Zwei Jahrzehnte nach der Implosion des Ostblocks droht vielleicht als Langzeitfolge dem Westblock ein ähnliches Schicksal. Von London bis Lesbos zeigt die Europäische Union Risse, von denen derzeit niemand sagen kann, ob sie langfristig gekittet werden können.
War unter Jean-Claude Juncker Europapolitik stets Chefsache, so nutzte Außenminister Jean Asselborn diese Woche die Gelegenheit seiner außenpolitischen Erklärung, um das hierzulande Unvorstellbare vorsichtig zu benennen: dass die Tage der Europäischen Union, so wie wir sie kennen, gezählt sein könnten.
Die Eurokrise und nun die Migrationskrise, verbunden mit der Instabilität in der europäischen Nachbarschaft, hätten „die Europäische Union ernsthaft ins Wackeln gebracht“, meinte Jean Asselborn am Dienstag in seiner außenpolitischen Erklärung vor dem Parlament. Es habe sicher auch in der Vergangenheit Probleme in Europa gegeben, „aber man war vielleicht noch nie so zerrissen wie heute“. Man habe vielleicht über Agrarpreise und den Haushalt gestritten, „doch nie waren wir in einer Lage, in der unsere Grundwerte und Prinzipien so in Frage gestellt wurden wie heute“.
Einige Ursachen nannte der Minister: Die Divergenzen zwischen dem Norden und Süden, zwischen östlichen und westlichen Mitgliedstaate, gefährliche Tendenzen von Populismus und Nationalismus in vielen Staaten, wichtige Prinzipien der Integration würden mit Füßen getreten und die Zukunft Europas werde leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. Die Zukunft und Integrität der Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums seien gefährdet, doch „wenn Schengen auseinanderbricht, dann steuert die Union wieder auf eine große neue Wirtschaftskrise zu“. Hinzu kämen die Diskussionen über einen möglichen EU-Austritt Großbritanniens.
Andere Ursachen nannte der oberste Diplomat lieber nicht: Eine im Zeichen der gemeinsamen Währung institutionalisierte Austeritätspolitik, die besonders in Südeuropa zu Massenverelendung führte und Millionen Menschen gegen die einst als Traum von Frieden, Völkerverständigung und Wohlstand angesehene Europäische Union aufbrachte. Eine wirtschaftspolitische Radikalisierung der EU-Politik und eine Politik der Europäischen Zentralbank, die lange die Wirtschaftskrise verschärfte und noch heute für die schwache Konjunktur mitverantwortlich ist. Eine deutsche Hegemonie, die in der griechischen Schuldenkrise und dann in der Migrationskrise die einen Mitgliedstaaten in den Staub trat und die anderen sowie die europäischen Institutionen zu einer Zuschauerrolle verurteilte.
„All diese kombinierten Krisen“, warnte der Minister, „zusammen mit der Gefahr eines Grexit, sind ein explosiver Cocktail für Europa und könnten einen Schock verursachen, von dem sich die EU nur noch schwer erholen könnte.“
In Zeiten des Neoliberalismus ist es nicht bloß die Londoner City, die findet, dass die Europäische Union sich auf eine kontinentale Freihandelszone beschränken soll und die nach dem Zweiten Weltkrieg angestrebte politische Integration nach der Erfindung des schlanken Staats überholt sei. Doch die Europäische Union ist das Herzstück der Luxemburger Außenpolitik, weil das Land ihren Markt für seine Exportindustrien braucht und ihre Institutionen benötigt, die nicht nur vom Recht des Stärkeren beherrscht werden. Deshalb war das Parlament bis auf moralisierende Appelle auch so gut wie unfähig, nach Jean Asselborns Warnung das Unvorstellbare, die Folgen eines möglichen Zerfalls der Europäischen Union zu diskutieren, an dessen Ende Luxemburg sich vielleicht wieder im Deutschen Zollverein wiederfände.