2010 als Erste Richterin und Vizepräsidentin angehörte. Doch sie vermisste die sozialen Kontakte. Nach einer „zufälligen Begegnung“ mit ihrem früheren Patron de stage, dem hohen Beamten Marc Mathekowitsch, lernte sie den damals delegierten Minister für Solidarwirtschaft, Romain Schneider (LSAP), kennen, der Lenert für den Aufbau des Département de l'économie sociale et solidaire verpflichtete. Nach etwas mehr als zwei Jahren wurde es ihr dort zu eng. Obwohl sie mehrere Zusatzausbildungen in Psychologie und Personalwesen absolviert hatte und den Wunsch hegte, sich in diesem Bereich selbstständig zu machen, nahm sie 2012 das Angebot Jean-Claude Junckers (CSV) an, ihm bei der Simplification administrative zur Hand zu gehen. Doch bevor das Unternehmen an Fahrt gewinnen konnte, kam es zu Neuwahlen. Nach der blau-rot-grünen Regierungsbildung übernahm der neue Minister für den öffentlichen Dienst, Dan Kersch (LSAP), die Simplification administrative. Kersch machte Lenert zu seiner Generalkoordinatorin und vertraute ihr die Leitung des INAP (Institut national d‘administration publique) an.
In dieser Zeit trat sie der LSAP bei. Behauptungen, sie sei berechnend vorgegangen und habe ihre politische Karriere zielstrebig und minutiös geplant, weist Paulette Lenert zurück. Sie habe zwar daran gedacht, sich in innerparteilichen Arbeitsgruppen einzubringen, doch ein politisches Mandat habe sie nicht angestrebt. Das Ministeramt sei ihr in den Schoß gefallen. Dabei war sie schon 2016 im Gespräch, um Nicolas Schmit (LSAP) als Kooperationsminister zu beerben, als dieser Henri Grethen (DP) am Europäischen Rechnungshof ersetzen sollte. Sie selbst habe davon nur aus der Presse erfahren, beteuert die zweifache Mutter. 2017 kandidierte sie bei den Gemeindewahlen in Remich. „Nur um die Liste zu füllen, weil keine Kandidaten gefunden wurden“. Obwohl sie erst kurz zuvor an die Mosel gezogen war, belegte sie hinter Guy Mathay den zweiten Platz, für ein Mandat reichte es nicht.
Dieser Achtungserfolg blieb in der Parteileitung nicht unbemerkt. 2018 wollte Romain Schneider sie als Kandidatin für die Nationalwahlen im Osten gewinnen. Doch eine Wahlniederlage hätte ihrer Karriere geschadet. Paulette Lenert wählte wieder den sicheren Weg. Es war beschlossene Sache, dass Nicolas Schmit, Sitzgarant der LSAP im Osten, sein Mandat nicht antreten würde, weil er nach den Europawahlen 2019 EU-Kommissar werden wollte. Um seine Nachfolge entbrannte ein parteiinterner Streit. Obwohl Tess Burton ein anerkennenswertes Wahlresultat erzielt hatte, erklärte die Parteileitung sie für ungeeignet und berief die politisch unerfahrene Beamtin Lenert in die Regierung. Aus Protest traten die Jonk Sozialisten aus dem Ostbezirk geschlossen zurück. Étienne Schneider habe ihr schon im Dezember 2018 die Ressorts Gesundheit oder soziale Sicherheit angeboten, erzählt Lenert. Schließlich wurde sie dann aber als Ministerin für Kooperation und für Verbraucherschutz vereidigt. In ihrem ersten Amtsjahr trat Paulette Lenert kaum öffentlich in Erscheinung. Erst nach dem Rücktritt Étienne Schneiders nahm ihre politische Karriere an Fahrt auf. Viel Zeit zum Einarbeiten hatte sie nicht. Nur wenige Tage nach dem Amtsantritt der neuen Gesundheitsministerin breitete Sars-CoV-2 sich in Europa aus.
