Was dem CSV-Staat christliche Tugenden waren, ist der liberalen Regierung im Koalitionsabkommen, im Werteunterricht und im Zentrum für politische Bildung die „Tyrannei der Werte“

Im Land der Wertvollen

d'Lëtzebuerger Land vom 18.03.2016

Im Regierungsprogramm der CSV/LSAP-Koalition von 2009 waren Werte noch kaum ein Thema. Gerade drei Mal ging im übertragenen Sinn die Rede von Werten, von den Grundwerten der Europäischen Union, dem Werteunterricht und der Kultur als Werteträgerin. Ganz anders das Regierungsprogramm von DP, LSAP und Grünen aus dem Jahr 2013: Dort kommen Werte gleich 18 Mal im übertragenen Sinn vor. So als sei der CSV-Staat jahrzehntelang ganz gut gefahren mit christlichen Tugenden, Geboten und was sonst noch im Katechismus steht, bis die Trennung von Kirche und Staat nun eine laizistische Ersatzreligion nötig machte.

Werte sollen laut Koalitionsabkommen durch die Bildung vermittelt werden, etwa in der Bürgerkunde: „Ces cours mettront un accent particulier sur les valeurs et institutions démocratiques ainsi que les droits et devoirs fondamentaux“ (S. 7). Selbstverständlich im Werteunterricht: „Il sera introduit un cours unique neutre et harmonisé d’éducation aux valeurs pour tous les élèves de l’enseignement fondamental et secondaire“ (S. 9), dessen Ziel es ist: „Les objectifs de cette éducation sont notamment de présenter de manière objective les grands courants religieux et philosophiques et d’éduquer les élèves aux valeurs qui fondent notre vivre ensemble“ (S. 112). Kunst und Kultur erklärt die Regierung für frei, solange sie ebenfalls im Dienst der richtigen Werte stehen: „Le Gouvernement reconnaît le principe de la liberté de la culture et de la diversité des activités artistiques et créatives qui reflètent les valeurs humanistes d’une société multiculturelle“ (S. 138).

Der Rückgriff der liberalen Spar- und Modernisiererkoalition auf Werte als Ersatz für Tugenden und Gebote auf einem freien Markt der Weltanschauungen liegt nahe. Denn Wert ist die Arbeit, die in einer Ware steckt, und spiegelt den Preis wider, den ein Käufer dafür zu zahlen bereit ist. So fand der Wertbegriff im Zeitalter der Industrialisierung, des Liberalismus und des Wissenschaftsglaubens, im 19. Jahrhundert, Eingang in die Philosophie, die Moral und die Weltanschauung. Selbstverständlich bemühten auch die Autoren des Koalitionsabkommens sich nicht um eine Definition der ihnen so wichtigen Werte, ihre Abgrenzung als Kategorie von Ideen, Idealen, Prinzipien, Glaubenssätzen, Regeln und Normen. Vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht aus Unvermögen, vielleicht auch, um ihre Werte in die Höhen des Naturrechts zu entrücken und damit unangreifbar zu machen.

Werte beherrschen die Gesundheitspolitik. Im Koalitionsabkommen heißt es: „Faire face aux défis en confirmant les valeurs fondamentales.“ Denn „[l]a politique de la santé doit s’appuyer sur des valeurs claires. Le Gouvernement continuera à défendre tant au niveau national qu’au niveau de l’UE les valeurs fondamentales que sont l’universalité, l’accès à des soins de qualité, l’équité et la solidarité“ (S. 160). Werte beherrschen die Psychiatrie, obwohl es schon andere sind: „La poursuite de la réforme devra s’inscrire dans le cadre d’un concept rédigé avec des objectifs mesurables dans le respect des valeurs nationales d’équité, de solidarité, de qualité et d’efficience“ (S. 170). Selbst der Sport gehorcht Werten und produziert sie sogar in großer Zahl: „Au vu des responsabilités politiques diverses à endosser en matière de sport et à la lumière des nombreuses valeurs sociétales générées par le sport [...]“ (S. 149).

