Am letzten Sonntag ging die zwölfte Architekturbiennale in der Serenissima zu Ende. Leiterin war die Japanerin Kazuyo Sejima. Die global tätige Architektin ist in der dreißigjährigen Geschichte der Architekturschau die erste Frau in diesem Amt. Gemeinsam mit Ryue Nishizawa betreibt sie das Architekturbüro Sanaa, das 2010 den Pritzker-Preis erhalten hat, den wichtigsten Architekturpreis überhaupt. Nach den Biennalen von 2006 und 2008, die versuchten, „Stadt, Architektur und Gesellschaft“ sowie „Architektur jenseits des Bauens“ auszustellen, lautete der Titel diesmal „People meet in Architecture“. Diplomatisch ausgedrückt handelt es sich um einen „unprätentiösen Leitgedanken“1. Menschen treffen sich in Architektur? Regnet es etwa in Venedig?
Mit der Doppelausstellung im Arsenal und den Giardini illustrieren die Kuratoren ihr Thema und bestimmen damit einen Trend. Den nationalen Beiträgen und Begleitveranstaltungen steht es frei, den Titel aufzugreifen oder etwas anderes zu zeigen. Wegen dieser Vielschichtigkeit ist der Besuch der Biennale immer wieder aufschlussreich, auch wenn Länder wie die Türkei, Indien oder Südafrika fehlen2. Die beiden vorigen Biennalen der Theoretiker Richard Burdett und Aron Betsky hatten es darauf angelegt, über den Platz der Architektur in der Gesellschaft zu reflektieren. Das hieß, die Architektur von städteplanerischen, soziologischen, wirtschaftlichen, philosophischen, politischen und künstlerischen Standpunkten her unter die Lupe zu nehmen, und den eigenen Diskurs zu erweitern. Damit war dieses Jahr Sense. Die einzigen Gattungen, die jenseits der Architektur einbezogen wurden, waren Kunst und Film.
Seit Catherine Davids Dokumenta X in Kassel sieht man regelmäßig Arbeiten von Architekten auf Kunstausstellungen. In letzter Zeit öffnen sich auch Architekturausstellungen zunehmend der Kunst. Kazuyo Sejimas Schau zeigt neben den Architekten neun Künstler, den Kunstkurator Hans Ullrich Obrist und den Filmemacher Wim Wenders. Obrist hat sämtliche Teilnehmer der Biennale interviewt und präsentiert das aufgenommene Videomaterial in einem Raum des Arsenale. Walter Niedermayer zeigt Fotos des öffentlichen Raums und klassischer Gebäude im Iran, während die Italienerin Luisa Lambri mit ästhetischen Bildern den Schnittpunkt zwischen minimalistischer Architektur und tropischer Vegetation festhält.
Tom Sachs beschäftigt sich kritisch mit dem Erbe von Le Corbusier. In einer überzeugenden Installation im Palazzo delle Esposizioni hat er unter anderem die Villa Savoye und die Hochhäuser des Plan Voisin als gewollt grobe Modelle nachgebaut. Bei der Arbeit der kanadischen Klangkünstlerin Janet Cardiff kann der Ausstellungsbesucher sich zwischen 40 Lautsprechern hin- und herbewegen, die je eine einzeln aufgenommene Chorstimme wiedergeben. Die Installation ist ein beeindruckendes Klangerlebnis, bringt Abwechslung in den Parcours, hat aber nichts mit Architektur im engeren Sinne zu tun, und beschäftigt sich auch nicht mit dem spezifischen Raum der Corderie. Die gleiche Bemerkung gilt für Olafur Eliassons dunklen Feuchtraum, in dem Gummischläuche herumspritzen und stroboskopisch beleuchtet werden, sowie für die künstlich erzeugte Nebelwolke im Arsenal, von Transsolar [&] Tetsuo Kondo Architects produziert. Solche Spezialeffekte sind spektakulär und publikumswirksam, aber das sind Geisterbahnen bekanntlich auch. Bringen sie uns außer Unterhaltung auch Erkenntnisse?