Die Entscheidung der LSAP, auf Lenert zu setzen, sollte sich in der Coronakrise als richtig erweisen. Als Richterin und hohe Beamtin hat sie gelernt, sich schnell in komplexe technische Dossiers einzuarbeiten. Ihre Parteigenoss/innen schätzen ihre rationelle und analytische Vorgehensweise. Der linke Abgeordnete Marc Baum bezeichnet sie als intelligent, CSV-Fraktionschefin Martine Hansen lobt ihre ruhige Art. Zur Bewältigung der sanitären Krise waren diese Eigenschaften sicherlich von Vorteil. Ferner gilt Lenert nicht als Querulantin. Sie könne zuhören und im richtigen Moment Entscheidungen treffen. Bei wichtigen Dossiers übernehme sie gerne die Führung, berichtet ein hochrangiges Parteimitglied. Es fehle ihr nicht an Überzeugungskraft.
Ab Anfang März überschlugen sich die Ereignisse. Noch bevor sie die rund 300 Angestellten ihres Ministeriums und der Gesundheitsbehörde kennenlernen konnte, musste die neue Ministerin eine Parallelverwaltung mit 100 bis 150 „dienstfremden“ Mitarbeitern bilden. Die Sanitärispektion, der eine zentrale Rolle bei der Kontaktverfolgung zukam, wurde innerhalb kürzester Zeit komplett digitalisiert. Als Corona begann, sei dort noch mit Faxgeräten gearbeitet worden, wundert sich die Ministerin. Der langjährige Chef der Sanitärinspektion, Pierre Weicherding, musste gehen. „Er war nicht die richtige Person, um das so zu stemmen, wie ich mir es vorgestellt habe“, sagt Lenert. Weicherding, der kurz vor der Rente steht, wurde in Jean Asselborns Ministerium für Immigration und Asyl versetzt und im Oktober durch Anne Vergison ersetzt.
Die erste Coronawelle habe sie gut überstanden, doch als die Adrenalinschübe im Sommer nachließen, sei es ihr ganz schlecht gegangen, erzählt Paulette Lenert. Sie war überarbeitet. Ihr Führungsteam habe sie immer wieder aufgebaut, seit Ende des Jahres sei sie aber wieder extrem müde. Und parallel zur Coronakrise stehen noch andere wichtige Dossiers wie die Cannabis-Legalisierung, der Suizidpräventionsplan und der Gesondheetsdësch an.
Lenerts Achillesferse ist ihre mangelnde politische Erfahrung. Insbesondere bei öffentlichen Auftritten in der Kammer oder in Ausschusssitzungen wirkt sie manchmal gereizt, etwa wenn die Opposition ihr vorwirft, keinen Plan zu haben oder Negativpropaganda zu betreiben. Ihr fehle die politische Rüstung, die andere durch jahrelange Erfahrung aufgebaut haben, bedauert die Ministerin. Und ihr behage dieses Setting der Abgeordnetenkammer nicht. Drei Stunden still sitzen und anderen zuhören, fällt ihr schwer. Sie fühlt sich unsicher, wenn sie die Kontrolle abgeben muss, wenn sie die Diskussion nicht leiten kann. Ihr Paternalismus kommt nicht bei allen gut an. Oppositionspolitiker kritisieren, sie sei bisweilen arrogant und es falle ihr schwer, Fehler einzugestehen. Aus ihren eigenen Reihen wird bemängelt, dass ihr Rationalismus und ihr Pragmatismus anecken können.
