In der Londoner City bietet sich dieser Tage ein kontrastreiches Bild. Zum Gewühl der Bankangestellten, die in die Tube-Stationen des Finanzbezirks strömen, mischen sich Trommelrhythmen und Didjeridoo-Klänge. Eilige Passanten schauen kurz hinüber zu der bunten Zeltstadt, manche bleiben stehen, um sich das Spektakel genauer anzusehen. Die Musiker sitzen auf Campingstühlen an der westlichen Seite der St Paul’s Cathedral. Hier ist das Camp der Londoner Occupy-Bewegung.
Eine Frau tanzt wie in Trance. „No Press!“, ruft ein Djembe-Spieler einem Kameramann zu, der schon sein Stativ vor der Gruppe aufgestellt hat. Ohne zu kontern, zieht der Journalist weiter, es gibt schließlich noch genug Protestler rund um die Kathedrale. Neben den Musikern steht eine Art Café-Zelt, in dem Demonstranten zusammensitzen und bei Kerzenlicht diskutieren. Ein Mann klimpert auf dem alten Klavier und merkt nicht, dass ein Hund an seinem Hosenbein schnuppert.
Dass Esszelt heißt „Democratic Republic of Kitchen“. Es riecht nach frischem Gemüse. „Na, bist du bereit für später?“, fragt jemand einen jungen Mann in dunkelblauer Retro-Militärjacke. „Klar doch!“, antwortet dieser. Gemeint ist der Räumungsbescheid, den The City of London Corporation, die Verwaltungsbehörde der City, am Tag zuvor in Form von Briefen an die Zelte geheftet hat. Falls das Camp bis heute Abend nicht geräumt ist, kündigt die Behörde rechtliche Schritte an.
Doch die Atmosphäre unter den Protestlern ist entspannt. In der „Tent City University“ finden Vorlesungen statt, und auch die improvisierte Bi-bliothek wird morgen wieder Bücher verleihen. Das werde sich auch so schnell nicht ändern, versichern die Anwälte, die die Demonstranten nicht nur beraten, sondern auch vertreten. Pro bono, versteht sich.
Die Anfänge der Bewegung verliefen jedoch nicht, wie geplant. Eigentlich hatten Demonstranten den Paternoster-Platz neben der Londoner Börse besetzen wollen. Der aber ist Privatbesitz von Mitsubishi Estate, die sofort gerichtlich die Absperrung des Platzes verfügen ließ. Daraufhin ließen sich am 15. Oktober rund 3 000 Demonstranten vor der St Paul’s Cathedral nieder. Doch diesmal wurde die Polizei verscheucht, und zwar von keinem anderen als dem Domherrn perönlich. „Die Polizei versuchte das Gebäude zu schützen. Das war sehr nett von ihr, aber ich fand, so ein Schutz war nicht nötig, und bat sie, den Platz zu verlassen“, sagt Giles Fraser, der sich für das „Recht auf einen friedlichen Protest“ ausspricht.
Unter den Geistlichen waren die Reaktionen jedoch gespalten, und als St Paul’s wegen „Gesundheitsschutz- und Sicherheitsbedenken“ für einige Tage schließen musste, wurde ein Gerichtsverfahren gegen die Demonstranten eingeleitet. Es kam zum Showdown im Sitz der Diözese London. Giles Fraser trat zurück, weil er fürchtete, dass es bei einer Räumung zu „Gewalt im Namen der Kirche“ kommen könnte. Die Church of England wurde wegen ihrer Reaktion stark kritisiert, was auch zum Rücktritt vom Dekan Graeme Knowles führte. Auch kritisierten Demonstranten die Geistlichen wegen deren „später Stellungnahme gegen die Profitgier in der Finanzwelt“ und forderten von der Church of England mehr Transparenz.