Die Wertephilosophie war eine insbesondere von konservativen deutschen Philosophen, wie Max Scheler und Nicolai Hartmann, geschätzte Disziplin. „Im 19. Jahrhundert wurde die Rede von den Werten geläufig und das Denken in Werten üblich“, erinnerte 1943 Martin Heidegger in Nietzsches Wort „Gott ist tot“ (Holzweg, S. 209). „Man hält die Wissenschaft für wertfrei und wirft die Wertungen auf die Seite der Weltanschauungen. Der Wert und das Werthafte wird zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische.“ Das aktuelle Interesse an Werten hierzulande inspiriert sich vor allem an der Wertepolitik in Deutschland, wo Werte den Verfassungspatriotismus legitimieren müssen, nachdem Volk, Vaterland und Rasse ihre Legitimation durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg eingebüßt haben.

Auch in der Außenpolitik geht es laut Koalitionsabkommen um Werte, nämlich um europäische Werte: „Le Luxembourg s’engage pour une Europe forte, démocratique, solidaire et écologique, qui reste ouverte à tous les pays européens qui respectent les valeurs fondamentales de l’Union et remplissent les critères d’adhésion, ceci dans le respect de la capacité d’intégration de l’Union“ (S. 186). Oder genauer: um unsere Werte, die wir gegen ungenannte Feinde verteidigen. Denn „[n]otre voix porte également par les valeurs que nous défendons : la liberté, la paix, la démocratie, le développement durable, la lutte contre la pauvreté, l’exclusion et le changement climatique ainsi qu’un engagement sans faille pour le respect des droits de l’homme“ (S. 187).

Im Umgang mit Anderen sind unsere Werte nämlich eine Voraussetzung: „Le Gouvernement estime que l’adhésion à l’Union européenne doit rester possible pour tout État européen dont il aura été démontré qu’il respecte les valeurs fondamentales de l’Union et remplit les critères d’adhésion, ceci dans le respect de la capacité d’intégration de l’Union“ (S. 195). Um so mehr als die Anderen nicht immer unsere Werte teilen: „Dans des circonstances parfois délicates, il a fallu rappeler, y compris à des partenaires États membres, l’attachement incontournable de l’Union aux valeurs fondamentales ancrées dans la Charte et au respect de l’État de droit“ (S. 195). In diesem Geist versteht sich auch die Nato als Wertegemeinschaft und führt regelmäßig Kriege außerhalb des nordatlantischen Vertragsgebiets, um dort ihre zu Werten geadelten Interessen durchzusetzen, die auch unsere sind.

Dabei nimmt die Luxemburger Armee nicht nur an Kriegen zur Durchsetzung unserer Werte im Ausland teil, sondern setzt sie auch unter den Soldaten im Inland durch. Der Kommentar zu Artikel 32 des Entwurfs zur Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes betont: „De toute façon, les intéressés sont amenés à pratiquer la langue luxembourgeoise pendant leur service militaire pendant lequel ils apprennent également à connaître les institutions et valeurs du pays.“

Denn der Wert von Werten ist, dass Werte uns wertvoll machen. Wir halten unsere Werte notgedrungen für die höchsten und sind bereit, dafür jeden Preis zu zahlen oder wenigstens von anderen zu fordern. Deshalb müssen sich Fremde, wenn sie hier leben möchten, laut Koalitionsabkommen zu unseren Werten bekennen: „Le Luxembourg met en place une opportunité réelle au profit des nouveaux résidents de s’inscrire dans une trajectoire commune en même temps que l’immigré s’engage à œuvrer en faveur de cette trajectoire commune et des valeurs du pays hôte“ (S. 188). In diesem Sinn dienen unsere Werte den Werbeagenturen auch zum Nationbranding, um Luxemburg wertvoll zu machen und entsprechend teuer zu verkaufen: „Des valeurs positives véhiculées par l’image du Luxembourg seront établies et utilisées par les différents acteurs et dans les campagnes médiatiques officielles pour lesquelles le Gouvernement mettra à disposition les moyens nécessaires. [...] La réalité du vécu au Luxembourg sera en ligne avec les valeurs issues de ces travaux“ (S. 35).

