„Ich glaube nicht an den totalen Neuanfang. Es muss darum gehen, eine Balance zwischen Erneuerung und Erfahrung zu finden.“ Es ist ein kleiner Seitenhieb auf den ehemaligen Koalitionspartner LSAP, die ihre Wahlkampagne unter den Slogan „Neiufank“ gestellt hatte. Er kommt von Claude Wiseler, ehemals Superminister für Transport, öffentliche Bauten und nachhaltige Entwicklung, seit Oktober CSV-Abgeordneter sowie beigeordneter Fraktionspräsident. Und in der Opposition.
Am 7. Februar ist Nationalkongress, dann sollen wichtige Weichen für die Oppositionsarbeit gestellt werden. Eine Personalie steht schon fest: Der Bettemburger Bürgermeister Laurent Zeimeit kandidiert erneut als Generalsekretär. Bisher hat sich die CSV mit deutlicher Kritik an der DP-LSAP-Déi-Gréng-Regierung zurückgehalten. Selbst zur viel kommentierten Dienstwagenaffäre von LSAP-Staatssekretärin Francine Closener wurde geschwiegen. „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, gibt Wiseler das Dilemma zu, in dem sich die CSV befand. Er wolle keine Polemik machen: „Glaubwürdige Opposition muss bei den Inhalten ansetzen.“
Die spitze Bemerkung Wiselers ist auch ein deutlicher Fingerzeig gegenüber den eigenen Reihen. Lange war es ruhig geblieben. Doch rund drei Monate nach den vorgezogenen Wahlen rumort es kräftig innerhalb der Partei. Die Chrëschtlech-Soziale Vollekspartei feiert ihr hundertjähriges Bestehen. Aber Feierlaune will nicht so richtig aufkommen, und das hat nicht nur mit der Schwierigkeit zu tun, sich nach über 30 Jahren Regierungsbeteiligung in der Opposition wiederzufinden. Nachdem die DP es vorgezogen hatte, mit den Sozialisten und den Grünen eine Regierung zu bilden, fielen die Reaktionen seitens der CSV äußerst schmallippig aus. Man sei immer noch die stärkste Partei im Land. Deshalb wäre es nur richtig gewesen, wenigstens ein Gesprächsangebot zu Verhandlungen zu bekommen, schmollte die CSV-Leitung düpiert.
Eine kleine Gruppe von jungen Mitgliedern wollte den einseitigen Schuldzuweisungen der Parteispitze nicht folgen. Als sich auf Twitter und Facebook die genervten Kommentare häuften, Außenstehende über das „Mimimi“ von Parteipräsident Michel Wolter spotteten, forderten sie, mit dem Selbstmitleid aufzuhören. Zunächst auf einer Podiumsdiskussion, die die Monatszeitschrift Forum kurz nach den Wahlen moderiert hatte. Auf dem Podium saßen der wiedergewählte Zentrumsabgeordnete und noch CSJ-Präsident Serge Wilmes, Julie Wieclawski, CSJ-Mitglied und schlagfertige Jurastudentin. Und Pierre Lorang, ehemaliger Wort-Journalist und beigeordneter Generalsekretär, der sich öfters mit kritischen Analysen zu seiner Partei hervorgetan hat. Die Debatte verlief angeregt, richtige Wellen schlug sie aber erst, als ein digitaler Tonmitschnitt sich in Windeseile im Netz verbreitete.
Es sollte fast neun Wochen dauern, bis sich erneut (selbst-)kritische Stimmen zu Wort meldeten: Beim Dreikönigstreffen der Jugendorganisation am 4. Januar im Restaurant Vitarum bei Mersch diskutierten CSJ-ler und CSJ-Veteranen sechs Stunden lang über ihre Partei. Ihr Credo: nicht jammern, sondern die eigenen Fehler analysieren und daraus für die Zukunft lernen. „Wir haben bewusst einen informellen Rahmen gewählt“, so Initiator Charel Schmit. Ziel sei gewesen, einen „verbindlichen Diskussionsprozess in Gang zu bekommen, ohne personalpolitische Veto oder programmatische Tabus“.