Der wahre Feind für die Occupy-Besetzer aber ist die City of London Corporation. Die Verwaltungsbehörde der City ist anders als alle anderen lokalen Verwaltungen Großbritanniens. Nach einem undemokratischen Wahlsystem werden den Firmen und Banken in der City Wahlrechte je nach der Zahl ihrer Angestellten zugeteilt. Diese Wahlrechte übersteigen bei Weitem die Zahl der Stimmen der einigen Tausend Einwohner der City und werden vor allem in den hohen Rängen der Konzerne verteilt. Der Lord Mayor, der höchste Posten der Corporation (nicht zu verwechseln mit dem Oberbürgermeister Londons), wird von „Aldermen“ gewählt. Um ein Alderman zu werden, muss man empfohlen werden oder Mitglied einer Gilde sein. Eine demokratische Wahl findet demnach nicht statt. Durch den „Remembrancer“, einen Vertreter mit festem Platz im Unterhaus, hat die City direkten Einfluss aufs Parlament. Anders als alle anderen kommunalen Körperschaf-ten besitzt die City ein privates Konto, über das womöglich Lobbytätigkeiten finanziert werden.
Dem durchschnittlichen Briten sind diese Fakten über die City of London Corporation, die außerdem ihre eigene Polizei hat, unbekannt. Denn die Corporation, die ja nicht nur von den ein Prozent regiert wird, sondern auch ausschließlich das Interesse der Superreichen vertritt, handelt bevorzugt hinter verschlossenen Türen. Doch durch Occupy London wurde die Öffentlichkeit neugieriger.
Die Bewegung fordert in einer öffentlichen Erklärung die Demokratisierung der Corporation: Sie soll sich endlich, genau wie andere Kommunalverwaltungen, dem Informationsgesetz unterwerfen. Außerdem erwarten die Demonstranten, dass die Corporation ein City-Geldkonto anlegt, ihre Lobbyaktivitäten der letzten Jahre publik macht und ihre Polizei der Metropolitan Police unterordnet. „Die City of London Corporation ist eine uralte, mittelalterliche Gemeinschaft, die die Interessen der internationalen Finanzwelt repräsentiert“, erklärt Nicholas Shaxson, Autor von Treasure Islands und Unterstützer der Occupy-Proteste. „Die Risikobereitschaft der Banken hat unser Leben in eine prekäre Lage versetzt. Sie sind nur vor sich selbst verantwortlich und beeinflussen die Regierungspolitik seit Jahrhunderten im In- und Ausland. Das ist keine Demokratie“, heißt es weiter in der Erklärung der Occupy-Bewegung.
Wenn die City of London Corpora-tion eine Räumung verlangt, werden die Demonstranten erst recht nicht verschwinden. Eine Zwangsräumung ist momentan unwahrscheinlich, und der rechtliche Weg dahin könnte Monate in Anspruch nehmen. St Paul’s versicherte unterdessen, es werde keine Räumungen auf dem Besitz der Church of England geben. Falls die City of London Corporation doch noch eine Zwangsräumung durchbringt, werden die Demonstranten ihre Zelte wahrscheinlich einfach ein paar Meter näher an der Kathedrale, also auf dem Grundstück der Church of England, aufschlagen.
Dies würde wiederum den Eingang der Kathedrale blockieren, was die Verwaltung von Saint Paul’s während der Festtage unter Druck setzen könnte. „Ihr seid willkommen, hier zu bleiben, aber hoffentlich nicht für immer. Als Bewegung müsst ihr euch weiterentwickeln und wachsen“, meinte Giles Fraser in seiner Ansprache letzte Woche, kurz bevor die Glocken der Kathedrale 18 Uhr schlugen und das Ende der Räumungsfrist ankündigten.
Die Demonstranten haben sich wohl seinen Rat zu Herzen genommen: Am Tag danach besetzten sie eine leere Bankfiliale der UBS im Stadtteil Hackney. „UBS, ihr schuldet uns Geld!“, erinnert nun ein handgemaltes Transparent an der Wand des Gebäudes, in dem jetzt regelmäßig Vorlesungen, Kurse und Diskussionsrunden stattfinden. Die Einrichtung wurde von Occupy London in „Bank of Ideas“ umgetauft.