Die alten Krisen der Europäischen Union sind die neuen. Soeben hat Österreich eine Obergrenze für Flüchtlinge beschlossen. Auch die Grenzkontrollen will das Land verschärfen. Mit Dänemark, Deutschland, Norwegen und Schweden sind es nun fünf EU-Länder, die Schengen außer Kraft gesetzt haben. Auch Mazedonien hat die Grenzen für Flüchtlinge, auf Bitte von Slowenien, geschlossen. So gerät nicht nur die Reisefreiheit von Millionen von EU-Bürgern in Gefahr, auch das Asylrecht wackelt. Doch es keine einfachen Antworten auf die Flüchtlingskrise, die Fluchtursachen liegen außerhalb der EU. Gleichzeitig braucht die Union dringender denn je europäische Antworten, etwa im Bereich der inneren Sicherheit und bei der Bekämpfung des Terrorismus. D’Lëtzebuerger Land hat sich mit Außenminister Jean Asselborn (LSAP) über den Riss unterhalten, der derzeit durch Europa geht, über die Ursachen und politischen Folgen von Rechtsruck, Nationalismus, weniger Rechtsstaatlichkeit und wachsender EU-Skepsis.
D’Land: Erfolgreich in einem teils dramatischen Umfeld, so bilanzierte Premierminister Xavier Bettel die Luxemburger EU-Präsidentschaft. Tatsächlich hält die Flüchtlingskrise an, immer mehr EU-Länder führen Grenzkontrollen ein. Das neue Jahr fängt für die Europäische Union nicht gut an.
Jean Asselborn: Würde ich behaupten, es gehe Europa gut, würde ich nicht die Wahrheit sagen. Würde ich dagegen sagen, Europa gehe es schlecht, wäre ich ein Pessimist. Das bin ich aber nicht. Ich denke, es ist noch viel Luft nach oben, um Europa wieder besser zu machen.
Am Anfang des Flüchtlingsandrangs stand eine unilaterale Entscheidung Deutschlands, Flüchtlinge, die über die Balkangrenze kamen, aufzunehmen. Inzwischen steht Berlin zunehmend isoliert in Europa mit seiner Forderung, das Flüchtlingsproblem europäisch anzugehen. Glauben Sie noch an eine solche Lösung?
Anders als europäisch ist die Krise nicht zu lösen. Noch heute kommen jeden Tag durchschnittlich über 2 000 Flüchtlinge über Griechenland in die EU, weil sich in Syrien seit Oktober die Bombardements verstärkt haben. Die Fluchtursachen liegen in Syrien, Irak und Libyen. Ein Lichtblick ist, dass nächste Woche die Gespräche über die Zukunft Syriens beginnen sollen. Ziel ist es, nach dem Krieg und einer Übergangsphase von 18 Monaten eine neue Regierung zu wählen. Auch der Irak wird nicht stabiler durch Bombardierungen. Wichtig ist, die Städte, die befreit wurden, schnellstmöglich zu stabilisieren. Das ist in Tikrit mit deutscher Unterstützung bei der Minenräumung gelungen und muss ausgedehnt werden. Positiv ist auch, dass finanzielle Maßnahmen gegen den so genannten Islamischen Staat langsam greifen. In Libyen steht, nach schwierigen diplomatischen Verhandlungen, seit kurzem ein Abkommen.
Über das sich aber längst nicht alle Fraktionen einig sind.
Das stimmt. Aber würde das Abkommen umgesetzt, hätten wir dort endlich einen Ansprechpartner. Das ist enorm wichtig, denn bricht Libyen zusammen, wird Europa einen Flüchtlingsansturm erleben, der noch viel größer sein wird als der jetzige. Man muss sich vor Augen halten: Die Menschen flüchten vor Tod und Vertreibung. Viele wollen ihre Heimat nicht verlassen. Deshalb müssen wir Ländern wie der Türkei, Jordanien und dem Libanon helfen, dass sie den Flüchtlingen kurz- und mittelfristig eine Lebensperspektive geben. Das sind die drei Milliarden Euro aus Europa für die Türkei. Das Gleiche muss in Jordanien geschehen und im Libanon.
Europa hat bis heute das Geld nicht zusammen und auch andere Hausaufgaben hat es nicht umgesetzt. Sogar die Hotspots, an denen Flüchtlinge registriert und von wo aus sie auf andere EU-Länder verteilt werden sollen, funktionieren nicht.