Das Ziel ist allerdings nicht sehr realistisch. Bisher waren die öffentlichen Reaktionen jedenfalls verhalten. Er habe ein „konstruktives Gespräch“ mit den Organisatoren geführt, sagt Claude Wiseler dem Land. „Es gibt Redebedarf und das ist gut so”, so Wiseler. Marc Spautz, der für den Posten des scheidenden Parteipräsidenten Michel Wolter kandidiert, stößt ins selbe Horn: „Die CSV muss sich nach den Wahlen neu aufstellen. Das war noch immer so.“
So normal scheint der Vorgang aber nicht zu sein. Teilnehmer des Dreikönigtreffens berichten von „positivem Feedback der Basis“, wiederum andere seien von der Parteispitze zurecht gewiesen worden, wenn schon Kritik, diese dann gefälligst intern zu äußern. Claude Wiseler gibt den Vermittler: Es sei das „Recht der Jugend, Fragen zu stellen“, man wolle „offen reden“. Die Zeit in der Opposition wolle er dafür nutzen, diesen „Denkprozess zu organisieren“. Allerdings sieht es nicht so aus, als werde die neue Offenheit sehr weit gehen. Wiseler zufolge gehen die Reflexionen nach dem Nationalkongress „erst richtig los“. Es seien „Fehler gemacht worden“, räumt Wiseler auf Nachfrage ein. Welche, will er nicht verraten. Stattdessen bedauert er den zeitlichen Druck, der oft eine „ausführlichere Kommunikation“ verhindert habe, spricht von „komplexen Vorgängen, die sich nicht in 30 Sekunden resümieren“ lassen. Wie Spautz und Generalsekretär Laurent Zeimet betont Wiseler, dass die Basis „selbstverständlich in die Debatte eingebunden“ gehöre und dass „die Beziehung zwischen Parteihierarchie und Basis neu definiert werden muss“. Entscheidungen aber „sollen weiterhin da gefällt werden, wo sie hingehören: intern in den Gremien“.
Das klingt nicht wirklich nach Erneuerung. Basisdemokratische Ansätze, wie sie andere Parteien zunehmend anwenden und wie sie Teilnehmer der Forum-Diskussion anregten, eine Urabstimmung zu programmatischen Fragen oder zu Kandidaturen, scheint der CSV-Spitze fern zu liegen. Dabei entfalten inhaltliche Kritiken durch soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter zwangsläufig ihre eigene Dynamik. Dort diskutieren insbesondere junge Leute auch über die CSV – egal, wie die Parteispitze das findet. Sie bekommt es vielleicht nicht mal mit: Nur wenige CSV-Abgeordnete sind dort aktiv.
Es gibt andere Retizenzen. Während die eine Seite ohne „falsche Scheuklappen“ über die parteiliche Zukunft debattieren und beispielsweise auch das Verhältnis zum Christentum und zur Kirche hinterfragen will, äußern sich andere zurückhaltend. „Ich denke nicht, dass wir an dem Punkt sind, das C in unserem Parteinamen in Frage stellen zu müssen“, findet Marc Spautz. Verhältnisse wie in Belgien, wo sich die flämischen Christ-Demokraten nach langen Diskussionen in Zentrumsdemokraten umbenannten, sieht er in Luxemburg nicht. Spautz fordert ebenfalls, solche Fragen intern zu besprechen.