Kazuyo Sejima hat zwei Filme über von ihr entworfene Gebäude in Auftrag gegeben. Wim Wenders drehte den 3-D-Film If Buildings Could Talk... über das Rolex Learning Center in Lausanne, der gleich am Anfang des Arsenale gezeigt wurde, gleichsam als Ersatz für ein Manifest. Den zweiten Film, Cloud Island, über eine Reihe von Ausstellungsräumen auf der japanischen Insel Inujima hat die Künstlerin Fiona Tan gedreht. Er wurde im Palazzo degli Esposizioni in den Giardini gezeigt. Wenders und Tan garantieren eine makellose Kameraführung, schöne Bilder und perfekte Montage. Aber reicht das? Bei Fiona Tans Film werden die minimalistischen Ausstellungsräume, die über die Insel verteilt sind, beeindruckend aus der Vogelperspektive gefilmt, während einige Inselbewohner aus der Nähe und ohne jeden Text porträtiert werden. Eine Idylle von Mensch, Natur und Architektur! Man hätte gleich Lust einen Flug dorthin zu buchen. Über das Leben der Menschen, ihre Probleme, ihre Geschichte, über die wirtschaftlichen und sozialen Zustände gibt es jedoch genau so wenig Informationen, wie über die Auftraggeber für die Gebäude und ihre Motivationen. Handelt es sich auch hier um einen Gentrifizierungsprozess bei dem Architektur und Kunst eifrig mitmischen? Man erfährt es nicht.
Ähnlich nichtssagend ist Wim Wenders Film, „der die Architektur als eine von verklärten Gesichtern angehimmelte Ausnahmeerscheinung beschwört, bewispert von nichts weniger als Wellnessklängen“3. Wolf D. Prix, Mitbegründer von Coop Himmel-b(l)au kommentiert: „Der Film gleicht eher einem Hochamt, in dem Priesterinnen im Kimono schauerliche Banalitäten von sich geben.“4 Dem ist nur hinzuzufügen, dass eine Woche vor Schluss der Film nur noch verschwommen anzusehen war, weil der Biennale offenbar die 3-D-Brillen ausgegangen waren. Abnutzungserscheinungen durch Massenkonsum, was eigentlich Thema des sehr gelungenen belgischen Beitrags war.
Wie bei jeder Ausgabe gab es auch diesmal einige Kontrapunkte. Dazu gehören die analytischen und spielerischen Stadtmodelle des Studio Andrea Branzi sowie das riesige Modell eines „ruralen Urbanismus“ von Aldo Cibic. Eine der seltenen Beiträge, die sich mit Konflikten beschäftigen, ist die Installation von Caruso St. John und Thomas Demand über ein so genanntes Nagelhaus in China. Es handelt sich um die Geschichte eines Hausbesitzers, der sich weigerte, sein Haus zu räumen und einer Baustelle für Hochhäuser Platz zu machen. Die Promotoren begannen trotzdem, zu graben und die Erdmassen zu entfernen. So blieb das Haus samt Bewohner wie ein Nagelkopf auf einer Säule in der Leere stehen. In der sonst heilen Architekturwelt der Ausstellung wirkte die Arbeit wie eine isolierte Anekdote.
Offene Fragen, Fakten und Analysen fand man in einigen nationalen Beiträgen. Singapur stellte sein Konzept der Verdichtung von Architektur mit einem etwa zwanzig Meter langen Modell und Fotos vor, überdacht von einem temporären Pavillon. Hong Kong, das bereits sehr verdichtet ist, informierte über das geplante New Cultural District West-Knowlown. Bahrain bekam den Preis für den besten nationalen Beitrag. Das Königreich hatte Fischerhütten nach Venedig transportiert. Architektur ohne Architekten. In Videos erzählen die Fischer von ihrem Leben und ihren Problemen, wie der Überfischung und der Betonierung des Strandes. Eigentlich hätte man angesichts des Titels der Biennale mehr solche anthropologische Beiträge erwartet. Der niederländische Beitrag wies auf ein gravierendes Problem hin: Tausende Gebäude stehen in Holland leer, während munter weitergebaut wird. Wäre es nicht sinnvoll, die existierende Bausubstanz zu nutzen?
