LEITARTIKEL

Frauen am Abgrund

d'Lëtzebuerger Land vom 20.08.2021

Was sich zurzeit in den sozialen Netzwerken abspielt, allen voran Facebook, ist zutiefst erschütternd. Da wird beleidigt, beschimpft und gehetzt. Das ist kein neues Phänomen, wenn man ansatzweise mit Social Media vertraut ist. Aber nun ist die afghanische Bevölkerung ins Visier der Hater geraten. „Direkt zréck mat de Leit wou së hir kommen. Mir kënnen hinen do besser hëllefen. Wirtschaftsflüchtlingen brauchen mir hei keng méi. Letzebuerg an Europa hun elo aner Problemer“, meint ein User. Ein anderer wünscht „diesen Leuten eine baldige Heimreise in ihr eigenes Land, sobald sich zeigt, dass die Taliban ihre Versprechungen in die Tat umsetzen. Dann besteht auch kein Grund mehr, dass diese Menschen bei uns bleiben!“ Aber dass die Taliban heute im Vergleich zu 2001 gemäßigter sind, daran glaubt nicht mal Jean Asselborn. „Ich habe große Zweifel, dass die Taliban sich grundlegend verändert haben“, sagte der Außenminister gestern in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Wenn Menschen im Internet ihren Hass ungefiltert verbreiten, dann sind Aussagen wie die des österreichischen Innenministers noch mehr Gift. Karl Nehammer (ÖVP) hat unmissverständlich gesagt: „Es gibt keinen Grund, warum ein Afghane jetzt nach Österreich kommen sollte.“ Diese populistischen Äußerungen aus Wien sind das Gegenteil von gemeinsamer europäischer Politik, die wir jetzt mehr denn je brauchen.

Ein anderer User gibt sich augenscheinlich emphatischer auf Facebook: „Na, hoffentlich werden vorrangig Frauen und Kinder aufgenommen. Die haben den Schutz dringend nötig!“ In der Tat. Niemand hat sich vorstellen können, dass die Taliban so schnell das ganze Land erobern könnten: Innerhalb von wenigen Stunden standen sie in Kabul. Im Moment leidet das gesamte Volk Afghanistans, allen voran die Frauen. Ihnen droht ein riesiger Rückschlag, weil sie nun um ihre Rechte bangen müssen. Taliban-Angehörige teilten vor der erneuten Machtübernahme mit – sie sprechen jetzt eine sanfte Sprache – Frauenrechte im Rahmen des islamischen Rechts akzeptieren zu wollen, Afghaninnen Jobs in der Regierung anbieten zu wollen, weil sie ja „Teil der Gesellschaft sind“. Aber das afghanische Volk nimmt ihnen das nicht ab. Weil es Erfahrung hat mit diesem Regime. Weil es niemals auch nur einen Hauch von Frieden unter den Taliban erlebt hat. Bereits zwischen 1996 und 2001 hatten die Taliban über Afghanistan geherrscht und wir haben gesehen, wie es ist, wenn die Taliban an der Macht sind. In dieser Zeit durften Frauen nicht arbeiten oder zur Schule gehen, Frauen mussten eine Burka tragen und durften nur in Begleitung eines männlichen Verwandten aus dem Haus gehen. Regelverstöße wurden durch die Taliban mit Demütigungen und öffentlicher Prügel bestraft. Talibankämpfer haben in der Vergangenheit Frauen getötet, vergewaltigt und gesteinigt.

Frauen in Afghanistan werden wieder unterdrückt werden und das sind sehr beängstigende Aussichten. Sie haben dort niemanden, an den sie sich wenden können, um Schutz zu suchen oder um Hilfe zu bitten, wenn sie in Gefahr sind. Sie müssen mit der ständigen Angst leben, dass es jederzeit an der Tür klopfen könnte.

Der Einmarsch der Nato-Truppen war damals auch mit dem Ziel begründet worden: „Wir müssen etwas tun für die Frauen und Mädchen.“ Und heute, 20 Jahre später, was ist davon übriggeblieben? Müssen wir humanitäre Hilfe jetzt generell infrage stellen? Ganz klares Nein. Die internationale Gemeinschaft ist heute dringender nötig als je zuvor, um Frieden und Stabilität zu gewährleisten. Sonst werden Afghan/innen sterben, und die ganze Welt schaut nur zu. Wir schauen uns den Untergang Afghanistans an und unternehmen nichts. Wir dürfen Afghanistan jetzt nicht alleine lassen.

Franziska Jäger
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