„Warten Sie, ich muss erst schauen, ob mein Laboratorium sauber ist“, scherzt Serge Schneider, Leiter der analytischen Toxikologie im Nationalen Gesundheitslaboratorium, und erntet damit Lacher. Denn die anwesenden Fotografen und Journalistinnen waren ins LNS nach Düdelingen gekommen, um zu erfahren, was die landesweit ersten Messungen von Drogenrückständen im Abwasser ergeben haben.
Die vom Fonds de la lutte contre certaines formes de criminalité finanzierte, rund 70 000 Euro teure Studie von LNS und dem Luxembourg Institute of Science and Technology (List) bestätigt, was für Experten längst kein Geheimnis mehr ist: Dass verbotene Substanzen eben nicht nur von – sozial ausgegrenzten – Suchtkranken am Hauptbahnhof konsumiert werden, sondern dass insbesondere Kokain mittlerweile in breitere Bevölkerungsschichten vorgedrungen ist.
541 Milligramm Kokain pro Tag auf umgerechnet tausend Einwohner haben die Forscher in den Abwässern der Gemeinden Differdingen, Käerjeng, Petingen und Sassenheim nachgewiesen. Luxemburg liegt damit im europäischen Vergleich deutlich über dem europäischen Medianwert und ist vergleichbar mit Städten wie Basel und Genf. Die Europäische Drogenbeobachtungsstelle führt im Rahmen ihres Score-Projekts mit 70 europäischen Städten vergleichbare Abwasserkontrollen durch.
Crystal Meth im Umlauf Gezogen wurden die Proben am Einlauf der Petinger Kläranlage. „Die Größe der Kläranlage mit rund 70 000 Einwohner-Gleichwerten entspricht einer mittelgroßen Anlage“, sagt Christian Köhler vom List. Getestet wurde auf Kokain, Heroin, Amphetamin, Methamphetamin (Crystal Meth), Cannabis und Ecstasy. Gefragt, ob in Beggen, dort steht die Kläranlage der Hauptstadt, oder direkt auf dem Kirchberg, wo sich die Banken konzentrieren, möglicherweise noch höhere Messwerte erzielt worden wären, meinte der ebenfalls anwesende Drogenkoordinator des Gesundheitsministeriums, Alain Origer: Das sei anzunehmen. Überraschend für ihn: Obwohl die Polizei noch im vergangenen Jahr gemeldet hatte, kein Crystal Meth beschlagnahmt zu haben, wurde die gefährliche Droge auch in hiesigen Abwasserproben gefunden. Allerdings sagt der Nachweis nichts darüber aus, wer wie viel konsumiert, ob also eventuell die Rückstände auf den Konsum einiger, weniger Personen zurückzuführen sind.
London, (noch) Finanzzentrum der Europäischen Union, zählt beim Kokainkonsum zu den Spitzenreitern in Europa. Das haben Abwasseranalysen ergeben, die die britische Hauptstadt bereits 2014 durchführen ließ: Drei Mal mehr Kokain schieden die Londoner im Vergleich zu den Mailändern aus. Die italienische Stadt galt lange als Hochburg der Kokser-Szene, auch wegen der Nähe zur Mafia.
Die in Luxemburg gefundenen Werte decken sich mit den Beobachtungen der Polizei. „Kokain ist die Substanz, die die Polizei am häufigsten beschlagnahmt und die wir in der Drogenszene rund um den Konsumraum am meisten beobachten“, sagte Origer dem Land. Razzien finden oft eher in der sichtbaren Drogenszene statt, nicht so sehr bei den unauffälligen Konsumenten. „Das ist die erste Untersuchung dieser Art in dem Bereich“, so Origer.
Das ist eigentlich erstaunlich. Denn dass Kokain, obwohl verboten, in Luxemburg zu kaufen so schwer nicht ist, weiß jeder, der oder die sich einmal nach dem weißen Pulver umgesehen hat. Der einfachste Weg – und zugleich der gefährlichste – ist der Kauf auf der Straße. Dealer im Bahnhofsviertel bieten außer Cannabis auch Kokain an. Abgepackt in Kugeln oder szenetypischen Briefchen. Nur weiß der Käufer dann nicht, was darin genau enthalten ist. „Meistens wird Kokain mit einem Schmerz- oder Betäubungsmittel gestreckt“, sagt Origer. Häufig sind die Streckmittel ihrerseits gesundheitsschädigend.
