Ein Blick aus den Fenstern des Zuges auf der Jubilee Line, die am nordöstlichen Ende des Londoner Underground oberirdisch verläuft, verrät sofort, dass man sich weit vom Stadtzentrum befindet. Denn hier huschen alte Industriegebäude und Sozialwohnungen am Fenster vorbei, und die Menschenmengen, die sich im Zentrum in die U-Bahn-Wagen quetschen, bleiben hier aus.
Um so überraschender ist der Eindruck von der atemberaubenden Größe der Endstation in Stratford, zumal es dort von Menschen nur so wimmelt. Neben dem olympischen Dorf, das hier in Stratford rund um die Station langsam aus dem Boden wächst, gibt es noch eine andere Attraktion: das größte Einkaufszen-trum Europas.
Wie sich herausstellt, steuern die meisten Menschen in der Stratford Station auch das Westfield Stratford City Shopping Center an. Der Weg dorthin ist einfacher zu finden als der zum olympischen Dorf, und bevor man sich’s versieht, ist man mit der kaufwütigen Masse im 1,4 Mil-liarden Pfund teuren Shopping-Tempel, der 300 Läden, 50 Restaurants, drei Hotels („Shop then sleep“, schlägt Premier Inn vor) und 17 Kinoleinwände beherbergt. Vor einem liegen 175 000 Quadratmeter hell glänzender Boden, schrille Neonreklamen, bisweilen dröhnende Musik und unzählige Kubikmeter sterile Shoppingluft. „Where east meets Westfield“, beschreibt es eine Leuchtreklame. Westfield Stratford City besitzt sogar eine eigene App.
Das mag lächerlich klingen. Doch wer erst einmal versucht, den Ausgang aus dem riesigen Shopping-Labyrinth zu finden, ist dankbar für die Locate Me und die Wegeverzeichnisfunktionen der App, die einen von Shop zu Shop dirigiert. Sich in der Mall verlaufen – das wird nächstes Jahr eine der lukrativsten olympischen Disziplinen sein. Denn wer das olympische Dorf betreten will, muss erst einmal den Weg durch Westfield Stratford City finden.
Westfield schätzt auf ihrer offiziellen Web-Seite, dass bis zu 70 Prozent der geschätzten zehn Millionen Olympia-Besucher das Shopping Center durchstreifen werden. Es handelt sich dabei um die Zahl der Besucher, die mit öffentlichen Transportmitteln nach Stratford gelangen und sich gezwungenermaßen durch die Mall kämpfen müssen. Das Shopping Center, in dem bereits zur Mittagsstunde Leute auf den kalten Fluren sitzend ihr Fast Food genießen, weil alle Sitzplätze belegt sind, wird demnach als Herzstück der geplanten Regeneration des East End angesehen. Der kommerzielle Erfolg der Olympischen Spiele sowie die nachhaltige Entwicklung einer ganzen Vorstadt hängen so zu einem großen Teil vom Erfolg eines Einkaufszen-trums ab. Die British Olympic Asso-ciation hat die achte Etage des Shopping Center sogar zu ihrem Hauptsitz gemacht und wird von dort aus die Logistik- und Transportdienste der Spiele überblicken.
Großbritannien setzt große Hoffnungen in die Sportveranstaltung, denn die Wirtschaft stagniert. Seit 2005, als das Internationale Olympische Komitee London für die Olympischen Spiele und die Paralympics 2012 auswählte, diskutiert man über die olympische „Legacy“ und wie das Momentum der Spiele neue Investi-tionen in die arme Region im Osten Londons bringen könnte.
Um Business anzulocken, musste ein marktfähiges Emblem her. 2007 wurde das Logo der Spiele enthüllt; seit letztem Jahr tauchen auch zwei bizarre Maskottchen in Souvenirläden auf. Wenlock und Mandeville werden sie genannt und bestehen aus britischen und olympischen Symbolen, von denen einige nicht ganz glücklich getroffen sind (die Augen der Figuren stellen angeblich Kameras dar, die sehr an Grossbritanniens Liebe zur Großbritanniens erinnern). Doch am Wichtigsten ist wohl, dass die Figuren auf Tassen, Schlüsselanhänger und T-Shirts gedruckt werden. Plüschtiere gibt es jetzt schon in den offiziellen Team GB Shops (natürlich auch im Westfield Stratford zu finden) sowohl wie auch in großen Supermärkten zu kaufen. Schulen, die die Maskottchen für Sportfeste buchen wollen, müssen mehr als 800 Pfund hinblättern (soll eine Übernachtung für die Kostumträger nötig sein, steigt der Preis sofort auf über 1 700 Pfund). Die damalige Olympia-Ministerin Tessa Jowell beschrieb 2005 das Logo als „Kultmarke, die die Idee von 2012 zusammenfassen: integrative, einladende und diverse Spiele, die das ganze Land mit einbegreifen“. Dass sich viele Schulen diese Kosten jedoch nicht leisten können, ist klar.