Bei aller Freude über Lenerts Umfragewerte, herrscht in der LSAP auch Skepsis. Niemand weiß so recht, wofür die Senkrechtstarterin eigentlich steht. Sie selbst sieht die LSAP weniger als Arbeiterpartei, fühlt sich eher der demokratischen Strömung verbunden. Sie will sich für Grundrechte und soziale Gerechtigkeit einsetzen. Ihr gesellschaftliches Engagement spielte sich bislang vor allem im Kontext der katholischen Soziallehre ab. Von 2011 bis 2013 war sie Mitglied des Verwaltungsrats der LCGB-Beschäftigungsinitiative ProActif, bis zu ihrem Regierungsantritt gehörte sie dem Vorstand der CSV-nahen Initiativ Rëm Schaffen an.
Unsicherheit herrscht über die Positionen, die sie am Gesondheetsdësch vertritt. Ihre von Parteikollegen geschätzte „Unbefangenheit“ in diesen Fragen ist ein zweischneidiges Schwert. Die Gefahr einer drohenden Privatisierung des Gesundheitssystems kann sie nicht erkennen. Der Begriff werde häufig falsch benutzt und die Angst davor habe „viel Irrationales“ an sich, denn die allermeisten Ärzt/innen in Luxemburg seien sowieso traditionell Freiberufler. Die LSAP wolle keine Zwei-Klassenmedizin, doch sie sehe zurzeit kein Projekt, das in diese Richtung gehe. Über die obligatorische Affiliation zur Krankenkasse sei sichergestellt, dass jede/r Patient/in dieselbe Dienstleistung bekommt. Dieses Prinzip sei nirgends in Frage gestellt, meint Lenert. Vor allem die Parteilinke der LSAP dürfte ihren Optimismus nur eingeschränkt teilen.
Auch ihr Demokratieverständnis wirkt manchmal eigenwillig. Schon als Kooperationsministerin wurde sie von der EU dafür kritisiert, dass sie 2019 dem laotischen Justizminister bei einer Visite ein Strafgesetzbuch überreichte, das Luxemburg mit ausgearbeitet hat und das die Todesstrafe enthält. Als Gesundheitsministerin musste sie sich Ende Dezember dafür rechtfertigen, dass sie im neuen Covid-Gesetz Beamte dazu verpflichten wollte, Verstöße gegen Quarantäne und Isolation bei der Staatsanwaltschaft zu melden. Mitte Juli entgleiste sie in einer Ansprache im Parlament, als sie der Opposition entgegnete, die Probleme hätten erst begonnen, als man vom Reglement – also vom état de crise – auf das Gesetz umgestiegen sei. Überrascht zeigt sie sich, wenn Menschen sie fragen, was sie im Rahmen der Corona-Einschränkungen denn noch tun dürften und was nicht. Diese Fragen würden zeigen, dass wir noch nicht daran gewöhnt seien, selbst Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen, bedauert die frühere Richterin. Vor dem Hintergrund der häufig von Opposition und Medien gleichermaßen geäußerten Kritik, dass die Regierung schlecht kommuniziere und mit ihrem „Sonderweg“ falsche Botschaften sende, können solche moralisierenden Aussagen mitunter anmaßend wirken.
Für die Parlamentswahlen 2023 wird Paulette Lenert dennoch bereits als neue Spitzenkandidatin der LSAP gehandelt. Sie ist zielstrebiger als Taina Bofferding, redegewandter als Franz Fayot und unbescholtener als Francine Closener. Vielleicht wird sie im Verbund mit Jean Asselborn kandidieren, den sie in Umfragen längst überholt hat. Vizepremier Dan Kersch wird sich wohl damit begnügen, als Drahtzieher und einer ihrer politischen Ziehväter in die Geschichte einzugehen.
Lenert selbst zeigt sich noch unschlüssig. Die bisherigen Erfahrungen in der Krise hätten sie öfters zweifeln lassen, ob Politik wirklich das Richtige für sie sei. Wenn sie in der Politik bleiben will, wird sie sich 2023 den Wähler/innen stellen müssen. Ihre Ausgangslage ist heute wesentlich besser als noch 2018. Die vielen öffentlichen Auftritte haben einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.