d’Land: Als im Februar die aktuarielle Studie der Generalinspektion der Sozialversicherungen über das Rentensystem vorgestellt wurde, hieß es in vielen Zeitungen, die Renten seien „sicher“. Nun soll im Herbst eine Art Rententisch II stattfinden. Haben Sie damals nicht deutlich genug gesagt, dass die Renten langfristig nicht sicher sind?
Mars Di Bartolomeo: Ich habe damals gesagt, unser Rentensystem ist derzeit gesund. Das war der erste Satz. Der zweite war: Wenn wir wollen, dass es gesund bleibt, müssen wir heute darüber nachdenken, wie wir die Herausforderungen von morgen in den Griff bekommen. Wie es manchmal geschieht, wurde der Satz in den Vordergrund gestellt, der die meisten arrangiert. Noch einmal – die aktuarielle Studie hat gezeigt: das System ist kurz- und mittelfristig gesund. Wir haben Reserven, die 3,2 mal höher sind als die Jahresausgaben. Damit sind die Reserven doppelt so hoch, wie laut Gesetz nötig wäre.
Um das Jahr 2030 dürfte es wahrscheinlich anders sein.
Langfristig gesehen, muss man in Betracht ziehen, dass die Lebenserwartung zunimmt. Statistisch gesehen, steigt sie ungefähr alle zehn Jahre um ein Jahr. Das heißt, in fünfzig Jahren wird ein Mensch im Schnitt fünf Jahre älter als heute und länger Pensionsempfänger sein. Ein anderer Fakt ist, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten unser Arbeitsmarkt außerordentlich dynamisch entwickelt hat. Wir zahlen heute überwiegend Teilrenten an Leute, die aus den Nachbarländern zu uns arbeiten kamen. Morgen dagegen werden mehr und mehr Grenzpendler lange Beitragsperioden hinter sich und damit häufiger Anspruch auf Vollrenten haben. Dem wollen wir uns in den Diskussionen ab kommendem Herbst stellen, mit kühlem Kopf und ruhiger Hand. Das wird im Übrigen keine Art Rententisch II werden, sondern es wird ein Denkprozess mit den Sozialpartnern über die langfristige Absicherung des Rentensystems eigeleitet.
Premier Jean-Claude Juncker hatte in seiner Erklärung zur Lage der Nation im Oktober 2005 gesagt, man müsse über die „Automatismen“ der Ausgaben aus dem Staatshaushalt an die Sozialkassen „reden“. Das konnte man so verstehen, als seien Kürzungen der Nettotransfers gerade an die Rentenkassen denkbar, weil die ja gesund sind. Nach den Tripartite-Gesprächen kam es dazu so nicht. Hatte die Tripartite das nicht erwogen?
Keiner hat die Situation des Staatsbudgets ignoriert. Die Sozialtransfers sind hoch. Man könnte da stehen bleiben und sagen, sie sind zu hoch. Man könnte aber auch sagen, das ist ein Riesenvorteil – nicht nur für das System, auch für die ökonomische Entwicklung, weil dadurch die Lohnnebenkosten niedrig sind. Ich habe in der Diskussion immer gesagt, schauen wir, wie wir das Staatsbudget auf intelligente Weise entlasten können, ohne die Systeme in Frage zu stellen. Das haben wir getan. Schon im Budget 2006 wurden die Verwaltungskosten der Rentenkassen, die bisher der Staatshaushalt separat getragen hatte, in den Drittelbeitrag eingerechnet, den der Staat zum Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag an die Rentenkassen zahlt. Das „complément différentiel“ – der Zusatz, den Rentenempfänger erhalten, die Beitragsperioden im Krieg verloren hatten – wurde bisher integral vom Staat bezahlt, nach den Abmachungen der Tripartite tragen es künftig die Rentenkassen. Das gilt auch für die Babyjahre – zum Ausgleich dieser Beitragsausfallzeiten die Solidarität zwischen Aktiven und Rentnerinnen spielen zu lassen, macht Sinn. Wir haben die Diskussion über die Mammerent geführt. Sie ging nicht so aus, wie manche Kassandrarufer gemeint hatten: Die Mammerent bleibt im Staatsbudget, auch in der Zukunft. Zusammen mit der Verschiebung und Teilung der Rentenanpassungen haben wir Umschichtungen vorgenommen, die keinem weh tun und die Fundamente der Sozialversicherungen nicht mal ankratzen.
