David Cameron hat hierzulande viele Feinde, weil er ebenfalls für einen ungehemmten Finanzplatz und gegen die Exportabilität von Sozialleistungen streitet

Wertegemeinschaft

d'Lëtzebuerger Land du 26.02.2016

„Verschiedene Leute sagen: Herr Bettel, wenn die Engländer morgen fort sind, dann ist das doch gut. Denn dann kommen die Banken nach Luxemburg“, erzählte der Premierminister vorige Woche, bevor er zum zweitägigen EU-Gipfel nach Brüssel reiste. Und warnte dann: „Kurzfristig hat das vielleicht eine kurze Zeit einen gewissen Vorteil für unser Land. Aber wir müssen mittel- und langfristig schauen: Das ist eine Katastrophe für unsere Wirtschaft und eine Katastrophe für Europa.“

Nach dem Gipfel warf der Fraktionssprecher ­der CSV, Claude Wiseler, am Dienstag dem konservativen britischen Premier David Cameron „Erpressung“ vor. Der grüne Claude Adam von der Regierungsmehrheit musste ihm beipflichten, weil David Cameron ein Referendum über die EU-­Mitgliedschaft seines Landes angekündigt und dann am 10. November einen Katalog mit vier Forderungen an den Ratsvorsitzenden Donald Tusk geschickt hatte. Verlangt hatte er günstige Geschäftsbedingungen für den Finanzplatz London, eine weitere Deregulierung in der Europäischen Union, den Verzicht auf eine weitere Integration und Einsparungen auf Kosten eingewanderter Arbeiter.

Abgesehen von der national bewegten ADR, die mit David Camerons Tory-Partei und deren Fraktion Europäischer Konservativer und Reformer im Europaparlament sympathisiert, ließ keine Partei ein gutes Haar an David Cameron. Richtige Konkurrenten hassen sich eben, weil sie sich zu sehr ähneln. Man verfolgt die gleichen rechtsliberalen Ziele für einen ungehemmten Finanzplatz und gegen die Exportabilität von Sozialleistungen. Den Unterschied macht, dass Luxemburg stärker auf die Europäische Union angewiesen ist. Seit Jahrzehnten heißt es missgünstig, dass Luxemburg keine Insel sei.

Für die luxemburgische – wie für die britische – Regierung ging es bei den Verhandlungen um den ersten Punkt von Camerons Forderungskatalog, die Geschäftsbedingungen des größten Finanzzentrums in der Europäischen Union, das gar nicht zum Euro-Raum gehört. „Es kann nicht sein, dass man zum Beispiel nicht im Euro sitzt, aber beim Euro mitent­scheiden will, was mit dem Euro geschieht“, hatte Xavier Bettel vor einer Woche gemeint. „Dass man nicht bei der Bankenunion am Tisch sitzen will, aber dass man dort mitwirken will, wo die Bankenunion zählt. Ich bin der Meinung, dass wenn sie [die Engländer] Regeln machen wollen, die weiter gehen als die, die wir uns geben – why not? Aber wenn sie Regeln wollen, die weniger streng in England sind als in den anderen Euro-Ländern, dann habe ich ein Problem.“

Die Luxemburger Regierung hatte Angst, dass es Banken und Finanzgesellschaften billiger zu stehen kommt, wenn sie in London unter die britische Bankenaufsicht fallen als in Luxemburg unter die Regeln der europäischen Bankenaufsicht und Einlagensicherung, an der seit der Finanzkrise von 2008 gearbeitet wird. Das Zauberwort der Regierung bei den Verhandlungen mit der britischen Regierung war, so Premier Xavier Bettel, „ein Level playing field von Regeln, die auch für jeden zählen können“, das heißt ein ebenes Spielfeld, auf dem die Banken in Luxemburg unter den gleichen Bedingungen Geschäfte machen können wie die Banken in der Londoner City.

Xaver Bettel präsentierte sich also am Dienstag vor dem Parlament als siegreich aus der Schlacht der Londoner City gegen den Boulevard Royal heimgekehrter Krieger: Es seien „keine Verträge aufgemacht“ und „keine Sonderregelungen für Großbritannien“ beschlossen worden. Luxemburgs oberstes Verhandlungsziel sei erreicht: „Unser Land und unser Finanzplatz erfahren keinen Nachteil gegen andere Finanzplätze, zum Beispiel die City von London.“ Denn laut der gemeinsamen Erklärung dürften andere Länder die Finanzpolitik im Euro-Raum nicht negativ beeinflussen, sondern müssten sie sogar unterstützen. Wichtig für Luxemburg sei, dass Großbritannien im Finanzdossieren nicht das verlangte Vetorecht erhalten habe, sondern lediglich „eine Art Notbremse, um eine zusätzliche Diskussion zu beantragen, aber kein Vetorecht“.

Das Abkommen gewähre, dass das Level playing field gesichert bleibe und es nicht in seiner praktischen Anwendung zu Wettbewerbsverzerrungen komme. Dies sei „ein ganz wichtiger Punkt für Luxemburg gewesen“, und er habe, so der Premier, „in den Verhandlungen auch mit Nachdruck darauf bestanden, dass das Prinzip angewandt wird. Es wird damit verhindert, dass eine britische Bank oder eine Einheit des Finanzsektors, die genau so wie eine Luxemburger Bank via den Europäischen Pass Zugang zum Binnenmarkt hat, einen Vorteil daraus ziehen könnte, dass sie in einem Land ist, das nicht Euro-Mitglied ist. Um das Prinzip des Level playing field zu gewährleisten, sei es wichtig, dass die Regeln, die im Finanzsektor gelten, dieselben sind in London wie in Frankfurt, in Paris und in Luxemburg. Das wird auch weiterhin so sein. Das grundlegende Regelwerk, das sogenannte Single Rule Book, bleibt in allen 28 Mitgliedstaaten dasselbe.“

