Anfang August senden westliche Fernsehstationen wieder schlechte Nachrichten aus Afghanistan. Diesmal über mehrere getötete zivile Helfer. Die Opfer – die meisten von ihnen Ärzte – hatten sich auf den beschwerlichen Weg nach Nuristan im entlegenen Osten Afghanistans gemacht. Dort sollten sie Menschen mit Augenleiden behandeln. Doch es wird nichts aus den guten Absichten. In den schwer zugänglichen Bergen lauern Taliban auf die Fremden, die sie für christliche Missionare halten. Die Taliban erschießen zehn, zwei überleben.
Ajmal, einen jungen Afghanen aus Kunduz, interessiert diese Nachricht nicht sonderlich. Während Kommentatoren in den USA und in Europa wieder einmal feststellen, dass die Friedensmission in Afghanistan angesichts solcher Ereignisse erfolglos genannt werden muss, zerbricht sich der 24-jährige Student den Kopf darüber, wie er heute bloß nach Hause fahren soll. In bruchstückhaftem Englisch erklärt der Student englischer Literatur, dass die Taliban seit den frühen Morgenstunden die einzige Straße zwischen Mazar-e-Sharif und Kunduz blockieren. Nun liefern sie sich ein Feuergefecht mit den internationalen Truppen. „Für mich heißt das, dass ich heute nicht mehr nach Hause nach Kunduz kann“, sagt der junge Mann.
In seiner Heimatstadt Kunduz, nur 200 Kilometer vom friedlichen Mazar-e-Sharif entfernt, ist alles gefährlicher geworden. Mit seiner rechten Hand fährt sich Ajmal durch seine langen schwarzen Haare, in die er dezent rote Streifen gefärbt hat. Er berichtet von seiner letzten Begegnung mit Taliban: „Meine Haare seien unislamisch, warnten sie mich, und dass ich keinen Bart wachsen lasse, sei auch schlimm.“ Nur wegen des Studentenausweises ließen sie ihn ziehen. „Vor lernenden Menschen haben sie immerhin noch so etwas wie Achtung. Aber ein zweites Mal wird mir mein Ausweis nicht helfen“, ist sich Ajmal sicher und schaut frustriert.
„Ich möchte abhauen und im Westen leben – wie ein echter Mensch!“ sagt er leise vor sich hin. Er hat den Glauben an eine bessere Zukunft für sein Land aufgegeben. Auch das bisschen Demokratie, das es jetzt gibt, gibt ihm keine Hoffnung. „Die Parlamentswahlen, die am 18. September anstehen, ändern doch nichts“, meint er. Außer dass wegen den Wahlen die Taliban nun auch im Norden aggressiver geworden sind: „Ich sehe nicht, dass die Wahlen abgehalten werden können. Weder die Regierung, noch die internationalen Truppen sind in der Lage für die notwendige Sicherheit zu sorgen.“
Die Thermometer in Mazar-e-Sharif messen seit Tagen 47 Grad Celsius. Wie festgeklebt hängt eine graue Wolkenglocke über der Stadt, darunter ist es so heiß, dass der Sauerstoff sich zu verflüchtigen scheint. Es ist stickig und staubig, denn die wenigen umherfahrenden Autos wirbeln Staubsäulen auf von den unasphaltierten Straßen. Aber die Hitze kommt nicht nur mit dem Sommer. Auch die Politik in der Region ist hitzig geworden, stellt Shukria fest.
Shukria ist eine moderne Frau. Mit ihrem nagelneuen chinesischen Laptop geht sie sofort online, sobald sie irgendwo einen Internetanschluss findet. Dann sucht sie nach den neuesten Berichten über Mazar-e-Sharif, die umliegende Provinz Balkh, über ihr Land, Afghanistan. Vor allem Bilder faszinieren sie, selbst wenn sie brutal sind.
Sie zeigt auf die Fotos von sechs blutigen Wachmännern, die sie vor einigen Tagen auf ihre Festplatte gespeichert hat. Den Männern wurden während eines Raubüberfalls auf die Bank der Stadt die Hälse durchgeschnitten. Shukria lächelt schief. An Gewalt hat sie sich längst gewöhnt. Die Gewalt, mit der sie tagtäglich konfrontiert wird, hat sie auch auf eine Art tapfer gemacht.
Shukria, geschminkt und in ein bodenlanges ockerfarbenes Kleid gehüllt, hatte schon viele Jobs. Noch im vergangenen Jahr war sie für eine Aufklärungskampagne über die Wahlen unterwegs in den umliegenden Dörfern. „Ich habe den Menschen erklärt, warum die Wahlen wichtig sind, dass die Wahlen eine einzigartige Chance sind, das Schicksal Afghanistans mitzubestimmen“, erzählt sie, noch immer begeistert von dieser Aufgabe. Ihr locker gebundenes Kopftuch rutscht dabei nach hinten weg. Doch sie bemerkt es nicht.