Und Sie übernehmen für die Gespräche im Herbst nicht als „zweite Mission“, dafür zu sorgen, dass der Staatshaushalt für die Zeit nach 2009 weiter entlastet wird?
Die Tripartite hat festgehalten, dass alle Partner sich für die langfristige Sicherung der Renten einsetzen. Dazu bereite ich die Diskussionen vor, das ist meine Aufgabe. Es geht nicht darum, die Sozialpartner auf kurzfristige Kappungsmissionen einzuschwören. Der Schlüssel für längerfristige Überlegungen ist im Übrigen heute schon da: Wenn, salopp gesprochen, demnächst nicht wenige Menschen 90 Jahre alt werden, mit 20 begonnen haben, Beiträge in die Rentenversicherung zu zahlen, dann aber nur 30 Jahre arbeiten wollen und 40 Jahre Pensionsanspruch für sie zu finanzieren wäre, dann muss man darüber diskutieren können.
Die Diskussion wird sich also um eine Erhöhung des Renteneintrittsalters drehen?
Ich diskutiere nicht über eine gesetzliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Ich stelle fest, dass das legale Renteneintrittsalter bei 65 liegt, das Durchschnitts-Renteneintrittsalter in Wirklichkeit jedoch bei knapp 58 Jahren, inklusive Invalidität. Also muss man daran arbeiten, dieses Alter näher an den legalen Renteneintritt zu bekommen. Das macht man nicht mit Floskeln, indem man sagt: „von 65 auf 67“, sondern durch die Analyse, warum die Arbeitnehmer so früh aus dem Arbeitsleben ausscheiden, und anschließend durch die Schaffung eines Anreizsystems, damit sich das ändert.
Warum scheiden die Leute denn so früh aus dem Arbeitsleben aus? Vor Jahren hieß es noch, es liege an der zu großzügigen Vergabevon Invalidenrenten, aber die wurde 2002 reformiert.
Es war lange eine Zielsetzung Vieler, so früh wie möglich aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden, weil man aus einem Zeitalter kam, wo man nach 40 Jahren Arbeitsleben oft einfach kaputt war. Wenn man schwer körperlich gearbeitet hatte, war man ab einem gewissen Alter reif für die Pensionierung, meine ich. Aber die Arbeitswelt hat sich geändert, die Gesundheit der Menschen ebenfalls. Deshalb wurde die Zuerkennung von Invalidenrenten reformiert, die Gesetzgebung über Langzeitkrankschreibungen ebenfalls. Was man jetzt tun muss, ist, die Betriebe mit Dichtung und Wahrheit zu konfrontieren. Die Dichtung sagt: Wir müssen die Leute länger im Arbeitsprozess halten. Die Wahrheit ist: Nicht wenige Betriebe ermutigen ältere Mitarbeiter, so rasch wie möglich in Pension zu gehen, damit ihre hohen Löhne den Betrieb nicht zu teuer zu stehen kommen. Das Patronat hat manchmal die Tendenz zu sagen: Wir haben zu viele Krankschreibungen, die Leute gehen zu früh in Pension, also muss die Regierung etwas unternehmen. Das hat sie getan durch die Invaliditätsreform und die Reform der Langzeitkrankschreibungen. Das reicht aber nicht, um die Älteren länger im Arbeitsleben zu halten. Was wir brauchen, sind Betriebe, die ältere Arbeitnehmer weiter beschäftigen. Wir brauchen angepasste Instrumente,die so wirken, dass sie die Leute nicht zwingen, länger zu arbeiten,sondern ihnen die Möglichkeit geben, ihre Restkapazitäten zu nutzen. Selbstverständlich brauchen wir dann auch entsprechende Arbeitsplätze.