Ich glaube auch nicht, dass die Umverteilung in vier Wochen funktionieren wird. Der politische Wille ist da, aber die Lage ist äußerst kompliziert: Die Flüchtlinge, die in Lesbos ankommen und nach Piräus verschifft werden, wollen von dort so schnell wie möglich in den Norden. Die Schleuser haben leider einen viel direkteren Einfluss auf sie als die Behörden. Es braucht sicherlich eine Struktur, in der zunächst 10 000 bis 20 000 Flüchtlinge ankommen, sie das Konzept der Umverteilung erklärt bekommen und zudem über ihre Rechte informiert werden. Aber das dauert. Wichtiger ist es, endlich die EU-Außengrenzen wirksam zu schützen. Darüber wollen wir nächste Woche beraten.
Was soll konkret diskutiert werden?
Es wird um Souveränität und europäische Instrumente, wie einen EU-Grenzschutz und eine europäische Küstenwache, gehen. Den Vorschlag hatte die Kommission bereits am 15. Dezember vorgelegt. Es kann nicht sein, dass wir nicht wissen, wer in den Schengen-Raum kommt. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verlangen, zu wissen, wer zu uns kommt. Wer Schutz sucht, kann Asyl gemäß der Genfer Konvention beantragen. Daher ist die Debatte über eine Obergrenze so unsinnig: Wir haben die völkerrechtliche Pflicht, Menschen Zuflucht zu gewähren, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Allerdings haben wir keine Verpflichtung, Leute aufzunehmen, denen es wirtschaftlich nicht gut geht, und die aus dem Maghreb in die Türkei fliehen und über Griechenland Eintritt in die EU begehren.
Die eigenen Grenzen zu schließen, scheint das Gebot der Stunde. Sie haben gewarnt, dass mit weniger Schengen die Wirtschaft in Gefahr gerät. Sogar das scheint niemanden wachzurütteln.
Wir Luxemburger wissen, was es heißt, wenn die Grenzen geschlossen werden und die Menschen aus der Großregion Stunden zu spät zur Arbeit kommen: Der Binnenmarkt würde zusammenbrechen und auch das Europa der Bürger. Was Schengen betrifft: Es muss möglich sein, dass Länder, die kurzfristig unter Druck geraten, vorübergehend Grenzkontrollen einführen. Deutschland, Dänemark, Norwegen, Österreich und Schweden haben Ausnahmen angefragt und die Kommission hat sie bewilligt. Aber wenn Länder die Ausnahme zur Regel machen, ist Schengen kaputt. Und wenn Schengen kaputt ist, dann haben wir einen Teil der Essenz der Europäischen Union zerstört.
Um dem Zustrom von Flüchtlingen über Griechenland beizukommen, ist die EU auf die Türkei zugegangen, ein Land, das Krieg gegen die eigenen Bürger, die Kurden führt, und dem vorgeworfen wird, den IS zu unterstützen. Ist das nicht ein Grund, warum das Bild der EU in der Öffentlichkeit ramponiert ist: weil sie ihre eigene Glaubwürdigkeit untergräbt?
Ich bin hundertprozentig der Überzeugung, dass das der richtige Weg ist. Die Türkei ist nicht nur ein Präsident oder eine Regierung, sondern das sind 70 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Es wäre ein kapitaler Fehler, die Verhandlungen abzubrechen.
Als EU-Ratsvorsitzender haben Sie sich dafür eingesetzt, die Beitrittsgespräche voranzutreiben, obschon der Fortschrittsbericht der Kommission zum türkischen Reformprozess eher einem Rückschrittsbericht gleicht. Warum?
Führen wir die Verhandlungen fort, ist unser Einfluss größer, als wenn wir dies nicht tun. So können wir auch auf die Menschenrechtslage einwirken. Außerdem meine ich, besteht in der dortigen Zivilgesellschaft ein großer Wille, die Verbindung zu Europa nicht abzubrechen. Der Kontakt zur EU wird als Hoffnungsschimmer gesehen.
Müsste man der Ehrlichkeit halber nicht zugeben, dass das wiedererstarkte Interesse der EU an der Türkei vor allem daran liegt, dass ohne die Türkei die Flüchtlingskrise noch dramatischer wäre?
Zwischen Europa und dem Mittleren Osten liegen die Türkei und der Iran. Daneben liegt Saudi-Arabien. Sicher könnte man alle Beziehungen abbrechen, aber das ist nicht der Sinn von Außenpolitik – und auch nicht im Interesse der EU.