Nur werden dann auch die kritischen gestellt – oder geht es den Etablierten darum, die Kontrolle über die Kritiken und Debatten zu behalten? Je nachdem, wem man zuhört, klingt es mal wie eine tiefere Identitätssuche, die möglichst breit organisiert werden soll. Und mal wie ein lästiger Schnupfen, von dem einige hoffen, ihn mit ein paar Hausmittelchen und ohne grundlegende Änderungen rasch wieder loszuwerden. Mit der Kandidatur Zeimets dürfte die Stoßrichtung klar sein: Der alte, und womöglich bald neue, Generalsekretär hat sich seine ersten politischen Sporen ebenfalls in der CSJ verdient, er gilt aber als linientreu und Ziehsohn von Michel Wolter. Im Land-Gespräch unterstreicht der ehemalige Wort-Journalist die „gute Zusammenarbeit“ mit dem scheidenden Parteipräsidenten, obwohl dieser mit seiner Attacke auf den Quellenschutz für erheblichen Missstimmungen in der Presse beigetragen hat – für eine Oppositionspartei, die, will sie mit ihren Positionen die breite Öffentlichkeit erreichen, mehr als andere auf ein gutes Verhältnis mit den Medien angewiesen ist, wahrlich kein guter Start.
Auch deshalb hatten die Organisatoren ihr Treffen in die Öffentlichkeit und insbesondere ins Luxemburger Wort getragen. Sie wollten Druck erzeugen, haben Redebedarf und zwar beträchtlichen. Vielen sitzt noch quer, wie sich die Parteispitze in den Sommermonaten verhalten hat. Dass niemand einen Fehler eingestanden, Verantwortung für die Misere übernommen hat. Parallel entlädt sich noch ein anderer Frust: der, vom Establishment der Partei übergangen und nicht genügend gehört zu werden.
Es ist ein Generationenkonflikt insofern, als die Kritik vor allem aus den Reihen der CSJ kommt. Aus der Fraktion wagte sich bisher Serge Wilmes am weitesten vor. Wilmes will den Vorsitz der CSJ abgeben und galt bis zum gestrigen Donnerstag ebenfalls als Kandidat für den Posten des Generalsekretärs – nachdem er die Abstimmung vor zwei Jahren gegen Laurent Zeimet verloren hatte. Mit Zeimets erneuter Kandidatur dürften sich Wilmes Ambitionen erledigt haben. Wilmes war auch beim Dreikönigstreffen. Organisator Charel Schmit, zwischen 1998 und 2002 CSJ-Präsident, ist mittlerweile in keinem Gremium mehr vertreten, gehört wie Pierre Lorang aber zu jenen Mitgliedern, die im Hintergrund oft kritische Fragen stellen – bereits bevor die CSV im Sog der Affären unterzugehen drohte. Während ihre Generation in den anderen Parteien steile politische Karriere macht, gingen sie leer aus. In der Forum-Debatte hatte Lorang darauf hingewiesen, dass CSV-Delegierte insbesondere bei Themen wie partizipativer Demokratie eher schwach abschneiden.
Am autokratischen, paternalistischen Führungsstil eines Jean-Claude Juncker oder Michel Wolter stoßen sich gerade die Jungen, und dies nicht erst seit den Wahlen. In einem internen Reflexionspapier der CSJ werden „regelmäßige Kontakte zwischen der CSJ-Basis und der CSV-Führung gefordert“, die „gegenseitige Achtung und Zuneigung“ fördern sollen. Weil sie keinen Zugang zu inneren Zirkeln der Partei haben, würden viele CSV-ler ihre „Erleuchtung ausschließlich auf das berüchtigte Hörensagen und vereinzelte Wissensfetzen basieren“. Dies führe zu einer „unglaublichen Vergeudung an potentiellen Ideen und Zukunftsvisionen“ und dazu, dass „Personen nach einiger Zeit ihre Tätigkeit frustriert einstellen, da sie keinen Sinn darin mehr sehen“. Das Papier habe man 2009 verschickt, aber bis heute keine Antwort erhalten, sagt Serge Wilmes auf Land-Nachfrage. Seitdem hat mancher die aktive Parteiarbeit eingestellt. Bei denen, die geblieben sind, ist die Geduld zunehmend erschöpft.