Cronochaos ist eine Ausstellung in der Ausstellung des Palazzo delle Esposizioni. Zwei von Rem Koolhaas/OMA bespielte Räume hinterfragen provokativ die Kriterien für die Erhaltung von alten Bauwerken und Territorien, die von der Unesco geschützt werden und somit sämtlichen Bauvorhaben entzogen werden. OMA (Office for Metropolitain Architecture) behauptet, heute wären 12 Prozent der Erdoberfläche geschützt, Tendenz steigend. Das sei ein Hindernis für Entwicklung und Fortschritt und geschehe ohne jede theoretische Basis. Es gehe heute darum, eine Theorie zu entwickeln, die es erlaube zu entscheiden, welche Teile einer Stadt erhalten werden müssen und welche zerstört werden sollen. Die Ausstellung der Problematik ist professionell mit Zitaten, Bildern und Objekten präsentiert, wie man das von OMA gewohnt ist. Subtil die Installation mit den Möbeln, die der Nazi-Architekt Paul Ludwig Troost für das Münchener Haus der Kunst entworfen hatte und die nach 1945 im Keller verschwanden. Fast alle Kommentare der Fachpresse waren begeistert, und Koolhaas bekam einen goldenen Löwen für sein Lebenswerk.
Es ist beeindruckend, wie er es fertig bringt an allen großen Baustellen der Welt von Peking bis Dubai dabei zu sein und gleichzeitig jeweils einen ideologischen Überbau zu konstruieren, der Fragen aufwirft, im Endeffekt aber seine Bautätigkeit rechtfertigt. Es stimmt, dass es zur Zeit keine kohärente Theorie für eine Strategie der Erhaltung gibt. Bei den Unesco-Entscheidungen handelt es sich eher um einen Reflex, der versucht, den Raubbau des Planeten zu verlangsamen. Was wo weltweit zerstört und gebaut wird, ist ja auch nicht Resultat von Theorien oder von demokratischen Entscheidungen, sondern das Resultat unkontrollierter Kapitalakkumulation und liberaler Wirtschaftspolitik. Nehmen wir als Beispiel Venedig. Dort hat der kapitalstarke Benetton-Konzern gleich neben der Rialto-Brücke einen 1228 erbauten Handelshof aufgekauft, und das Postamt geschlossen. Das denkmalgeschützte Gebäude soll zu einem „Konsumtempel“ umgebaut werden, zu einem „kulturell bespielten Warenhaus“. „Der Entwurf sieht eine riesige Terrasse mit Blick auf den Canal Grande vor. Zwei Seiten des Dachs werden dazu abgerissen. (...) Die Mischung aus Luxus-Kaufhaus und Raum für öffentliche Veranstaltungen ziele darauf ab, die venezianische Tradition der Verbindung von Kultur und Kommerz wieder aufleben zu lassen“5.
Wundert es jemand, dass das für diese Vorhaben auserkorene Architekturbüro OMA/Rem Koolhaas heißt? Vielleicht liefert das Büro für die nächste Biennale eine interessante Studie über die Vertreibung von weniger wohlhabenden Einwohnern aus den Stadtzentren und die Verwandlung historischer Städte in spektakuläre Kommerz-Zentren. Denn Koolhaas und OMA nennen die Dinge beim Namen – und machen trotzdem mit! Im Rückblick auf frühere Zeiten mit mehr sozialem Engagement schreiben sie in Cronochaos: „Wenn wir heute aber experimentieren, so tun wir es aus eigenem Antrieb und für uns selbst. Damals tat man es mit anderen und für andere – die Menschen.“
Der Rückzug der Biennale auf architekturimmanente Positionen wurde von mehreren Kritikern hinterfragt. Ist die Verdrängung von gesellschaftlichen Problemen und die Rückkehr zu einer heilen Architekturwelt etwa eine Reaktion auf die Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise? Die Tatsache, dass die Hauptausstellung Kazuyo Sejimas gesellschaftliche Themen ausklammerte, führte zu einer stärkeren Beschäftigung mit Gebäuden an sich. Was wiederum die Zurschaustellung einer Fülle von mehr oder weniger voluminösen Modellen nach sich zog, wie man sie lange nicht mehr in Venedig gesehen hatte.