Klar ist auch, dass sich mit Fairness und Sportsgeist allein kein Geld verdienen lässt, und so wirkt die Marketingkampagne des Locog (London Organising Committee of the Olympic Games and Paralympic Games) leicht schizophren: denn man will „High Street“-Investoren anlocken, die das verarmten East End in eine poshe Lifestyle-Nachbarschaft verwandeln und gleichzeitig Eigenschaften des Sports wie Fairness und Gemeinschaftsgeist fördern. Weniger inklusiv wirken die Spiele auf die Einbewohner oder die, die es in der Region werden wollen. Denn die Immobilienpreise schießen seit einigen Jahren drastisch nach oben.
Doch nicht nur in Stratford nimmt die olympische Gentrifizierung ihren Lauf, auch im Südosten Londons wird das Leben teurer. Demnach werden wohl viele Menschen die versprochene Neuentwicklung ihrer Nachbarschaft nicht miterleben, da sie sich das Leben dort nicht mehr leisten können.
Bei den Olympischen Spielen geht es angeblich hauptsächlich um den Sportsgeist, doch wie schon das Westfield Einkaufszentrum gezeigt hat, erwartet sich London 2012 hohe Erträge. Vor allem die Tourismusbranche soll neu angekurbelt werden. Winning: a tourism strategy for 2012 and beyond, heißt die Broschüre, mit der das Department for Culture, Media and Sport bereits 2007 Firmen über die Geschäftsmöglichkeiten der Spiele informierte. Neben den 85 Miliarden Pfund, die Tourismus jährlich einbringt, erwarte man sich zusätzliche Umsätze von 2,1 Milliarden in der Periode von 2007 bis 2017. Es sei also wichtig, London und Großbritannien als „must-see“ Ziele zu vermarkten. Die Schutzmarken VisitBritain und Visit London werden eng mit dem Locog zusammenarbeiten, Londons „etablierte Marke“ soll gestärkt werden.
Um eine Verdrängung des Binnenmarktes zu verhindern, soll die Nachricht „Open for business“ an Investoren vermittelt werden. Dies ist vor allem für die post-olympische Zeit der britischen Hauptstadt wichtig. Denn wer die nagelneuen Bauten des olympischen Dorfes verwalten soll, nachdem die Athleten abgereist sind, ist noch immer nicht ganz klar. Bis jetzt sind zum Beispiel alle Pachtverhandlungen für das olympische Stadion gescheitert und die Presse spricht bereits vom „white elephant“ des olympischen Dorfes, eine britische Redewendung für einen lästigen Besitz. Womöglich wird das Stadion umgebaut, sodass es für Fußball und Athletik-Events benutzt werden kann. Dafür würden jedoch wieder einmal beträchtliche Steuergelder benötigt.
Doch nicht nur die Sport-Events sollen Touristen anlocken. Neben den Olympischen Spielen wird auch eine „kulturelle Olympiade“ stattfinden. Und wer eignet sich am Besten für Brand Britain? Natürlich Shakespeare. So findet nächstes Jahr von April bis September das World Shakespeare Festival statt, bei dem in verschiedenen Städten Theatergruppen aus aller Welt auftreten. Auch Events wie BT River of Music an der Themse und unzählige Olympia-bezogene Foto- und Kunstausstellungen sollen Besucher anlocken.
Doch dieses Angebot an Events wird das öffentliche Transportnetz strapazieren. Der Arbeitsweg in die Hauptstadt ist für Pendler bereits ohne riesige internationale Events nervenaufreibend, und die Londoner seufzen jetzt schon beim Gedanken an die womöglich noch volleren Tube-Züge des nächsten Sommers. Gerechnet wird mit zusätzlichen 800 000 Passagieren im Netzwerk. Trotz des Tube upgrade plan, durch den Züge und Tunnel – von denen einige über 140 Jahre alte sind – an Wochenenden ausgebessert werden, befürchtet man Störungen und Unterbrechungen. Transportminister Norman Baker riet Pendlern schon, während den Spielen andere Wege einzuschlagen, die Rush Hour zu meiden, sich ein Fahrrad zuzulegen oder sogar von zuhause aus zu arbeiten.
Neben Störungen im Transportnetz müssen die Londoner aber auch mit Problemen in der Kommunikation rechnen. Londons Bürgermeister warnte die Einbewohner der Hauptstadt kürzlich vor einem Zusammenbruch des Telekom-Netzes, der sich zum Beispiel während des 100-Meter-Laufs der Männer nächstes Jahr ereignen könnte. Man setze jedoch alles daran, die Reichweite des Netzes bis nächstes Jahr zu verbessern.
All dies wird wohl viele Londoner dazu bringen, während den Olympischen Spielen zu verreisen – genau wie im April dieses Jahres, als sie rechtzeitig vor dem Touristenansturm zur königlichen Hochzeit ins Ausland oder an die heimischen Küsten flohen. Für diejenigen, die nicht weg können und sich auch nicht für die Spiele interessieren, werden diese wohl, wie ein Journalist vom Evening Standard es beschrieb, ein „giant, very expensive pain in the bum“ sein. Falls die gewünschten Touristenscharen, Shopper und Investoren ausbleiben, könnte auch Brand Britain die Olympischen Spiele bedauern.