Die aktuarielle Studie vom 27. Oktober 1995 hatte vier Szenarien durchgerechnet, wie sich die Altersversicherung entwickeln würde. Dabei war sie zu dem besorgniserregenden Schluss gekommen, dass in zwei Szenarien bereits 1999 die Rentenbeiträge erhöht werden müssten. Doch selbst im günstigsten Fall würden, trotz Beitragserhöhungen, ab 2013 die Reserven schrumpften.
Am Mittwoch dieser Woche veröffentlichte Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) den alle sieben Jahre von der Generalinspektion der sozialen Sicherheit erstellten Bilan technique de la période de couverture 1999-2005. Aus dieser Bilanz geht hervor, dass die Beiträge 1999 keineswegs erhöht werden mussten. Vielmehr stiegen die Einnahmen der Kassen des beitragspflichtigen Regimes der Privatwirtschaft seither mit durchschnittlich 5,1 Prozent schneller als die Ausgaben mit 4,4 Prozent. Sodass sich die Reserven in den vergangenen sieben Jahren von 3,7 auf 6,6 Milliarden Euro fast verdoppelten.
Und dies obwohl auf Beschluss des Rententischs durch Gesetzvom 28. Juni 2002 die jährlichen Ausgaben um rund zehn Prozent erhöht wurden. Um den kurzfristigen finanziellen und gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden, könnten die Beiträge derzeit sogar von je acht auf sieben Prozent für Versicherte, Unternehmen und Staat gesenkt werden.
Unter Berufung auf die aktuarielle Studie von 1995 hatte Premier Jean-Claude Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation vom 7. Mai 1997 die Katastrophenwarnung ausgegeben, dass „wenn alles so kommt, wie alles mit Sicherheit kommt, werden wir mit Karacho in eine Mauer rennen. Die Mauer wartet auf uns am 1. Januar 2015. Die Mauer wartet auf uns in 20 Jahren.“
Die Projektionen der Generalinspektion der sozialen Sicherheit für die nächsten sieben Jahre sehen dagegen keine Rentenmauer vor. Der Belastungskoeffizient, die Zahl der Rentner je 100 Beitragszahler, ist seit Junckers Ankündigung von rund 48 auf 40 gefallen. Ganz im Gegenteil: bis 2024 oder 2028 würden die Pensionskassen weiterhin mehr Beiträge einnehmen als Renten zahlen. Die Reserven fielen zwischen 2030 und 2036 unter das gesetzlich vorgeschriebene Minimum in Höhe der anderthalbfachenJahresausgaben. Sodass in 20 Jahren Beitragserhöhungen vorgenommen werden müssten – so lange könne sich Luxemburg als wichtigen Standortvorteil einen der niedrigsten Beitragssätze in Westeuropa leisten.
Die Generalinspektion der sozialen Sicherheit weist allerdings darauf hin, dass all ihre Szenarien bei „unveränderter Gesetzgebung“ gerechnet wurden. Was unter anderem bedeutet, dass sich die Lage der Rentenkassen verschlechtern würde, wenn sie die Kosten der christlichsozialen Erziehungspauschale tragen müssten. Dass es den Rentenkassen in den vergangenen Jahren immer besser ging, ist vor allem das Verdienst der Grenzpendler. Durch sie nahm die Zahl der Beitragszahler mit jährlich 4,2 Prozent mehr als doppelt so schnell zu wie die Zahl der Rentner, deren Zahl bloß um 1,9 Prozent stieg. Meist vergessen wird zudem, dass mit dem Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit immer mehr Frauen Beiträge zahlen statt Witwenrenten zu beziehen. Außerdem begannen geburtenschwächere Nachkriegsjahrgänge in Rente zu gehen, sodass die Zahl der Renten langsamer zunimmt.
Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass die Regierung zehn Jahre lang mit Rentenmauern und 700 000-Einwohnerstaat Panik schürte, wie schlecht es der gesetzlichen Rentenversicherung gehe, und sie nun zufrieden feststellt, dass „unser Rentensystem gesund“ sei, so Sozialminister Mars Di Bartolomeo am Mittwoch. Sieht man einmal von der Möglichkeit ab, dass die Generalinspektionder sozialen Sicherheit sich ständig nach Herzenslust verrechnet,liegt eine andere Erklärung nahe: Während Jahren sollten die Rentner unter Hinweis auf die angeblich schlechte Finanzlage der Kassen „strukturelle Verbesserungen“ ausgeredet bekommen. Durch den Rententisch kam dann alles anders, und heute ist die Angst der Regierung vor dem Loch in ihrem Staatshaushalt größer als vor dem ADR. So dass sie den Rentenkassen nicht nur die Kosten der Erziehungszulage aufbrummen, sondern auch die „Automatismen“ genannten staatlichen Beiträge zur Rentenversicherung drosseln will. Was den Tripartite-Partnern in 14 Tagen um so leichter beizubringen ist, wenn die Zahlen beweisen, dass die Kassen so gesund sind, dass sie gar nicht auf all das Geld angewiesen sind.
„Die Sozialversicherung und vor allem die Rentenkassen haben Rserven, die zu einem großen Teil aus dem Staatsbudget stammen. Ohne Staat gäbe es keine Überschüsse und keine Reserven. Über diesen Finanzfluss müssen wir reden“, kündigte Premier Jean-Claude Juncker am 12. Oktober in seiner Erklärung über die politischen Prioritäten der Regierung an. Bei laufenden Ausgaben von 2,3 Milliarden Euro letztes Jahr hätte sich die gesetzliche Mindestreserve auf 3,45 Milliarden Euro belaufen müssen. In Wirklichkeit betrugen die Reserven aber mit 6,6 MilliardenEuro das 3,12-Fache der Ausgaben, also fast das Doppelte des gesetzlichen Minimums. Zumindest die christlichsozialen Finanz- und Haushaltsminister sind deshalb versucht, ihren Haushalt zu entlasten, indem sie bei den staatlichen Nettotransfers an die Rentenkassen sparen.
In Wirklichkeit hat die schnell gestiegene Zahl der Beitragszahler die hohen Reserven aber nur vorgeschossen bis zu dem Zeitpunkt, wenn sie in den Ruhestand treten und damit die Zahl der Rentner schnell steigt. In zehn bis 15 Jahren, je nach Wirtschaftswachstum, beginnt der Belastungskoeffizient über das Niveau von heute zu steigen. In 20 bis 30 Jahren sollen auf 100 Beschäftigte 50 Rentner kommen gegenüber 40 heute. Mit einer Rentenmauer hat das aber nicht unbedingt etwas zu tun, denn dann wird der Belastungskoeffizient das Niveau von 1985 wieder erreicht haben.
Laut Sozialminister Mars Di Bartolomeo zeige die Praxis allerdings, dass die Mindestreserven von 1,5 mal die Jahresausgaben nicht ausreichten, um das Rentensystem abzusichern. „Bei passender Gelegenheit sollen wir also die gesetzlichen Reserven erhöhen“, meinte er am Mittwoch. Und saß mit Blick auf das Rousegäertchen im Sessel des längst in der Vergessenheit verschwundenen Helden des Rententischs, seines liberalen Vorgängers Carlo Wagner.