Damit aber „nicht jede Flexibilität in der Euro-Zone verloren“ gehe – „in diesem Fall wäre das Level playing field nicht mehr gewährleistet“, so Xavier Bettel, – „haben Luxemburg und Frankreich darauf bestanden, dass eine solche Abweichung vom Single Rule Book eine Ausnahme bleibt und nicht zur Regel wird. Da ist nun eine doppelte Bedingung im Abschlusstext zurückbehalten: Das heißt, das Level playing field muss gewährleistet sein und eine Abweichung vom Single Rule Book muss zur Finanzstabilität beitragen, damit sie überhaupt gerechtfertigt sein kann.“

Neben der Definition von Regeln im Single Rule Book sei aber auch deren Umsetzung wichtig. „Das Abkommen erkennt an, dass ihre Anwendung für Nicht-Euro-Zonen-Länder in die Verantwortung ihrer nationalen Autoritäten fällt. Das bringt dann aber auch mit sich, dass die Kosten, die anfallen, wenn zum Beispiel eine britische Bank gerettet werden muss, auch ganz allein von den Briten getragen werden muss.“

Die Bankenvereinigung ABBL äußerte bereits ihre Sorge über den Absatz des Abkommens, laut dem „at least one member of the Council that does not participate in the banking union, indicates its reasoned opposition to the Council adopting such an act by qualified majority, the Council shall discuss the issue“ (S. 27). Deshalb beruhigte der Premierminister sie, dies bedeute „nicht für alle zukünftigen Initiativen einen Freifahrtschein zum Opt out für Länder, die nicht in der Euro-Zone sind“. Das sei „ein ganz heikler Punkt in den Verhandlungen gewesen. Weil es für Luxemburg wichtig ist, dass die Umsetzung der Regeln so weit wie möglich in allen 28 Mitgliedsstaaten auch denselben Prinzipien unterliegt, hat Luxemburg eine Erklärung abgegeben, um klarzustellen, dass die Vollmachten, die die Länder haben, um die Regeln umzusetzen, dieselben sind für jeden. Das geht aus dem Abkommen selbst hervor, und diese Einschätzung wird auch vom juristischen Dienst des Ministerrats und der Europäischen Kommission geteilt.“

Durch das Abkommen vom Wochenende erhalten die EU-Staaten „with regard to the exportation of child benefits to a Member State other than that ­where the worker resides, an option to index such benefits to the conditions of the Member State ­where the child resides. This should apply only to new claims made by EU workers in the host Member State“. Anschließend, „as from 1 January 2020, all Member States may extend indexation to existing claims to child benefits already exported by EU workers“ (S. 22).

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte schon am späten Freitagabend in Brüssel: „Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir das auch umsetzen in Deutschland.“ Im Luxemburger Parlament erklärte am Dienstag keine Partei ausdrücklich, auch langfristig auf diese Regelung verzichten zu wollen.

CSV-Fraktionssprecher Claude Wiseler nannte die Kindergeldkürzungen aber „äußerst problematisch“, das Prinzip sei „nicht gut“. Marc Angel meinte, für die LSAP sei „eine solche Diskriminierung schwer zu schlucken“, seine Partei wolle „dem Sozialabbau die rote Karte zeigen“. Doch in Wirklichkeit haben die Luxemburger Regierungen und insbesondere CSV und LSAP eine mindestens ebenso lange Tradition wie Großbritannien im Kampf gegen die „Exportabilität“ von Sozialleistungen, von Versuchen, das Kindergeld von Arbeitsimmigranten beziehungsweise Grenzpendlern zu kürzen.

So erfanden CSV und LSAP die Chèques-services, „anstatt das Kindergeld pauschal für jedes Kind zu erhöhen“, wie der damalige CSV-Premier Jean-Caude Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation 2008 betonte. Um einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen europäisches Recht zu entgehen, verabschiedete das Parlament diese Woche ohne die Stimmen der CSV eine Gesetzesänderung, die ab kommendem September auch Grenzpendlern unter gewissen Einschränkungen Schecks gewährt. Im Frühjahr 2010 hatten CSV und LSAP beschlossen, „das Kindergeld nur bis zu einem Alter von 21 Jahren auszubezahlen“, so Jean-Claude Juncker, und den Einheimischen den als Studien­beihilfen getarnten Ausfall zu ersetzen. Weil er gegen europäisches Recht verstieß, wurde der Versuch allerdings zu einem kostspieligen Fiasko, an dem noch heute herumgedoktert wird. Genau wie David Cameron kündigte das liberale Wahlprogramm schon 2009 an: „Die DP will den Export von Kindergeld ins Ausland deutlich absenken.“

Als weitere Diskriminierungsmöglichkeit sieht das Abkommen des Europäischen Ministerrats vom Wochenende vor, dass, wenn längere Zeit außergewöhnlich viele Arbeiter aus anderen Mitgliedstaaten in einen EU-Staat kommen und so das Sozialversicherungssystem, den Arbeitsmarkt oder öffentliche Dienstleistungen belasten, „the Council would authorise that Member State to limit the access of newly arriving EU workers to non-contributory in-work benefits for a total period of up to four years from the commencement of employment“ (S. 23). Diese Ausnahmeregelung kann sieben Jahre lang dauern, kein Arbeiter darf länger als vier Jahre die Zulagen gekürzt bekommen. Die Europäische Kommission hat Großbritannien bereits bescheinigt, dass es sich in einer derartigen sozialen Ausnahmesituation befinde, unter anderem weil es, so Xavier Bettel, bei der Osterweiterung, anders als beispielsweise Luxemburg, keine Übergangsfristen in Anspruch nahm.

Romain Hilgert
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