Premium-Qualität und „easy Acces“ Wohl wegen der Konkurrenz durch andere, synthetische Drogen, wegen politischer Unruhen in den Ländern wie Kolumbien und Venezuela und weil billige Streckmittel nicht mehr ohne weiteres zu haben sind, verzichten Dealer inzwischen darauf, den Stoff zu sehr zu strecken. „Das Kokain, das in der Szene erhältlich, ist hochwertig“, so Alain Origer. Reinheitsgrade von sichergestelltem Kokain von „60 bis sogar 80 Prozent“ seien nicht selten. 2018 lag der Mittelwert für getestetes beschlagnahmtes Kokain bei 51,6 Prozent Reinheitsgehalt.
Das traurige Bild der obdachlosen Suchtkranken beim Abrigado ist für viele weit weg, wenn sie mit dem Schniefen oder Rauchen von Kokain beginnen. Sie lernen es nebenbei in der Freizeit durch Freunde oder Bekannte kennen. Manche wissen nicht einmal, dass Kokain zu den harten Drogen zählt, die schnell psychisch abhängig machen. In einer Studie zu den gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen von Drogen durch ein Team um den britischen Pharmakologen David Butt 2010 landete das weiße Pulver auf Platz fünf – hinter Alkohol, Heroin, Crack und Speed.
Die Droge ist wegen ihrer stimulierenden Wirkung beliebt, ob zum nächtelangen Durchmachen auf Partys oder im Job. Die Polizei spricht von „Klub-Konsum“. Weil sie keinen Kater hinterlässt und sich die Abhängigkeit nicht sogleich körperlich äußert, lässt sie sich ins Arbeitsleben integrieren. Zumindest anfänglich. Über die Zeit und bei erhöhter Dosis kann aus einem zunächst kontrollierten Konsum durchaus ein problematischer werden. Betroffene berichten von einer Abwärtsspirale, bis sie schließlich das weiße Pulver täglich schniefen und all ihre Energie immer mehr um die Beschaffung von Nachschub kreist.
Drogen aus dem Darknet Kokain galt und gilt noch immer wegen des höheren Preises und dem leistungssteigernden Effekt als Droge der Schickeria. Mit dem Internet wird der Zugang quasi demokratisiert. Im Darknet kann man für 100 bis 200 Euro ein Gramm Kokain bestellen. Auf diesen, mit speziellen Suchmaschinen und Links erreichbaren Webseiten geht der Drogenkauf fast so zügig wie bei Amazon: Eine Adresse rühmt sich, erstklassiges Koks zuverlässig in alle als „sicher“ eingestuften Länder Europas zu schicken. Dazu scheint Luxemburg zu zählen. Wie bei Anbietern anderer Dienste können Kunden den Service nach Inanspruchnahme bewerten. Bezahlt wird mit Bitcoins, selbstverständlich anonym, die Kommunikation läuft verschlüsselt. Paketstationen an Tankstellen, wie sie die Post auch hierzulande immer mehr aufstellt, ermöglichen die unauffällige Abholung sogar in der Nacht. Hundertprozentig sicher ist aber auch der Transportweg nicht: Die Polizei hat bereits Internet-Drogen beschlagnahmt, wenngleich im „ganz geringen Umfang/Ausmaß“. Mehr will sie aus „polizeitaktischen Gründen“ nicht verraten.
Wer kurze Wege will, kauft über Mittelsmänner und Kontaktleute seines Vertrauens. Eine frühere Kokserin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt: „Wenn ich Koks will, brauche ich nur eine Nummer anzurufen und bekomme welches geliefert.“ Der Mittelsmann beziehe den verbotenen Stoff aus Deutschland. Ein Gramm kostete sie um die 100 Euro. Das Pulver sei „sehr gut“ gewesen, ist sie sich sicher. „Ich vertraue meinem Kontakt, ich kenne ihn schon länger.“ Nach einem fürchterlichen Absturz hat sie den Konsum aber ganz aufgegeben, unterstreicht sie.