Mit der Wahlniederlage witterten die Kritiker in der CSV Morgenluft – mit der Kandidatur Zeimets dürfte ihr Optimimus aber einen Dämpfer erhalten haben. Im Augenblick sieht es ganz danach aus, als hätten sich die etablierten Kräfte und der alte Führungsstil, mit Absprachen im Hinterzimmer fernab von der Basis, noch vor dem Nationalkongress durchgesetzt. Zeimet mag jung sein, aber hinter ihm steht das Old Boys-Netzwerk der CSV, das den ehemaligen Staatsminister bis zuletzt ostentativ gestützt hat, auch dann noch, als der Kampf längst verloren war.
Apropos: Jean-Claude Juncker hatte vor den Wahlen und auch danach versucht, den Eindruck zu erwecken, er werde sich nun ganz der nationalen Politik widmen. Doch kaum als Fraktionspräsident im Amt, füllt der „freie Mann“ die Schlagzeilen mit seinen immer verzweifelter wirkenden Versuchen, doch noch einen europäischen Spitzenposten zu ergattern. Offiziell unterstützt die Partei Junckers Kurs. Aber es gibt auch hochrangige Mitglieder, die sich hinter vorgehaltener Hand nichts sehnlicher wünschen, als dass sich die Personalie „hoffentlich bald endgültig klärt“. Wie einst Helmut Kohl bei der deutschen CDU wirft Junckers politisches Format einen Schatten auf die Partei, riskiert zunehmend zur Belastung zu werden.
Bloß: Was wäre die Alternative gewesen? Juncker war und ist noch immer das Zugpferd der Partei, seine 55 000 persönlichen Wählerstimmen belegen das eindrucksvoll. Eine umfassende personelle und programmatische Erneuerung ist auch deshalb sehr unwahrscheinlich, weil zu den 10 000 Mitgliedern viele Juncker-Anhänger zählen, die ein Absetzen ihres Stars übelnehmen würden. Es war zudem Juncker, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich die Partei gesellschaftspolitischen Themen, wie der Homoehe und Abtreibung, geöffnet hat, trotz kräftigem konservativ-katholischem Gegenwind. Dennoch stellt sich die Nachfolgerfrage mit neuer Dringlichkeit, zumal der Stern des Ex-Finanzministers und Zentrumsabgeordneten Luc Frieden durch die Cargolux-und Bommeleeër-Affäre deutlich gesunken ist. Als potenzielle Nachfolger kursieren derzeit die Namen Claude Wiseler, Martine Hansen und Marc Spautz. Sie alle haben Juncker ihre politische Karriere zu verdanken, was auch erklärt, warum eine grundlegende Neubelebung der Partei mit ihnen kaum kommen dürfte.
In der Fraktion will man zu Personalfragen momentan keine Stellung beziehen. Lieber wird auf die Herausforderungen hingewiesen. „Opposition ist eine Opportunität“, sagen Marc Spautz und Claude Wiseler unisono. Es klingt fast so, als müssten sie sich selbst überzeugen. Mehrheiten zu beschaffen für Gesetze, die man selbst geschrieben hat, ist einfacher, als Alternativen aufzuzeigen. Die CSV hält jedoch einen Trumpf in der Hand, den die Regierung nicht hat: Als ehemalige Minister verfügen etliche CSV-Politiker über ein Insiderwissen, das ihnen in der Opposition nützlich werden könnte. Und die hundert Tage Schonzeit gelten auch für sie.
Eine schlagkräftige Opposition setzt eine klare Aufgabenverteilung voraus – und Politiker, die Kante zeigen. Juncker hat betont, sich nicht den Europawahlen stellen zu wollen. Stattdessen hat sich seine Gegenspielerin aus alten Tagen, EU-Justizkommissarin Viviane Reding, geschickt als Spitzenkandidatin für Brüssel in Position gebracht. Für Luxemburg muss sich der Kandidat, die Kandidatin erst noch aus der Deckung wagen.