Die Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien wird ebenfalls kritisiert. Die vorige Regierung, deren Außenminister Sie waren, hatte noch versucht, die Geschäftsbeziehungen auszubauen.
Vor kurzem wurden in Saudi-Arabien 47 Personen öffentlich hingerichtet, ohne fairen Prozess. Das verurteile ich und das hat auch die EU kritisiert. Aber man darf sich nichts vormachen: Ohne die Saudis, den Iran und den Irak bekommen wir keine Stabilisierung in der Region.
Das Bild der EU ist schlecht, sie wirkt zerrissen wie nie. Sie haben mit recht drastischen Worten gewarnt, der Mangel an Solidarität in der Flüchtlingskrise könnte das Ende der EU einläuten.
Es gibt keine Solidarität à la carte. Das haben vielleicht noch nicht alle verstanden. Der Solidaritätsgedanke gilt beim Strukturfonds, dem Kohäsionsfonds, in der Außenpolitik und selbstverständlich auch in der Asyl- und Einwanderungspolitik. Die Union ist eine Wertegemeinschaft, in der Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit zu den Grundprinzipien zählen. Wir sind inzwischen an einem gefährlichen Punkt angelangt, etwa wenn wir auf die jüngsten Entwicklungen in Polen schauen.
Polen hat eine rechte Regierung, die im rasanten Tempo demokratische Rechte aushöhlt und in der Flüchtlingsfrage auf die Bremse drückt. Zudem will Polen nun enger mit Ungarn und anderen Visegrad-Staaten gegen Brüssel zusammenarbeiten.
Ich habe meinen Teil zu den Entwicklungen in Polen gesagt. Eines steht fest: Wir haben es nicht geschafft, allen Mitgliedstaaten den aquis communitaire zu vermitteln. Das ist ein schwieriger Prozess. Man muss Geduld haben und klar machen, dass eine völlige nationale Souveränität den Werten der Gemeinschaft zuwiderläuft und man Kritiken von EU-Partnern nicht einfach mit dem Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten, ein Begriff den übrigens andere in der Geschichte geprägt haben, vom Tisch wischen kann.
Hat die EU wirklich Druckmittel gegen Warschau in der Hand oder ist das Prüfverfahren nicht Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit? Ist die EU bereit, im Notfall Polen das Stimmrecht zu entziehen?
So weit sind wir noch nicht. Wir sind jetzt in einer Phase der klaren Kritik. Die Kommission, die die Hüterin der Verträge ist, hat sich eingeschaltet und prüft nun, wie es um die Rechtsstaatlichkeit in Polen bestellt ist. Richtig ist, dass es für den letzten Schritt Einstimmigkeit des Rats braucht.
Polens Regierung ist demokratisch gewählt. Sind die Probleme insofern hausgemacht, als Demokratiedefizit und wachsender Frust breiter Bevölkerungsteile in der EU schon seit Jahren zu beobachten sind? Viele leiden unter Arbeitslosigkeit und Armut.
Wie ist Hitler an die Macht gekommen? Durch Arbeitslosigkeit und Krieg. Wir sprechen bereits von verlorenen Generationen in Ländern wie Spanien und Griechenland. Wichtig ist, dass das Investitionsprogramm von 315 Milliarden Euro, das die Kommission angekündigt hat, konsequent umgesetzt wird. Wir haben während des Luxemburger EU-Vorsitzes immer wieder betont, dass der Triple A eine soziale Dimension bekommen muss.
Staatsminister Bettel mahnte in Straßburg, immer mehr Bürger würden die Vorteile einer EU nicht sehen, ihm selbst fiel dann das freie Reisen und der Binnenmarkt ein.
Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als die Nachricht vom Zusammenbruch von Lehman Bro-thers einschlug. Damals befürchtete ich, dass damit etwas ausgelöst wird, das uns Jahre beschäftigen wird und Europa nicht mehr dasselbe sein würde wie vorher. Luxemburg übrigens auch nicht. Die Folgen sind eingetreten, in Griechenland und Spanien stärker als anderswo. Trotzdem ist Europa für viele immer noch die einzige Hoffnung, um aus dem Schlamassel wieder herauszukommen.