So füllte Toyo Ito einen ganzen Raum mit mehreren Modellen seines Taichung Opera House in Taiwan. Modelle gab es auch von Architecten de Vylder Vinck Tailleu, Studio Mumbai Architects, Mark Pimlott + Tony Fretton Architects, Valerio Olgiati, AMID.cero9, Aires Mateus e associados, Lina Bo Bardi, Sou Fujimoto Architekts, und Pezo von Ellrichshausen Architects. Sogar das japanische Avantgarde-Duo Atelier Bow Wow, das 2007 in Luxemburg einen Workshop für Trans(ient) City abhielt, präsentierte diesmal Modelle von Einfamilienhäusern. Dieser Modell-Effekt multiplizierte sich in den nationalen Beiträgen, die sich am Thema People meet in architecture orientierten.
Am Thema orientierten sich auch Luxemburg und Portugal, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Beide Länder bespielen Ausstellungsräume in der Stadt Venedig außerhalb der Giardini und des Arsenale. Den luxemburgischen Pavillon gestaltete die von der Architektur-Stiftung6 ausgewählte Architekten-Gruppe KadapaK. Das theoretische Konzept ihres Beitrags war konfus und symbolisch überladen: „L’architecture c’est du sentiment“. „The themes covered are: the culturel context, the landscape of consumption, the cycle of things, relevance and decline, the balance of power between players, notions of permanence, of ephemerality, the value of space in contrast with the place and the scaleof human beings, the dimension of the everyday...“7.
Konfuse Ideen führten zu einer inkohärenten Ausstellung mit sechs gekünstelten Installationen, und Peinlichkeiten wie über Kaffeetassen schwebenden Zuckerwürfeln. In Luxemburg gibt es gute Architekten. Wäre es nach vier Biennale-Beteiligungen nicht an der Zeit einzusehen, dass Venedig nicht als Gelegenheit missverstanden werden sollte, bei der sich Architekten als Hobbykünstler versuchen dürfen?
Man könnte zum Beispiel von Portugal lernen. Hier waren Konzept und Display der Ausstellung einfach, klar und übersichtlich: Vier Häuser, vier Filme. Vier sehr unterschiedliche Bauten von Ricardo Bak Gordon, Carilho da Graça Aires Mateus und Alvaro Siza Viera wurden von vier Filmemachern dokumentiert und interpretiert, und jeweils mit einem Architekturmodell dargestellt. Am gelungensten war Filipa Cesars8 schlichter Film über eine Siedlung von Alvaro Siza in Bouça aus den Siebzigerjahren. Der Architekt erzählt von den politischen Problemen, den Bau fertig zu stellen. Rechtsextreme ließen damals Bomben in seinem Auto und seinem Büro hochgehen. Dieser Beitrag stellt die Architektur in einen gesellschaftlichen Kontext. Eine Wohltat in einer Biennale, die uns insgesamt als Rückzug in die Häuser erscheint.
Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au bringt es auf den Punkt: „Was wäre das für eine Architektur-Biennale geworden, hätte man statt einer langweiligen Ausstellung Foren etabliert, Themen lanciert, die uns alle hinter die Kulissen der Entscheidungen blicken ließen. Zum Beispiel der Streit um den Bahnhof in Stuttgart. Die Hinter- und Vordergründe der Kostenexplosion der Elbphilharmonie. Der politische Streit um Moscheen und Minarette, die ja nichts anderes sind als die Verortung einer Idee. Warum der Einfamilienhausmarkt in Amerika zusammengebrochen ist und wie in Israel mit Siedlungsarchitektur Machtpolitik betrieben wird. Und so gäbe es noch 1 000 brisante Probleme, die zu diskutieren lohnen würde.“9