Wanda Slawinska erreicht das Stammlager Auschwitz I am 6. Oktober 1942. Am 4. November ist sie tot. 28 qualvolle Tage. 28 Tage an jenem Ort, an dem Adorno zufolge Aufklärung und Lyrik an ihre Grenzen stießen. „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“, schreibt er 1951 in „Kulturkritik und Gesellschaft“. Wanda Slawinskas Porträt hängt mit Hunderten anderer in einem jener Räume des Museums, in denen politischer Häftlinge gedacht wird. Ihr Gesicht ist das einer Greisin. Lederne, kalkweiße Haut zieht sich über die harten Kanten ihrer Wangenknochen. Ihre Augen sind feucht, leer, starr und tot. Das Foto gibt die innere Leere des Opfers wieder, das Antlitz der Wanda Slawinska.
Zwei Tage Besichtigung der polnischen Stadt Oswiecim stehen an. Betreut von den Témoins de la deuxième génération, treten 120 Schüler aus 12 Schulen mit ihren Lehrern eine Reise nach Auschwitz an, um begreifen zu können, was wohl nicht fassbar ist. Die rationalisierte Vernichtung der anderthalb Millionen Juden aus unterschiedlichen Ländern Europas bedeutet auch für die galizische Stadt eine schwere Bürde. So verwerfen es die Einheimischen, ihre Heimatstadt mit dem deutschen Namen Auschwitz zu benennen. Zwischen Oswiecim und Auschwitz, der Stadt und dem historischen Verbrechen, wird unterschieden. In der pädagogischen Absicht, der Jugend – und uns selbst! – die Zeiten der entfesselten Hölle jenseits grauer Schulbuchtheorie zu vermitteln, konzentriert sich die Organisation vor allem auf die Vergangenheit.
Und so begleiten Schüler und Lehrer unzählige formulierte und unausgesprochene Fragen danach, wie die eigene Reaktion ausfallen wird, dann, wenn sich die Krematorien, Baracken und Gleise unweigerlich offenbaren werden, wenn wir über jenen Boden schreiten werden, der damals mit der Asche der Opfer bedeckt wurde.
Mitten in der Stadt steht das Museum eingebunden in das Stammlager Auschwitz I. Busse parken vor dem Gelände. Fast-Food wird verkauft. Pizzeria und Hotel säumen die Straße. Wo 65 Jahre zuvor Maximilian Kolbe für einen Familienvater in den Tod ging und in Zelle 18 des Blocks 11 im Hungerbunker auf die Phenol-Spritze wartete, dort, wo in den Jahren des Krieges Menschen vor der Exekutionsmauer im Akkord hingerichtet wurden, hat sich heute eine Art Massentourismus eingestellt. Durchorganisierte Kassenschalter, Buchhandel und Glasfenster trennen die Besucher von der Möglichkeit zu verstehen. Der Sonnenschein trägt seines dazu bei, dass meine sieben Schüler jene Worte sprechen, denen ich so viel abgewinnen kann: „Die Filme, die wir bisher zu diesem Thema gesehen haben, berührten mehr.“ Zudem leiert unsere Reiseführerin ihren Text ohne Empathie und mentale Präsenz herunter. Auch ihr Automatismus steht der Nachempfindung des Leids im Weg, Enttäuschung macht sich breit. Die Besichtigung von Auschwitz I steht hinter den Erwartungen von mir und meinen Schülern zurück. Die Leere in den Augen der Wanda Slawinska verschließt sich uns.
Bei der Begegnung der gesamten Gruppe am Samstag- und Sonntagnachmittag in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte mit Henri Kichka bringt es der Überlebende des Lagers auf den Punkt: „Wenn die Zeugen jener Zeit nicht mehr von Leid und dem Angriff auf die Menschenwürde erzählen können, offenbaren sich das Lager und die damit verbundenen Schreckenstaten der Nazis nur noch als Museum.“ Besteht Grund zur Sorge?
Auf die engagierten Fragen, welche die Jugendlichen an den Zeitzeugen richten, weiß Kichka mit persönlichen Erfahrungen empathisch zu antworten. Im Raum herrscht Stille, wenn der heute 84-Jährige von durch die Arbeit zerborstenen Schultersehnen, in Kot gedrückten Gesichtern, stinkenden Leichen in den Viehtransportern berichtet. Kichka geht seiner Berufung als Zeitzeuge der Vernichtungsmaschinerie seit 25 Jahren nach, schreibt Bücher, tritt im Fernsehen auf und – die Jugend hört zu.