Im Grunde gibt es das ja heute schon. Es gibt verschiedene Formen von Frührente und die Möglichkeit, sie mit Teilzeitarbeit zu kombinieren.
Das wird kaum genutzt. Wirklich nur ganz wenig. Wir wissen noch nicht, woran das liegt. Die Gründe zu finden, wird eine Aufgabe der Arbeitsgruppe sein. Möglicherweise ist innerhalb der Gesellschaft die Alternative, entweder Vollzeit arbeiten, oder Pensionierung ab 65 zu eindeutig. Falls ja, müssen wir es ändern. Wir müssen sowohl auf diejenigen eingehen, die mit 65 oder noch früher wirklich am Ende ihrer Kräfte sind, als auch auf diejenigen, die sehr gerne noch weiter arbeiten möchten.
Das große Problem dürften aber die Lohnkosten sein, die Sie schon angesprochen haben. Laut einer kürzlich veröffentlichten Ceps-Studie ist die Zurückhaltung vieler Unternehmen, Ältere zu beschäftigen, vor allem darauf zurückzuführen, dass man meint, sie kosten zu viel.
Ich weiß das. Ich denke aber, wenn wir ernsthaft über diese Zusammenhänge diskutieren und uns nicht von der Tagespolitik jagen lassen, finden wir eine Lösung. Ich glaube ernsthaft, das Luxemburger Modell wird auch hier funktionieren.
Sie haben gesagt, man könnte Anreize schaffen. Sollen das staatliche Lohnsubventionen für Ältere sein? Wer würde die bezahlen? Der Staat will ja sparen.
Punktuelle Maßnahmen durften die öffentliche Hand schon immer etwas kosten. Das ändert sich nicht. Aber das sind Details. Wir haben noch keine Strategie vorliegen, sonst könnten wir uns die Diskussion sparen. Zum anderen finde ich, dass die Beschäftigungvon Menschen bis zu ihrem legalen Rentenalter eine Normalität sein müsste.
Es gibt heute sogar schon Anreizsysteme. Etwa für Arbeitnehmer, die nicht als Invalidenrentner anerkann. wurden, aber als arbeitsunfähig an ihrem letzten Arbeitsplatz und als nicht innerhalb ihres Betriebes an eine andere Beschäftigung versetzbar. Sie sollen durch die Adem „extern reklassiert“ werden. Der Arbeitsministerhat allerdings gesagt, wenn die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr um 40 Pro-zent zunahm, dann sind 32 Prozentpunkte zurückzuführen auf solche extern zu Reklassierenden, die die Adem nicht vermittelnkann.
Wir werden Anfang 2007 über eine Studie verfügen, die uns genausagt, wo die externe Reklassierung klemmt. Die interne Reklassierung in den Betrieben klappt gut, die externe nicht. Das muss unsere Diskussion berücksichtigen.
Die Finanzierbarkeit unseres Solidarsystems hängt ab von Wirtschafts- und Arbeitsplatzwachstum. Fürs erste Trimester 2006 ermittelte der Statec ein BIP-Wachstum von über sieben Prozent. Die Krankenkassenunion bilanzierte im Juli, dass 2005 erneut mehr Arbeitsplätze neu geschaffen als abgebaut wurden, erstmals seit Jahren jedoch das mittlere Einkommen der Beitragspflichtigen viel weniger wuchs. Bekommen die Rentenkassen womöglich doch kurzfristiger ein Einnahmenproblem?
Wie sich das Einkommenswachstum über alle Sektoren der Volkswirtschaft verteilt, erfassen unsere Modelle, die die Gesundheit der Sozialversicherungen messen, heute schon. Diese Modelle sind flexibel genug. Alle Bemessungsgrundlagen – bei Krankenversicherung und Pflegeversicherung im Jahresrhythmus, bei der Rentenversicherung im Siebenjahresrhythmus – ermitteln, wie man die vorgeschriebenen Reserven bilden kann. Für die Rentenkassen haben wir die Einnahmen auch kurzfristiger ständig im Blick. Würden sie sinken, müsste man sich Gedanken machen, aber in diesem Szenario sind wir nicht. Beispiel: Die Rententisch-Beschlüsse führten zu einer Ausgabensteigerungder Rentenkassen um jährlich fast zehn Prozent. 2005 war diese Lücke in der Reservenbildung wieder kompensiert.
