Es sei nicht der Zeitpunkt „politique politicienne“ zu machen, hatte Xavier Bettel in seiner Rede zur Lage der Nation am Dienstag gemahnt. Es sei nicht der Moment „ideologische Unsicherheiten zu provozieren“ und das Luxemburger Modell in Frage zu stellen, so der Staatsminister, als er zum nunmehr achten Mal antrat, um die aktuelle Situation des Landes inmitten der weltweiten Corona-Pandemie darzustellen. Es war einer der emotionaleren Augenblicke in einer Rede, die sich über weite Strecken in Wiederholungen und bereits Bekanntem zur Corona-Strategie verlor.
Die traditionell im Frühjahr gehaltene Rede des Staatsministers war wegen des Coronavirus verschoben worden, diese Woche fand sie krisenbedingt im Cercle Cité statt, wo das Parlament mit größerem Sicherheitsabstand provisorisch tagt. Diejenigen, die eine klare Marschroute aus der Krise heraus erwartet hatten, wurden enttäuscht.
Demonstrative Zuversicht In seiner ungewöhnlich langen, 90 Minuten dauernden Rede ging es dem Premier darum, Zuversicht, Einigkeit und Solidarität in alle Richtungen sowie Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und das Krisenmanagement seiner Regierung zu loben. Im Rückblick hätte man Dinge anders machen können, gab er zu – um daraufhin alles für gut zu befinden, was seine Regierung bislang getan hat, um die Folgen der Pandemie abzufedern: Kurzarbeit, die über 2020 hinaus verlängert werden soll (wobei unklar blieb, wie lange genau), die Telearbeit soll verstärkt werden, das Relaunch-Paket für die angeschlagene Wirtschaft, Betriebe, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, sollen weiterhin Hilfen beantragen können, der Staat investiert weiter.
Es war ein Abgeordneter aus Bettels eigenen Reihen, der tags dsrauf, am Mittwochnachmittag, in der anschließenden Debatte im Plenarsaal für Polemik sorgte, bevor die Reden in übliche parteipolitische Reflexe abrutschte. Ein verärgerter DP-Fraktionschef Gilles Baum fragte die CSV, was sie gemacht hätte, wäre sie an der Macht – und zählte lauter Maßnahmen auf, die mit der Corona-Krise nichts zu tun haben, etwa die 20-Stunden-Gratisbetreuung, den Ausbau von Schulinfrastrukturen oder den kostenlosen öffentlichen Transport. Dem DP-Politiker hatte die verhaltene Reaktion der größten Oppositionspartei auf Bettels Rede missfallen.
Zuvor hatte CSV-Fraktionschefin Martine Hansen in einer trockenen, mit wenigen Spannungsbögen versehenen Einlassung Elemente herausgearbeitet, die ihre Partei in Bettels Rede vermisst: dass die Steuerreform nun aufgrund der Pandemie-bedingten gewaltigen Staatsausgaben doch nicht kommt, hatte jede/r erwartet; aber wie will die Regierung die Krisenmaßnahmen und das klaffende Loch im Budget von rund 4,4 Milliarden Euro für 2020 (plus geschätzte 1,8 Milliarden im Jahr 2021) gegenfinanzieren?
Was sind die Schlussfolgerungen von Blau-Rot-Grün aus der Krise, fragte die Fraktionschefin, die vor allem beim Gesundheitssystem strukturellen Nachbesserungsbedarf sieht: Der Premier hatte in seiner Rede die Bedeutung des Gesundheitspersonals, das zu zwei Drittel aus dr Grenzregion stammt, unterstrichen. Wie er die Attraktivität der Gesundheitsberufe verbessern will, dazu sagte Bettel aber nichts. Dafür, dass die Pandemie der rote Faden seiner Rede gewesen war, fehlten sanitäre Schlussfolgerungen, die er und die Koalitionspartner bisher aus der Krise gezogen haben. Die grüne Abgeordnete Josée Lorsché versuchte, diese nachzureiche; sie verspricht sich durch die medizinische Grundausbildung, die ab diesem Herbst an der Uni angeboten wird, einen Anreiz. Mehr Vorschläge dazu, wie die Wertschätzung der Krankenpfleger und Äarztinnen verbessert werden könnte, hatte sie auch nicht.
Kaum Fundamentalkritik Trotz zahlreicher Wortmeldungen und Interventionen blieb ein Rundumschlag gegen das von Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) und Xavier Bettel verkörperte Corona-Krisenmanagement bei fast allen Parteien dennoch aus. Offenbar traut sich niemand zu, besser durch die Pandemie führen zu können, und es wäre auch nicht glaubhaft gewesen, schließlich hatten ausnahmslos alle Parteien die Notstandsgesetzgebung mitgetragen und die Krisenmaßnahmen gutgeheißen. Die Wahrheit ist: Niemand war auf die Pandemie vorbereitet, und bis heute weiß keine/r wirklich, wie es besser machen.