Die Sonne scheint auch am Sonntagmorgen. Es ist wohlig warm. Sonnenstrahlen scheinen durch die Busfenster an diesem zweiten Tag, bescheinen die Straße, die vom Stammlager nach Birkenau führt. Wärme legt sich über die Gleise, die in Spielbergs Schindlers Liste in nächtliches Dunkel, in verschneite Kälte getaucht waren. Keine Wachhunde kläffen, es stinkt nicht nach Urin, nach Stiefelcreme, nach Angst. Auch hier macht sich in mir die Sorge breit, selbst das Vernichtungslager entzöge sich unserer Vorstellungskraft, schüre Neutralität.
Dann aber ist es der Marsch durch das Schienentor, das Besteigen der Rampe, es ist das Berühren einer Latrine, einer Schlafbaracke, es sind die Reste von Mauerzeichnungen, die uns stocken lassen. Ob es stimme, man habe Kleinkinder lebendig in die Öfen geworfen, möchte eine Schülerin wissen. Ja, dazu gebe es ungeprüfte Berichte, antwortet unsere an diesem Tag engagiertere Reiseführerin. Augen werden feucht. Man schluckt. Einmal, zweimal. Weitere Fragen werden erstickt. Nicht aus Desinteresse, sondern, weil die Stimme versagt, weil unfassbar ist, wozu der Mensch fähig sein kann. In der „Scheißstube“ hätten die Häftlinge zu Dutzenden gesessen, sich in einem Sanitärraum erleichtert, der im Ersten Weltkrieg als Pferdestall hergehalten habe. Die Nasenringe hängen noch an Querbalken. Der Kot wird in riesigen Auffangbecken gelagert. Mit menschlichen Exkrementen lässt sich hervorragend düngen. Auch Asche wird einen Steinwurf von den Krematorien entfernt über eine heute idyllisch anmutende Wiese gestreut. Doch sei, so berichtet Henri Kichka, in Birkenau kein Gras gewachsen. Wen wundert es, wenn man den Tod sät. Und dann: „Hätten wir einen Grashalm entdeckt, wir hätten ihn gegessen.“
Totenstille stellt sich ein, als wir Herrn Kichka mit seiner nummerierten Häftlingsmütze in der Schlafbaracke umkreisen. Er hat ein paar Schüler begleitet, möchte nun jedoch zu allen sprechen. Niemand will die Gelegenheit missen. Er stützt sich mit seiner linken Hand an den harten Holzbalken der ersten Schlafstätte ab. Henri Kichkas Körpersprache wirkt entschlossen, seine Stimme aber klingt für Momente leise, zittrig. Keine Unterrichtssituation wäre so möglich. In der Baracke jedoch verstummen Nebengeräusche. Jeder lauscht den Worten des Ex-Häftlings wie gebannt. Alles wirkt authentisch, vor Ort, nicht museal, sondern ungeschminkt, roh. Von der oberen Schlafetage habe man durch die steinharten Bretter nach unten gepinkelt, bisweilen auf Mitinsassen, weil die Nacht zu eisig, der Weg zu beschwerlich gewesen sei, um von dem Gerüst zu steigen, die Baracke zu verlassen, seinen menschlichen Grundbedürfnissen auch menschlich nachgehen zu können. Das Zischen einer geöffneten Cola-Flasche schneidet durch die bleierne Luft. Ein Raunen geht durch die Menge, Verlegenheit macht sich breit. Dass die Sonne über das Todeslager Birkenau scheint, ist für Momente vergessen.
„Ich erinnerte mich an meinen damaligen, vergeblichen Versuch, mir ein volles Lager und Häftlinge und Wachmannschaften und das Leiden konkret vorzustellen. Ich versuchte es wirklich, schaute auf eine Baracke, schloss die Augen und reihte Baracke an Baracke. (…) Aber es war alles vergeblich.“ Michael Bergs vergeblicher Versuch einer geistigen Verinnerlichung der Verbrechen in Struthof aus Bernhard Schlinks Der Vorleser hat die Gruppe im Museum Au-schwitz I geprägt. Die durch die Ins-zenierung entstandene Distanz in Zeit und Raum war zu deutlich. Über den Baracken von Birkenau hat die Sonne jedoch nicht die Kraft, die Betroffenheit abzumildern.
Niemand möchte bis auf den Grund von Wanda Slawinskas Augenhöhlen sehen. An diesem Tag aber wandelt sich ein Portrait zu einer ganzen Geschichte. Wie mir dieses Foto, werden so manchem ähnliche konkrete Details zugesetzt haben: Ein paar Längen Stacheldraht, eine eingeritzte Botschaft, eine verkohlte Puppe. Der freie Nachmittag in Krakau am letzten Reisetag erweist sich als Segen.