Laut Polizei gibt es neben den nigerianisch dominiertem Straßenverkauf andere Gruppierungen, darunter viele Albaner, die „aus dem Hintergrund aus verschiedenen Gebäuden heraus mit einem hochwertigeren, aber auch teureren Kokain handeln.“ Auch aus Frankreich – Thionville, Metz –, so wurde dem Land berichtet, komme der Nachschub. Oft reisen Kuriere für wenige Kunden über die Grenze, liefern die bestellte Ware bis an die Haustür und machen sich wieder aus dem Staub. Die langen Haftstrafen für Drogenhandel in Luxemburg haben sich herumgesprochen und wirken abschreckend.
„Eine SMS genügt, und wenige Stunden später ist die Ware da“, hat auch Claude Bollendorf gehört. Unter den Patienten des Suchtmediziners befinden sich reine Kokainkonsumenten. Das Leben zwischen verbotenem Drogenrausch und heile Fassade läuft mitunter einige Jahre rund – bis es nicht mehr geht. „Dann kommen sie zu mir.“ Weil in Luxemburgs einzigem Behandlungszentrum für Suchtkranke in Manternach Therapiewillige bis zu sechs Monate auf einen Platz warten, schickt Bollendorf seine Patienten häufig ins Ausland, etwa in die Niederlande. Das Land hat Erfahrung im Umgang mit illegalen Drogen und entsprechend gute Suchthilfeangebote. „Wenn jemand zur Einsicht kommt, sein Konsum könnte problematisch sein, muss ich ihm direkt eine Behandlung anbieten können und nicht erst Monate später“, betont Bollendorf.
Alkohol und Koks: Riskanter Mix Ein noch größeres Problem stellt für den Suchtmediziner aber der häufige Mischkonsum von Alkohol und Kokain dar. „Das geschieht meist im festiven Rahmen“, warnt er. Durch Abbauprozesse entstehe im Körper eine neue Substanz (Metabolit), das Cocaethylen, das eine ähnliche Wirkung wie Kokain hat, vom Körper aber langsamer abgebaut wird. Experten schätzen die Giftigkeit von Cocaethylen noch höher als die von Kokain ein. Das Risiko, an einer Überdosis Kokain/Alkohol zu sterben, wird 18- bis 25-fach höher eingeschätzt als wenn Kokain allein konsumiert wird.
Manche kommen aber viele Jahre nicht in eine Praxis, denn sie schaffen es, ihren Drogengebrauch einigermaßen im Griff zu behalten. Studien aus Belgien und Deutschland, die schon Anfang der 2000-er den so genannten kontrollierten Drogenkonsum untersuchten, zeigen, was viele am liebsten gar nicht hören wollen: Nicht jeder Drogengebrauch ist lebensgefährlich oder endet mit dem sicheren Tod; und nicht alle Heroin- oder Kokainsüchtige sind „verelendete Junkies“ – was nicht heißt, dass ihr Kokserleben risikofrei und ohne Leiden wäre und immer auf der Überholspur verläuft. Berühmte Beispiele sind der deutsche Schriftsteller und geständige Kokser Benjamin von Stuckrad-Barre, der in Panikherz seine rauschenden Drogen-Hochs und später vor allem depressiven Tiefs mit mehreren Klinikaufenthalten beschrieben hat, oder die französische Sängerin Kelen Meloul, besser bekannt unter dem Künstlerinnenname Rose. In ihrem autobiografischen Roman Kerosène (und im gleichnamigen Lied) beschreibt sie die (selbst-)zerstörischen Folgen ihres Kokainkonsums.
Beide Fälle sind insofern typisch, als viele Süchtige im Laufe der Zeit einen Prozess von Kontrollverlust durchlaufen und heftige, teils lebensbedrohliche Abstürze kennenlernen. Entweder sie hören danach auf, oder sie versuchen die Substanz kontrolliert zu nehmen, indem sie sich bewusst Limits setzen, etwa wie viel sie für den Konsum ausgeben oder wie oft sie konsumieren wollen. Für Bollendorf ist Absentismus, also der völlige Verzicht auf illegale Drogen, nicht das vorderste Ziel. „Wir sind schon froh, wenn unsere Patienten nicht mehr wild durcheinander konsumieren. Denn das ist für die Gesundheit wesentlich gefährlicher“, sagt er. „Und wenn der Konsum dann schrittweise herunterfahren werden kann.“