Hätten Sie als Sozialminister an Carlo Wagners Stelle die Rententischbeschlüsse so vorangetrieben wie er es tat?
Ich habe sie mitgetragen.
Das Patronat nicht, und der Premier hat sie kritisiert.
Der Premier war vielleicht anderer Ansicht, hat dem Rententisch jedoch zugestimmt, meine ich. Aus der Distanz von heute muss ich allerdings sagen, dass die Rententischbeschlüsse mit ihren strukturellen Verbesserungen kurzfristig wünschenswert, langfristig gesehen aber nicht der große Wurf zur nachhaltigen Sicherungdes Pensionssystems waren.
Plädieren Sie für punktuelle Kürzungen, vielleicht bei den besonders hohen Renten?
Nein. Ich will nicht durch irgendein Apriori den Reflexionsprozess zerstören, noch ehe er begonnen hat. Es kann nicht darum gehen, aus der Hüfte zu schießen.
Die OECD rät in ihrem Jahresbericht, so schnell wie möglich die Reservenbildung der Rentenkassen zu verstärken.
Das will ich durch die stärkere Weiterbeschäftigung Älterer ebenfalls erreichen. Ich bin allerdings nicht einverstanden mit den Kürzungsvorschlägen der OECD und auch nicht mit Ideen der Zentralbank, in Richtung Kapitaldeckungsverfahren zu gehen. Was wird da vorgeschlagen? – Man soll nach und nach zur Kapitaldeckung übergehen und währenddessen die Rentenanpassungen für zehn Jahre aussetzen. Solche simplistische Lösungen wie die Aussetzung der Rentenanpassungen könnte man aber auch in dem bestehenden System umsetzen, wenn man es wollte. Darum geht es aber nicht, und wer behauptet, unser Solidarsystem sei unfähig, auf volkswirtschaftliche Änderungenzu reagieren, irrt sich. Ich kann nur wiederholen: Wir müssen uns über die langfristige Finanzierbarkeit der Renten Gedanken machen. Es ist falsch zu behaupten, alles sei in Ordnung. Aber ebenso falsch ist es zu meinen, die Lage sei so dramatisch, dass man auf der Stelle eine one-shot-Reform brauchte. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, und die Reform muss ein Prozess sein.
Sie wurden von der DP dafür kritisiert, dass das 2004 verabschiedete Gesetz über die gewinnbringende Anlage der Rentenreserven noch nicht umgesetzt ist. Warum ist es noch nicht umgesetzt?
Diese Kritik ist billig. Hier geht es um das Vermögen aller jetzigen und künftigen Rentner, da darf man nicht den Hasardeur spielen. Wir haben gemeinsam mit externen Beratern ein System entwickelt, das in den nächsten Wochen lanciert wird. Das hat Zeit gebraucht. Man muss immerhin garantieren, dass das Geld zum einen sicher angelegtist, die Anlage zum anderen eine bessere Rendite bringt. Das Kunststück werden wir fertig bringen. Wenn das etwas länger gedauert hat als ursprünglich vorgesehen, finde ich das vertretbar angesichts der sorgfältigen Arbeit, die geleistet wurde.
Die Rating-Agentur Standard [&] Poor’s hat angekündigt, Luxemburg könnte 2010 in seiner Kreditwürdigkeit herab gestuft werden, sollte es beim derzeitigen Staatsanteil zu den Rentenkassen bleiben. Besteht dadurch kein kurzfristiger Handlungsbedarf?
Wir werden natürlich alles tun, um die Einstufung „AAA“ zu halten. Aber das Staatsbudget ist konsolidiert, alles deutet auf ein weiterhin hohes Wirtschaftswachstum und einen dynamischen Arbeitsmarkt hin. Wenn wir eine gute Diskussion über die langfristigen Herausforderungen hinbekommen, bin ich sicher, dass wir tragfähige Lösungen finden.