Als letztes Jahr der Abenteurer Victor Vescovo mit seinem U-Boot im Marianengraben zu einer Tiefe von 10 928 Metern abtauchte, ein neuer Rekord, da wurde er auf dem Meeresboden bereits erwartet: von einer Plastiktüte. Kunststoffe haben die Welt erobert, von den Polen bis zum Everest; längst schon sind kleingeriebene Plastikpartikel bis in die Nahrung von Tier und Mensch vorgedrungen. Museen und Archive aber befassen sich nur zögerlich mit synthetischen Polymeren, dem Segen und Fluch unseres Zeitalters.
Plastik ist so allgegenwärtig, dass es oft übersehen wird. Meist rümpfen die großen Kulturtempel darüber die Nasen und überlassen billigen Ersatz für Elfenbein, Glas und andere Traditionsmaterialien lieber kleinen Firmen- und Heimatmuseen oder Amateuren. Das Deutsche Kunststoff-Museum, für das ein Verein in Oberhausen Objekte zusammenträgt, kommt schon seit Jahrzehnten nicht recht in die Gänge. Immerhin wird Bakelit, der erste echte Kunststoff, derzeit in Wien mit einer kleinen Sonderausstellung gewürdigt, noch bis zum 26. Oktober im MAK.
Private Initiativen von Kunststoff-Liebhabern versanden oft nach ein paar Jahren. Das Portable Art Museum in Düren zum Beispiel, einst mit 150 000 Tragetaschen und Tüten die wahrscheinlich weltweit größte Kollektion dieser Art, wurde sang- und klanglos wieder geschlossen, als sein Gründer 2011 starb. An den Sammler Heinz Schmidt-Bachem erinnert nur noch das von ihm verfasste historische Standardwerk Tüten, Beutel, Tragetaschen (Waxmann-Verlag, Münster 2001).
Die Schwaben Mathias Kotz und Monika Breuninger wollten ihre Sammlungen dauerhaft in guten Händen wissen: Sie übergaben dem Landesmuseum Württemberg mehr als 50 000 Plastiktüten aus dem Zeitraum 1968 bis 2010. Die von der Designerin Phoebe Philo für den Modesommer 2018 gestaltete durchsichtige „Céline-Bag“, die schon mal für mehr als 800 Euro gehandelt wird, ist in diesen Schätzen folglich nicht enthalten. Dafür aber allerhand andere Preziosen, die nun gesichtet und nach Motiven geordnet werden.
Während die Arbeiten zur Archivierung noch andauern, wird im ehemaligen Jagdschloss der württembergischen Herzöge eine kleine, alle vier Wochen wechselnde Auswahl präsentiert. Der aktuelle Anlass für die knallbunte Sonderschau ist das von der deutschen Bundesregierung im vergangenen November auf den Weg gebrachte, vom Parlament noch abzusegnende Verbot von leichten Kunststoff-Einwegtüten. Überhaupt gibt es auf der Welt nur noch wenige Regionen, in denen Plastikfetzen ohne Restriktionen weggeworfen werden dürfen: die üblichen Schurkenstaaten Nordkorea, Iran, Sudan, Russland und Teile Amerikas. Eine Ära geht zu Ende.
Dabei hatte das Polyethylen-Zeitalter einmal unbeschwert begonnen. Eigentlich ist dieser Kunststoff eine deutsche Erfindung: Anno 1898 stieß der Tübinger Professor Hans von Pechmann zufällig in einem Reagenzglas auf eine wächserne Masse. Allerdings konnte er damit nichts anfangen, weshalb er die Sache wieder vergaß und Engländern überließ. Erst seit den 1950er Jahren wird im großen Stil aus Erdöl und Erdgas verdichtetes Polyethylen hergestellt und zu Verpackungsfolien verarbeitet.
In Deutschland verteilte 1961 das Kaufhaus Horten in Neuss die ersten „Hemdchentüten“, deren Träger an ein Unterhemd erinnern. Der Ingenieur Sten Gustaf Thulin ließ 1965 für eine schwedische Firma die Reiterbandtragetasche patentieren. Billig und praktisch, reißfest und wasserdicht: Bereits 1970 überflügelten Plastiktüten die davor üblichen Papiertaschen. Die massenhaft verbreiteten, gut zu bedruckenden „laufenden Plakate“ entwickelten sich rasch zum Symbol der Wegwerf-Gesellschaft.
Im Gefolge von Unverpackt-Läden und Klimaschutz ist nun eher Plastik-Kritik gefragt. Das Bild In Tesco we trust von Banksy etwa zeigt Pfadfinder, die vor einer Tüten-Fahne salutieren. Während des Wirtschaftswunders aber hatten selbst renommierte Künstler keine Hemmungen, vergänglichen Kommerz zu verschönern: Die Tüten von Aldi-Nord wurden von Günter Fruhtrunk gestaltet, einem Vertreter der Op Art und Professor an der Münchner Akademie. Der Schweizer Migros-Konzern engagierte für jährliche Tragetaschen-Editionen ebenfalls bekannte Künstler, zum Beispiel Daniel Spoerri, Bernhard Luginbühl und Dieter Roth.
Einst galten Plastiktaschen sogar als besonders umweltfreundlich. Der WWF Deutschland warb in den 1970er Jahren auf Tüten der mittlerweile aussterbenden Supermarktkette Tengelmann für Naturschutz: Plastiktaschen seien dafür hilfreich, denn mehrfach verwendbar, hygienisch und „gefahrlos“ zu entsorgen. Bei der Verbrennung von Polyethylen entstünden bloß Wasserdampf und Kohlendioxid – was früher als harmloser Bestandteil der Luft angesehen wurde.
Wie lassen sich derartige Zeitdokumente für die Nachwelt bewahren? Auf dem Meeresboden wird Kunststoff leicht mehrere Jahrhunderte alt. Für Museen aber können UV-Licht, Wärme und Schädlinge durchaus Herausforderungen sein. Kurator Frank Lang ist optimistisch, dass auch in den Depotkisten im Kunststoff-Keller von Schloss Waldenbuch optimale Bedingungen herrschen: dunkel, kühl und sauerstoffarm.
Vielleicht werden Plastiktüten aber auch vorschnell totgesagt. Zu Corona-Zeiten haben glatte, leicht zu reinigende Oberflächen einen neuen Reiz. Die Stadt New York jedenfalls sieht nun davon ab, ein im März erlassenes Plastiktüten-Verbot durchzusetzen und will es vorerst mit Aufklärung versuchen. Möglicherweise wird ja auch noch ein „Biokunststoff“ entwickelt, der nicht nur auf dem Papier kompostierbar ist. Vielleicht wird Plastikmüll eines Tages auch nicht mehr nach Malaysia exportiert, sondern tatsächlich recycelt. Theoretisch ist Plastik gar nicht so schlecht, und an Museumswänden sieht es sogar sehr schön aus.