Damit niemand in diesem Land an unseren Werten vorbeikommt, führt die Regierung einen Werteunterricht in den Grund- und Sekundarschulen ein. Sollte der Religionsunterricht christliche Tugenden verbreiten, so soll sein Nachfolger Werte durchsetzen. Im vor einem Jahr vorgelegten Rahmendokument Leben und Gesellschaft zum Werteunterricht heißt es: „Gerade bei den großen Lebens- und Gesellschaftsfragen muss die Schule jedoch Toleranz, Respekt und gegenseitiges Verständnis im Umgang mit Diversität vermitteln. Denn diese fundamentalen Werte sind die Grundlagen des Zusammenhalts und Zusammenlebens in einer multikulturellen Gesellschaft“ (S. 1).

Der Werteunterricht darf die Werte nicht in Frage stellen, denn er muss ihnen selbst gehorchen: „Damit das Fach „Leben und Gesellschaft“ gelingen kann, muss es jedoch in ein gesellschaftliches Klima von Toleranz und gegenseitigem Respekt eingebettet werden. Es sind die gleichen Werte, die wir den Kindern und Jugendlichen vermitteln wollen, und die die Grundlagen für die erfolgreiche Ausarbeitung und Umsetzung des neuen Fachs bilden“ (S. 1). Am Ende stehen auch Religionen für Werte, wofür sie nie stehen wollten: „Nicht das Bekenntnis zu einer Religion, sondern die Erkenntnis darüber, was Relig-ionen sind und für welche Werte und Überzeugungen sie stehen, soll das neue Fach vermitteln“ (S. 3).

Um so erstaunlicher scheint, dass der Staat mit Nachdruck unsere Werte durchsetzen will, aber nirgends aufgelistet ist, was diese Werte sind, weder in der Verfassung, noch in einem anderen Wertpapier. Selbst die Werte des Werteunterrichts bleiben unpräzise: „Die Luxemburger Schule sieht sich den universellen Menschenrechten verpflichtet, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und der Europäischen Menschenrechtskonvention formuliert werden. Diese ideologiefreien und universellen Werte bilden die Grundlage des Kurses,“ heißt es naiv im Rahmendokument (S. 3).

Wie der Werteunterricht soll auch das geplante Zentrum für politische Bildung unsere Werte vermitteln, wenn auch nicht genau dieselben. Es soll sich unter anderem auf die im April 2013 vom Familienministerium veröffentlichte Leitlinien zur non-formalen Bildung im Kindes- und Jugendalter stützen. Darin geht sehr viel von unseren Werten die Rede. Denn „Werte bilden die Grundlage für Normen, Verantwortungsbewusstsein und Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. [...] Das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlichen Lebenskonzepten, Sprachen, Religionen, Kulturen und Traditionen gleichberechtigt miteinander leben, fordert ein hohes Maß an Bereitschaft zu Koexistenz, Kooperationsfähigkeit und Akzeptanz von Werten und Normen. Das Kennenlernen grundlegender Menschenrechte, wie die Unantastbarkeit menschlichen Lebens, das Recht auf individuelle Freiheit und Integrität, Solidarität mit Minderheiten und Unterprivilegierten, Verantwortungsbereitschaft sowie achtungsvoller Umgang mit Ressourcen, trägt dazu bei, trotz aller Verschiedenheit die Gleichwürdigkeit aller Menschen zu achten“ (S. 53).

So werden Werte für die Konfliktvermeidung wertvoll. Um die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu vergrößern, ohne die soziale Kohäsion zu gefährden, sollen die Armen schon in den Schulen flächendeckend einen Katechismus liberaler Mittelschichtenwerte eingeimpft bekommen, der uns so wertvoll macht, und damit das Gefühl, dass ihre Werte Unwerte sind, die sie wertlos machen – zuallererst auf dem Arbeitsmarkt. Das Ganze, wie hierzulande üblich, durch Staatsbürgerschaft, Sprachgebrauch und Religionszugehörigkeit verschleiert. „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen“, schrieb Carl Schmitt in Die Tyrannei der Werte (S. 41). „Tugenden übt man aus; Normen wendet man an; Befehle werden vollzogen; aber die Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muß sie geltend machen. Wer sagt, daß sie gelten, ohne daß ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“

Romain Hilgert
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