Die größte Oppositionspartei CSV blies nicht zur Generalattacke, obschon es Fehler und Ungereimtheiten beim Krisenmanagement gab und heute noch gibt: Obwohl die Strategie, breite Bevölkerungskreise auf das Coronavirus zu testen, bis März voraussichtlich mit ungefähr 95 Millionen Euro zu Buche schlagen wird, steht das Großherzogtumg aufgrund anhaltend hoher Infektionszahlen auf der Roten Liste verschiedener EU-Länder und alle fiebern ängstlich, ob nicht doch bald strengere (Reise-)Beschränkungen kommen werden. Die desolate Informationspolitik der Regierung über wichtige Gesundheitsdaten gerade auch am Anfang der Pandemie war außer dem Abgeordneten Fernand Kartheiser von der ADR den anderen Parteien kaum eine Erwähnung mehr wert.
Vielleicht lag die relative Milde – Wortgefechte kamen nur selten auf – in der Debatte im Cerclé Cité am Mittwochnachmittag daran, dass Xavier Bettel mit mehr Substanz ans Pult getreten war, als in den Reden und Jahren zuvor (außer die, die er als frisch gebackener Staatsminister 2014 gehalten hatte): Dass die Staatsverschuldung in „historischer Höhe“ liegt und die Krise keineswegs vorbei oder ausgestanden sei, räumte Xavier Bettel ein, auch, dass nicht ausgeschlossen sei, dass der Staat noch mehr Geld in die Hand nehmen muss.
Bettel hatte, anders als 2019, konkrete Maßnahmen im Gepäck: Das Regime der umstrittenen Spezialimmobilienfonds (Fis) wird geändert, mit 20 Prozent besteuert, das der Stock options abgeschafft. Neu sind die Ideen indes nicht: Sie stehen im Koalitionsprogramm und genau genommen war die Regierung in Zugzwang, war doch die CSV als erste nach der Sommerpause vorgeprescht mit der pertinenten Frage, warum die Koalition diese Schlupflöcher nicht längst geschlossen hat. Die CSV legte den Finger in eine Wunde, die die Regierung seit dem Verlust von Félix Braz und dem Fortgang von Etienne Schneider quält: Sie agiert im Alltag zu zögerlich, Reformen brauchen viel Zeit, es fehlt an Mut und auch an Einigkeit. Aber seit Ausbruch der Pandemie gibt es keinen Regierungsalltag mehr.
Konflikte in der Koalition Deshalb Bettels Botschaft: Die Krise ist reell, aber wir stehen sie gemeinsam durch. Er hofft, dass rasch wieder Normalität einkehrt, und stellte gar einen Impfstoff für Dezember in Aussicht. Woher der Premier den Optimismus nimmt, weiß nur er allein: Am Montag hatte der Pharmakonzern Johnson & Johnson seine Corona-Impfstoffstudie wegen einer ungeklärten Erkrankung einer Testperson unterbrechen müssen. Der Premier steht diesbezüglich seinem Parteikollegen, Bildungsminister Claude Meisch (DP), in nichts nach, der wochenlang eine „normale“ Schul-Rentrée versprach, obwohl jeder ahnte, dass es sie nicht geben würde, wie die hohen Infektionszahlen in den Schulen heute beweisen.
„Es gibt keine Experimente, es gibt keine Spekulationen und Diskussionen zu dem Grundsatzprogramm, das wir uns für die nächsten Jahre gegeben haben“, hatte Bettel betont, und es war in erster Linie eine Warnung nach innen, die Reihen geschlossen zu halten. Der Staatsminister bekannte sich zum Koalitionsprogramm, wiederholte seine Absage an eine Vermögens- und eine Erbschaftssteuer in direkter Linie sowie an Steuererhöhungen – um kurz darauf die CO2-Steuer anzukündigen. Sie soll rund 160 Millionen Euro bringen, für Klimainvestitionen eingesetzt und sozial abgefedert werden (Seite 6).
Agenscheinlich haben sich beim Ringen um diese Neuerung beide Koalitionspartner durchgesetzt: die Grünen, deren Sprecher François Benoy die CO2-Steuer als „Paradigmenwechsel“ und wesentliches Instrument der „ökologischen Transition“ anpries, weil damit das Verursacherprinzip eingeführt werde, und die LSAP, deren Fraktionschef Georges Engel in einem Interview vor der Corona-Krise einen gestaffelten Dieselpreis ins Spiel gebracht hatte, und der es darum geht, weitere Härten für einkommensschwache Haushalte zu vermeiden. Eine Erhöhung der Teuerungszulage (allocation de vie chère) um zehn Prozent soll hier ebenfalls helfen.
