Nach dem zehn Jahre langen Jugoslawienkrieg herrscht seit dem Raketenangriff auf die Ukraine und dem Einmarsch russischer Truppen gestern am frühen Morgen erneut Krieg in Europa. Diesmal ist die Lage aber potenziell noch viel gefährlicher.
Man konnte das der Regierungserklärung gestern Nachmittag im Parlament und der kurzen Debatte darüber entnehmen. Nicht nur ist wieder einmal ein Krisenzustand erreicht, der „ganz Luxemburg“ eint, wo Parteipolitik keine Rolle spielt, Mehrheit und Opposition nichts bedeuten und auch ADR-Gruppenchef Fernand Kartheiser als Ex-Diplomat weiß, dass jetzt nicht die Zeit ist für ein „jo, mais“.
Immer wieder wurde „Einigkeit“ innerhalb der EU beschworen (Außenminister Jean Asselborn), eine „gemeinsame Position“ (Verteidigungsminister François Bausch), eine „einstimmige Reaktion“ (LSAP-Fraktionspräsident Yves Cruchten). Ganz zu Recht. Bisher hat die EU diese Einigkeit hinbekommen, aber nicht ohne Schwierigkeiten. Ungarn versuchte, bei den Sanktionsbeschlüssen zu bremsen.
Eine nächste Prüfung könnte der EU bevorstehen, wenn der Krieg in der Ukraine weitergeht, es zu keinem Waffenstillstand kommt und Hunderttausende Flüchtlinge Richtung EU aufbrechen – zunächst nach Polen, Ungarn, die Slowakei und Rumänien. Sich darauf vorzubereiten und eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge festzulegen, was vielleicht heißt: mühevoll auszuhandeln, muss die Regierungen der Mitgliedstaaten mindestens genauso stark beschäftigen wie die Frage, welche Sanktionen gegenüber Russland man verschärft.
Denn wenn jetzt vom Völkerrecht die Rede ist und von der territorialen Integrität von Staaten, geht es um Begriffe, die aus der Ordnung herstammen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa geschaffen wurde. Der Völkerrechtler Michel Erpelding weist im Interview auf Seite 2 dieser Ausgabe darauf hin: 1945 erhielt die Sowjetunion zusätzliche Territorien zuerkannt, Deutschland wurden Territorien weggenommen. Bei genauerer Betrachtung aber betrafen diese Gebietstransfers nicht nur Deutschland und die Sowjetunion, die es mittlerweile nicht mehr gibt. Sondern auch Polen, die heutige Ukraine, das heutige Litauen. Käme es soweit, dass nationalistische oder identitäre Politik diese Grenzen infrage stellt, dann gnade Europa Gott. Ganz ausgeschlossen ist das nicht, denkt man den Ukrainekrieg und seine möglichen Folgen weiter. Kein Wunder, dasse im kleinen Luxemburg die Besorgnis so groß ist.
Dass die Europäische Union ungeachtet aller Beteuerungen, dass sie ein „Friedensprojekt“ sei, in Wirklichkeit in erster Linie ein Wirtschaftsprojekt ist, hilft dabei nicht gerade weiter. So könnte man mit einiger Berechtigung behaupten, dass das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu schnell vorangetrieben wurde, mit dem typischen technokratischen Eifer und zu wenig Gespür dafür, dass Russland dies als Konfrontation verstehen konnte. Nun ist das Geschichte, demonstriert aber, dass die EU mehr sein muss als der Binnenmarkt, der Euro, Menschenrechte und Emissionshandel. Was genau, ist natürlich die Frage. Sie läuft darauf hinaus, was die 27 Mitgliedsländer in Zukunft zusammenhalten soll, bei allen Differenzen, die zwischen West und Ost, Nord und Süd bestehen. Sie im Angesicht eines Kriegs zu beantworten, ist wahrscheinlich unmöglich. Was noch ein Anlass zu großer Sorge um Europa ist.