Zeitläufte hieß da mal diese Rubrik in der altehrwürdigen Zeit. Ein Wort, das allein schon das Gewicht der Geschichte erahnen lässt, bedeutungsschwanger und absichtsvoll. Eins der wenigen Worte, die der spielerisch wortgewaltigen Michèle Thoma wohl nicht einfallen würden. Das sie zumindest nicht für sich verwenden würde. Sie nennt sich keck „Die Kleine Zeitzeugin“ und sprintet ballaststofffrei durch die Zeiten, durch Politik, Gesellschaft und Medien. Vor der Haustür ihrer Wahlheimatstadt Wien, in der alten luxemburgischen Heimat, quer durch Europa und weiter.
Land-Lesern ist sie keine Unbekannte, die „Kleine Zeitzeugin“ mit ihren satirischen Randbemerkungen zum Tagesgeschehen. Seit 2007 kommentiert Michèle Thoma mit spitzer Feder und ungebremster Fabulierlust, was ihr unterkommt, in persönlicher Begegnung oder in der bunten Medienwelt. Von dem schlüpfrigen Hype über Charlotte Roches Roman Feuchtgebiete über diverse Präsidentenbesuche hier und da oder dem „Vati im Vatikan“ bis hin zur europäischen Finanzkrise und der alljährlich wiederkehrenden Weihnachtsdepression.
Der Verlag Ultimomondo hat nun eine Auswahl aus ihren Glossen in einem rund 200 Seiten starken Band zusammengestellt – eine knappe Hundertschaft an Alltagsbeobachtungen, Kommentaren und Paraphrasen, die die vergangenen Jahre im Zerrspiegel der Satire Revue passieren lassen. Michèle Thoma beleuchtet gnadenlos subjektiv und selbstironisch, dabei mit großem Wortwitz und analytischer Schärfe Trends und Ereignisse, testet etwa in der „Flirt Factory“ ihren „Fleischmarktwert“ oder chattet im „Gesichtsverlierbuch“.
Immer wieder führen sie ihre Gedankenkaskaden in gekonnter Kontrastzeichnung zwischen vordergründiger Beschreibung und hintergründiger Analyse zu entwaffnenden Aphorismen und gesellschaftlichen Bestandsaufnahmen. „Niveau ist keine Hautcrème“, konstatiert Michèle Thoma oder hält kurz und bündig über Arbeitsmigranten fest: „Sie animieren und reanimieren unsere Senioren.“ In solchen Momenten reichen ihre Beobachtungen über satirische Überzeichnung und scharfe Gesellschaftskritik hinaus. Auch unerwartete lyrisch-poetische Seitenpfade tun sich auf. Manchmal sind es nur ein paar Worte, eine überraschende Wendung am Schluss, und die leichtfüßige Fabulierlust mündet in melancholische Tiefe.
Der Sammelband der 1951 geborenen Luxemburgerin ist ein Turbo-Ritt durch aktuelle und gerade noch aktuell gewesene Themen, ein Panoptikum der jüngsten Hypes und Hysterien und ein scharfzüngiges Protokoll der Medienwelt. Bei einem ersten raschen Durchblättern stechen Namen und Ereignisse ins Auge, die ein schnelles „ach, ja“ auf der persönlichen Erinnerungsmatrix projizieren. Beim genaueren Lesen verkehrt sich das mitunter ins Gegenteil.
Michèle Thomas Sprachlust berauscht sich bisweilen an einer Person oder einem Ereignis, das sie bewusst nur umkreist und ironisch umschreibt, aber nicht vordergründig benennt. Dann bleibt ein herausforderndes Puzzle: Die Autorin legt Spuren und Fährten, die im Moment wohl schlüssig, mit zeitlichem Abstand aber schwer zu entziffern sind. Dann ist es ihr Wortwitz und der sprachliche Sog, der durch den Text führt und zum Weiterlesen drängt.