Dennoch: In Ländern wie Italien, Portugal, Griechenland und Spanien wählen immer mehr Menschen protektionistische Parteien. Bekommt Brüssel nun die Rechnung dafür, dass es das Thema der so-zialen Gerechtigkeit so vernachlässigt hat?
Die Franzosen haben stets stärker auf die heimische Produktion und den heimischen Markt gesetzt. Anders als die Deutschen und Briten, die von Anfang an auf den Export gesetzt haben. Das Ergebnis sieht man, wenn man die Handelsbilanzen vergleicht: Auch die größten Länder in der EU schaffen es nicht, aus der Misere herauszukommen, wenn sie sich abschotten und nach innen ausrichten. Daher ist es pure Demagogie, zu sagen, man müsse nur den Euro abschaffen und wieder Grenzen einführen, dann würde es schon aufwärts gehen.
Im Rückblick ist man oft viel schlauer. Gab es einen Schlüsselmoment, von dem Sie sagen würden, da hat die europäische Erosion begonnen?
Ich bin nun zwölf Jahre Außenminister. Europa heute ist anders als noch 2004, als es viel Hoffnung gab. Es ist vielleicht ein entscheidender Fehler gemacht worden: Statt, wie es eigentlich geplant war, die Integration voranzutreiben und mehr auf qualifizierte Mehrheiten zu setzen, ist das Gegenteil geschehen: Wir sind immer stärker auf eine intergouvernementale Ebene geraten.
Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde diskutiert, ob Europa vertieft werden müsse. Heute erlebt der Nationalismus eine Renaissance und wird die nationale Souveränität hochgehalten.
Am Montag beim Außenministertreffen haben wir um einen Ausdruck gerungen: „The EU and its member states are united.“ Zwei Länder waren damit nicht einverstanden und stellten sich quer. Den ganzen Tag haben wir diskutiert. Am Ende einigten wir uns auf die Formulierung: „The EU and its member states are committed“. Da haben sich die beiden die Hand gegeben und gelacht. Das sagt doch alles: Die scheinen wirklich zu meinen, dass es ihrem Land besser geht, wenn Europa schwach ist.
Wenn in Frankreich der FN weiter zulegt, könnte der europäische Motor ganz zum Erliegen kommen.
Marine Le Pen will Europa kaputt machen. Noch dramatischer ist aber, dass inzwischen selbst traditionelle Parteien sich dem Eindruck ergeben, dass man Wahlen nur gewinnt, wenn man auf die nationale Karte setzt und gegen „die da in Brüssel“ ist.
Sie meinen, auch die Sozialdemokraten, beispielsweise in der Slowakei.
Ja.
Die Pariser Attentate zeigen, dass die Abstimmung zwischen den Geheimdiensten lückenhaft ist. Trotzdem stimmten die Dänen vor kurzem gegen eine engere polizeiliche Kooperation in Europa.
Man darf nicht den Fehler machen, Terrorismus und Migration in einen Topf zu werfen. Die Ursachen für den Flüchtlingsstrom liegen in der Instabilität im Nahen und im Mittleren Osten, den Kriegen und dem Terrorismus dort. Die Terroristen greifen auch unsere Gesellschaften an, sie wollen ihre Ideologie von Hass und Intoleranz nach Europa tragen. Darum ist eine effektive Kontrolle der Außengrenzen wichtig, ebenso wie eine engere Kooperation zwischen den Geheimdiensten. Die kann es aber nur geben, wenn die Mitgliedstaaten ihre Souveränität ein Stück weit aufgeben. Das ist der Kern der europäischen Zusammenarbeit.
Nach den Pariser Attacken warnten Sie davor, schärfere Anti-Terror-Gesetze würde nicht zu mehr Sicherheit führen. Und dennoch diskutiert Luxemburg jetzt über eine neue Notstandsregelung und weitere Anti-Terror-Maßnahmen.
Wir haben gesehen, was in den USA nach dem 11. September 2001 passierte. Wir müssen in Europa aufpassen, dass wir keine Schritte in die falsche Richtung unternehmen. Ich bin kein Mensch, der meint, mit Gesetzesverschärfungen könne der Terrorismus wirksamer bekämpft werden. Luxemburg ist aber nicht Frankreich, das direkt angegriffen wurde. Ich bin kein Spezialist, ich vertraue unserem Justizminister und unserem Minister für Innere Sicherheit, dass die Maßnahmen, die sie vorschlagen, die Freiheit der Bürger nicht unnötig beschneiden.