Um den Rententisch nicht zusätzlich zu belasten, hatte Premier Jean-Claude Juncker angekündigt, dass die Tripartite diese Woche die seit fünf Jahren versuchte und zuletzt von Sozialminister Carlo Wagner für Frühjahr letzten Jahres angekündigte Reform der Invalidenrente beschließen würde. Doch nachdem im Vorfeld eine Einigung unmöglich war, legte die Regierung zur Sitzung am Mittwoch im letzten Augenblick einen neuen Gesetzesvorentwurf vor. So dass man sich wieder bis zum 23. Mai vertagte, um schriftlich Stellung zum neusten Regierungspapier zu beziehen. Aber OGB-L-Präsident John Castegnaro meinte zumindest, dass der Vorentwurf “in die richtige Richtung geht, auch wenn noch Einzelfragen zu klären bleiben“.
Invalidenrente erhält derzeit, wer verunfallte, frühzeitige körperliche Abnutzungserscheinungen zeigt oder von einer langwierigen beziehungsweise unheilbaren Krankheit befallen ist und medizinisch bescheinigt bekommt, unfähig zu sein, um ihren oder seinen Beruf auszuüben. Ab dem 65. Lebensjahr verwandeln sich die Invalidenrenten automatisch in Altersrenten. Im Gegensatz zu Beschäftigten aus anderen Ländern haben Grenzpendler Anrecht auf Invalidenrente, wenn sie hierzulande krankenversichert sind.
Doch seit einigen Jahren wird beanstandet, dass im Vergleich zu den Nachbarländern die Zahl der Invalidenrenten zu hoch ist. Dies lasse vermuten, dass die Invalidenrenten hierzulande auch als Mittel benützt würden, um den Arbeitsmarkt zu regeln, meinte BIT-Experte Rudiger Knop, als er am 15. Februar die lang erwartete Évaluation actuarielle et financière du régime général d'assurance pension du Grand-Duché de Luxembourg vorstellte.
Die Vermutung war nicht falsch. Denn nach der Stahltripartite vom 11. März 1987 antwortete der damalige LSAP-Wirtschaftsminister Jacques. F. Poos auf eine parlamentarische Anfrage über den Arbeitsplatzabbau bei der Arbed: “En effet, comme il est de tradition, aucun licenciement ne sera opéré. Par contre, les départs se feront par le biais du non-remplacement des départs naturels, le recours à la préretraite-ajustement et à une forme du régime de l‘invalidité professionnelle.“ In jenem Jahr 1987 waren 3 274 neue Invalidenpensionen gewährt worden, rund 1 300 mehr als heute.
Streng forderte der BIT-Experte, dass die Pensionskassen nicht mit arbeitsmarktpolitischen Ausgaben belastet werden dürften. Aber ähnlich wie bis vor kurzem in den Niederlanden ist die nun viel kritisierte Invalidenrente neben der Elastizität des Grenzpendlerangebots und der niedrigen Frauenbeschäftigungsquote eines der kleinen Geheimnisse der “atypisch“ niedrigen Arbeitslosigkeit in Luxemburg. Und für das Selbstwertgefühl eines nicht mehr Aktiven macht es einen großen Unterschied, ob er Invalidenrente oder Arbeitslosengeld bezieht.
Auch nach der Stahlkrise ist die Invalidenrente nicht nur eine Sozialmaßnahme bei Berufsunfähigkeit, sondern auch ein Mittel für manche älteren, sich ausgelaugt fühlenden Erwerbstätigen, um frühzeitig dem immer höhere Anforderungen stellenden Arbeitsleben den Rücken zu kehren oder die Flucht vor technischen Umstellungen im Betrieb zu ergreifen, auf die sie unzureichend vorbereitet wurden. Und bei allen Klagen über die niedrige Beschäftigungsquote älterer Jahrgänge kommt die Gelegenheit auch den Unternehmen nicht selten gelegen, um sozialverträglich und ohne Abgangsentschädigungen Personal abzubauen oder sich von älteren Beschäftigten zu trennen und leistungsfähigere jüngere mit niedrigeren Einkommen einzustellen.
Doch nach IWF, OECD und EU ist auch für das BIT die Invaliditätsrate im Vergleich zu derjenigen der Nachbarländer besonders hoch. Die Struktur und die Unterschiede nach Geschlechtern deuten darauf hin, so die Studie für den Rententisch, dass die Invalidenrenten genutzt werden, um das Berufsleben in Richtung Frühverrentung zu verlassen, wenn die Bedingungen zum Erlangen einer Frührente noch nicht erfüllt seien. Und das Büro schlägt vor, die Zahl der Invalidenrenten herzhaft um die Hälfte zu senken.
Doch die Zahl der neuen Invalidenrenten geht schon seit 1996 drastisch zurück, während gleichzeitig die Zahl der Erwerbstätigen deutlich steigt. Bloß dass sich dieser Rückgang naturgemäß nur langsam auf die Gesamtzahl der Invalidenpensionen auswirkt, weil ihre Zahl erst nach Jahren oder Jahrzehnten mit der Altersrente oder dem Tod der Bezugsberechtigten sinkt.
In Wirklichkeit hat die nun lauthals geforderte Trendwende bereits vor fünf Jahren stattgefunden. Ende 1996, Anfang 1997, das heißt nach Ende der Stahlkrise, kippten die Sozialgerichte und der Kassationshof die während der Stahlkrise gültige Rechtssprechung und beschlossen, dass die Invalidität eines Antragstellers nicht mehr ausschließlich an seinem Beruf, sondern am gesamten Arbeitsmarkt gemessen werden müsse. Deshalb war es plötzlich auch unzulässig, subjektive oder gar wirtschaftliche Kriterien in Betracht zu ziehen.