Außer Marc Baum von déi Lénk und der ADR wurde diese Steuer nicht per se beanstandet. Dass Grundsatzkritik insbesondere der größten Oppositionspartei ausgeblieben ist, liegt daran, dass sich in Wirklichkeit die Positionen zwischen Regierung und CSV nicht so sehr unterscheiden: Die Christlich-Sozialen hatten die meisten Krisenmaßnahmen mitgetragen, sie wollen keine Erbschafts- oder Vermögenssteuer, wie Gilles Roth noch einmal am Donnerstagmorgen bekräftigte.
Vielmehr scheint die CSV die DP in punkto Wirtschaftsliberalismus überholen zu wollen: Ihr Hauptangriffspunkt war die großzügige Ausgabenpolitik der vergangenen Jahre, die mit „sozialer Selektivität“ nicht viel zu tun gehabt habe: Die Regierung habe es durch Maßnahmen wie die flächendeckende Gratisbetreuung versäumt, einen „Apel fir den Duuscht“ zur Seite zu legen, schimpfte ihr finanzpolitischer Sprecher Gilles Roth. Für die CSV steht die Abfederung coronabedingter Folgen für die Wirtschaft im Mittelpunkt und auch sie hat nicht viel anderes zu bieten, als die Dreierkoalition: Sie will nachhaltiges Wachstum, setzt dabei vor allem auf einen diversifizierten Finanzsektor – und auf das Prinzip Hoffnung. Gilles Roth rechnete vor, dass bei den spezialisierten Investmentsfonds (Fis) dem Staat womöglich eine Milliarde Steuer durch die Lappen gegangen ist. Aber es war seine Partei, die dieses Schlupfloch üerhaupt erst eingeführt hatte.
Ähnliche Glaubwürdigkeitsprobleme lähmen die CSV auch bei der Wohnungspolitik. Um 130 Prozent seien die Immobilienpreise seit Antritt der Dreierkoalition 2013 gestiegen, legte der CSV-Abgeordnete Marc Lies am Donnerstagmorgen nach, der eine ganze Liste aufzählte, wo die DP blockiert habe. In der Wohnungspolitik, die Bettel in seiner Rede im Gegensatz zum Vorjahr immerhin am Rande erwähnt hatte, hat seine Partei Ende September ein 23-Punkte-Paket vorgelegt; mit den darin enthaltenen Hauptinstrumenten wie der Erweiterung des Bauperimeters und der Vereinfachung der Baugenehmigungsprozeduren gingen CSV-Politiker schon hausieren, als die Partei noch selbst für das Wohnungsressort verantwortlich war.
Wie sagte Georges Engel von der LSAP in seiner Einlassung am Mittwoch: „Hier hat jeder seine Last zu tragen und jeder seine Teilschuld zu tragen.“ In seiner ersten Rede zur Lage der Nation hatte Bettel 2014 als frisch gebackener Premier gemeint, keine Versprechen abgegeben zu wollen, außer dem, dass seine Koalition alles versuchen werde, um den Wohnungsmangel zu beheben. Acht Jahre später ist die Bilanz mehr als mau, die Wohnungspreise erreichen neue schwindelerregende Höhen – und die Misere dürfte sich mit der Corona-Krise noch verschärfen. Ob der von sechs auf fünf Prozent herabgesetzte Abschreibungssatz (amortissement accéléré) für Investitionen ab 1.1.2021 und die von sechs auf fünf Jahre verkürzte Dauer nachhaltig etwas an der Wohnungsnot ändern wird, bezweifelten alle Parteien der Opposition.
Kein großer Wurf also, vor allem aber fehlt ein Plan, wie eine gerechtere Welt nach Corona aussehen könnte. Es war Marc Baum von déi Lénk, der von einer „Bankrotterklärung“ der Regierung sprach, und er erinnerte an nachdenkliche Stimmen zu Beginn des Lockdown: Damals hatten Vertreter der Zivilgesellschaft, darunter Caritas Luxemburg und der OGBL, in einer „Initiative pour un devoir de vigilance“, gefordert, es könne mit dem Wirtschaftsystem so nicht weitergehen, und die Folgen der Globalisierung auf die nationale Wirtschaft, aufs Klima und die Umwelt angeprangert. Die Zeitschrift Forum hatte mit „31 Vorschlägen für eine Politik der Resilienz“ versucht, eine Debatte anzustoßen. Skeptiker hatten allerdings schon damals abgewunken, die Vorstellung, die Corona-Krise würde die Regierung zur Grundsatzkritik am Luxemburger Modell bringen, sei naiv. Sie haben Recht behalten. ●