Es sei schwierig gewesen. Viele Dorfbewohner sind Analphabeten. „Sie verstehen nicht, wie sie mit einem Stimmzettel etwas ändern können“, sagt sie, „vor allem die Frauen wissen nicht einmal, dass sie das Wahlrecht besitzen. Und ihre Männer denken nicht daran, ihnen zu erlauben, zum Wählen zu gehen.“
Shukria macht sich keine Illusionen mehr über die gelebte Demokratie in ihrem Land. Manche Kandidaten, vor allem reiche Kandidaten, versuchten immer wieder Stimmen zu kaufen: „Sie geben den Bauern Säcke voll Reis. Die Bauern haben nämlich nicht viel zu essen. Klar, dass sie auf diesen Trick reinfallen, sie stimmen dann für den, der am meisten geschenkt hat, ohne zu wissen, was dieser ihnen versprochen hat, was er vor hat oder was er bisher gemacht hat. Die meisten kennen sowieso nur einen Kandidaten.“ Shukria schüttelt mit dem Kopf. Während der Wählerregistrierung, erzählt sie, sei es schon vorgekommen, dass Frauen die Beamten anschließend fragten, wo sie nun das versprochene Lebensmittel abholen könnten.
Shukria, die Rastlose, arbeitet für die Wahlkommission, die für die Durchführung einer ordnungsgemäßen Wahl zuständig ist. Shukria glaubt selbst schon lange nicht mehr, dass die Wahlen hier überhaupt frei und fair ablaufen können. Nicht zuletzt, weil die unabhängige Kommission gar nicht unabhängig sei, wie sie meint. Das habe doch schon die letzte Präsidentschaftswahl gezeigt, sagt die junge Frau. Damals seien viele Wahlurnen gar nicht richtig ausgezählt worden oder waren nach dem Urnengang mit präparierten Urnen vertauscht worden, in denen schon andere Stimmzettel lagen.
Isatollah Amroz beteuert, dass diesmal all das nicht passieren werde. Man habe doch aus den letzten Wahlen gelernt, beteuert er. Amroz muss das sagen. Er ist der Chef der unabhängigen Wahlkommission der Stadt Mazar-e-Sharif. Das sei die Schuld einiger fauler Äpfel gewesen, Übeltäter, die längst aus dem Dienst entfernt und bestraft seien – für mindestens 15 Jahre. Amroz, der früher an der Universität Kabul lehrte, weiß natürlich, unter welchem Generalverdacht er und seine Mitarbeiter stehen. Daher erklärt er gewissenhaft: „Wir treffen uns regelmäßig mit Regierungsvertretern, aber da geht es nur um die Dinge, die die Regierung in unserem Auftrag erledigen muss, um einen sicheren Ablauf der Wahlen zu garantieren. Also um Sicherheit.“
Der kleingewachsene Akademiker erklärt und erklärt. Natürlich treffe seine Kommission auch regelmäßig die Gegenseite. Wöchentlich berichten ihm die Kandidaten, welche Schwierigkeiten ihnen im Wahlkampf widerfahren. „Die meisten Probleme, die sie haben, haben sie untereinander“, erzählt Amroz achselzuckend, „sie überkleben sich gegenseitig ihre Wahlplakate oder die Bodyguards des einen schießen auf die Wächter des anderen.“ Vorfälle, die sich Amroz anhört, die er aber nicht beeinflussen kann. Er und seine Kommission leiten die Beschwerden weiter an die Beschwerdekommission. Was daraus wird, weiß er nicht, sagt Amroz und lächelt.
In Afghanistan hat die Institution, die hier jeder unter Fifa kennt, nichts mit Fußball zu tun. Aufgabe der Fifa ist das Überwachen des gesamten Wahlprozesses. Also auch von Beamten wie Isatollah Amroz. Doch selbst bei Fifa scheint man nicht so optimistisch zu sein wie Amroz, der noch immer so etwas wie Zuversicht ausstrahlt. Ein Mitarbeiter der Fifa, der lieber ungenannt bleiben möchte, sitzt zwischen gackernden Hühnern im Garten seiner Behörde. Danach gefragt, berichtet er, dass seine Organisation diesmal viel mehr Geld und Personal habe als bei den vergangenen Wahlen. Meistens würde es reichen, wenn seine Mitarbeiter in einem Stimmlokal mal vorbeischauten, damit dort alles ordnungsgemäß abliefe. Das Problem sei, dass sie eben trotz besserer Ausstattung nicht überall sein könnten. „Die Sicherheitslage macht es unmöglich, in entfernt gelegene Dörfer zu fahren“, sagt er sachlich. „Es wird wohl nicht überall gewählt werden. Aber die Wahlen werden stattfinden“, fügt er hinzu. „Einfach, weil sie stattfinden müssen.“