Diese Urteile zeigten sofort weitreichende Wirkung: allein zwischen 1996 und 1997 sank die Zahl der neu gewährten Invalidenrenten um stattliche 21,1 Prozent. Waren 1996 noch insgesamt 2 943 neue Pensionen gewährt worden, waren es 1997 nur noch 2 391. 1998, die letzten verfügbaren Zahlen, sank die Zahl weiter auf 2 010.
In der Arbeiterpensionskasse, wo auf Grund der Arbeitsbedingungen die meisten Invalidenrenten anfallen, sank die Zahl der jährlich neu gewährten Invalidenrenten zwischen 1997 und 1998 sogar um ein Drittel, von 2 121 auf 1 327, während die Zahl der Versicherten in derselben Zeit von 100 222 auf 105 519 stieg.
Seit 1998 geht auch die Gesamtzahl der Invalidenrenten bereits langsam zurück, um 20 981 im Jahr 1998 zu erreichen, davon rund ein Drittel Frauen, die auch etwa ein Drittel der Erwerbstätigen ausmachen.
Seit 1997 versuchen zuerst die CSV/LSAP- und nun die CSV/DP-Koalition, die Gerichtsurteile zur Invalidenrente in eine Gesetzesreform zu gießen. Noch im Sommer desselben Jahres hatte die LSAP-Sozialministerin Mady Delvaux-Stehres stolz einen Gesetzentwurf vorgestellt, der die Aufspaltung der Invalidenrente in eine Erwerbsunfähigkeitsrente und eine Berufsunfähigkeitsrente vorsah. Letztere sollte jemand in Höhe der halben Invalidenrente beanspruchen können, der weniger als die Hälfte in seinem letzten Beruf verdient. Außerdem würden Umschulungsmöglichkeiten angeboten und von einer Umschulungsentschädigung in Höhe der Invalidenrente begleitet.
Nach dem heftigen Protest der Gewerkschaften, die befürchteten, dass die so geschaffenen Teilinvaliden nur neue Teilarbeitslose würden, weil die Betriebe nur “junge, olympiareife Kräfte“ einstellen wollen, zog die Sozialministerin ihren Gesetzentwurf zurück. Doch seither versuchen ihr Nachfolger Carlo Wagner und Arbeitsminister François Biltgen parteiübergreifend, das Projekt in wechselnder Verpackung und mit immer neuen Garantien für die Gewerkschaften und immer neuen Subventionen für die Betriebe den Sozialpartnern doch noch schmackhaft zu machen.
Denn der Widerstand gegen die Regierungspläne beschränkt sich keineswegs auf die Gewerkschaften. Bei einer Zusammenkunft mit der Regierung am 19. Februar dieses Jahres erklärte die um die Produktivität und damit Wettbewerbsfähigkeit besorgte Fedil sich zwar mit den Regierungsplänen einverstanden, Teilinvalide weiter zu beschäftigen, aber nur, wenn daraus keine Verpflichtung für die Betriebe entstehe. Dadurch drohen aber alle guten Vorsätze toter Buchstabe zu bleiben.
John Castegnaro kann diese Vorsicht aber nicht nachvollziehen: “Die Unternehmer beschweren sich ständig, dass die Zahl der Invalidenrenten zu hoch und die Beschäftigungsquote zu niedrig ist. Aber Teilinvalide in seinem Betrieb in Teilzeit beziehungsweise an einem anderen Posten weiterzubeschäftigen oder einstellen zu müssen, will mit Hinweis auf die Wettbewerbsfähigkeit niemand. Das soll der Betrieb nebenan tun.“
Und der OGB-L-Präsident gibt zu bedenken, was denn aus den Teilinvaliden werden soll, wenn die derzeitige Hochkonjunktur einmal zu Ende ist und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sich verschärft.
So versuchte die Regierung auch am Mittwoch, mit guten Worten und Vorschriften, die Betriebe dazu zu bewegen, die geplanten Teilinvaliden zu beschäftigten, die nicht einmal mehr so heißen sollen. Nach dem Vorbild der Behinderten und Langzeitarbeitslosen verspricht ihr Gesetzesvorentwurf Steuersenkungen und Lohnausgleiche, um die Beschäftigung von Teilinvaliden zu verbilligen. Und gleichzeitig sollen Quoten zur Beschäftigung von Teilinvaliden eingeführt werden, wie sie ohne großen Erfolg für die Beschäftigung von Behinderten bestehen: ab 25 Beschäftigte ein Behinderter pro Betrieb, ab 50 zwei Prozent und ab 300 Beschäftigte vier Prozent Behinderte.
Dagegen schlagen die Unternehmen vor, dass Teilinvalide neben Staat und Gemeinden in der so genannten Solidarwirtschaft beschäftigt würden, was die Gewerkschaften aber nur als eine weitere Form der Präkarisierung ablehnen.
Außerdem soll der Gesetzesvorentwurf die Prozeduren vereinfachen – auch um zu verhindern, dass Antragsteller zuerst 52 Wochen lang Krankengeld beziehen – und sieht eine erste Kontrolle nach vier Monaten vor. Ein gemischter Ausschuss soll den Gewerkschaften zusätzliche Garantien für eine humane Behandlung der Anträge geben.