Als sich am Mittwochnachmittag das Plenum der Abgeordnetenkammer anschickt, die Pensionsreform zu diskutieren, deutet gleich zu Beginn viel darauf hin, dass es keine große Rentendebatte geben wird. Der Sitzungssaal ist kaum mehr als zur Hälfte gefüllt. In die Rednerliste hat außer ADR-Gruppensprecher Gast Gybérien sich kein Spitzenpolitiker der Fraktionen eingetragen, und Lydia Mutsch, die Berichterstatterin des Sozialausschusses zur Reform, nimmt gleich die Redezeit der gesamten LSAP-Fraktion in Anspruch, so dass kein Sozialist sich mehr zu äußern braucht – nur noch Sozialminister Mars Di Bartolomeo. Als der den Saal betrat, hielt Lucien Weiler von der CSV ihm grinsend das Tageblatt hin, das auf der ersten Seite fett titelte: „Pensionssystem: Die Demontage beginnt“. Mit einem „Ach ...!“ und einer wegwerfenden Handbewegung hat der Minister die Zeitung beiseite gewischt. Jetzt soll doch nicht der Moment der großen Kontroverse kommen. Jetzt doch nicht.
Aber immerhin: Über mehrere Legislaturperioden hinweg hatte die Rentenfrage die Politiker fast aller Parteien in Atem gehalten. Bis 1998 eine CSV-LSAP-Koalition das Fünf-Sechstel-Pensionssystem im öffentlichen Dienst abschaffte und drei Jahre später eine CSV-DP-Regierung einen Rententisch organisierte, der für die Versicherten in der Privatwirtschaft zu einer zehnprozentigen Leistungsverbesserung führte. Danach fand sogar das ADR, mit dem Rententhema seien keine Wahlen mehr zu gewinnen, und benannte sich in Alternativ-demokratesch Reformpartei um. Nach zehn Jahren der Ruhe soll das Parlament nun einen Kurswechsel beschließen und nach drei Jahrzehnten sukzessiver Rentenerhöhungen im Privatsektor die Weichen zur Umkehr stellen.
Weil das ein heißes Eisen ist, schreckt im Grunde jede der großen Parteien davor zurück, das richtig laut zu sagen. Bis auf den einsamen Déi-Lénk-Abgeordneten Serge Urbany, für den die Pensionsreform, weil sie auf vierzig Jahre gestaffelte Leistungssenkungen festschreibt, eine „heimtückische und rabiate Gegenreform“ darstellt. Aber solche Einwürfe passen am Mittwoch ebenso in die Dramaturgie der Kammersitzung wie die kleine Kundgebung von vielleicht zwanzig Kommunisten und Déi-Lénk-Mitgliedern vor dem Parlamentsgebäude, die sich eine halbe Stunde lang in der Kälte die Beine in den Bauch standen und Schilder mit „Neen!“ und „Rentenklau“ hoch hielten: Es gebe halt „diametrale Unterschiede“ in den Ansichten zur Reform, sagt Berichterstatterin Mutsch, und der Sozialminister erklärt später gleich zwei Mal hintereinander, dass „diese Reform polarisiert“. Deshalb sei sie „der bestmögliche Zwischenweg“, so Mutsch. Sie sei der „Link“ zwischen den „polarisierten Positionen“, den zu finden „nicht selbstverständlich gewesen“ sei, so der Sozialminister. Doch als sein liberaler Vorgänger Carlo Wagner, der Held des Rententischs, ihm vorhält, es gebe „keinen Konsens“ zur Reform, lacht Di Bartolomeo laut durch den Saal: In Wirklichkeit reicht der ungeschriebene Konsens, sich hinter dieses Gesetzeswerk erst einmal zurückzuziehen und die Legislaturperiode vorübergehen zu lassen, sehr weit. Die Dankbarkeit gegenüber dem Sozialminister für sein taktisch cleveres „Ab durch die Mitte!“ ebenfalls.
Deshalb kommt auch kaum ein Redner darauf zu sprechen, dass mit dem Inkrafttreten der Pensionsreform zum 1. Januar die automatische Rentenanpassung nicht erfolgt – obwohl das mit der Reform gar nichts zu tun hat und vom Regierungsrat im April als Teil des ersten Sparpakets von diesem Jahr beschlossen wurde. Dadurch werden auch die nach der Reform neu gewährten Renten bis Ende 2013 lediglich an die Reallohnentwicklung bis Ende 2009 angepasst.
Aber quer durch die großen Parteien zieht sich bereits der Konsens, dass nach der Reform vor der Reform ist. Die DP redet zwar schon lange nicht mehr vom Kapitaldeckungsverfahren für Berufseinsteiger wie noch 2008, wünscht sich aber „mehr Eigenverantwortung“ für die Versicherten und „bessere Regelungen“ für betriebliche Zusatzrenten und private Rentenversicherungen. Die automatische Rentenanpassung würde die DP ganz abschaffen. Die ADR würde die Rentenanpassung nur noch gestaffelt für kleine und mittlere Renten gewähren und in den nächsten zwölf Jahren pro Jahr einen Monat länger arbeiten lassen. Die Grünen wagen sich am weitesten vor und könnten sich, neben einer Diskussion um „alternative Einnahmequellen“ vorstellen, die Beitragsbemessungsgrenze vom fünf- auf den dreieinhalbfachen Mindestlohn zu senken. Wodurch die auszuzahlenden Renten mitsänken.
Die CSV-Fraktion geht etwas vorsichtiger vor. Ihr gehören ein Michel Wolter, der Anfang des Jahres noch „Nachbesserungen“ am Reformtext verlangte, ebenso an wie Ex-LCGB-Präsident Robert Weber, der später gegen die Reform stimmen wird, oder wie Serge Wilmes, der Vorsitzende des CSV-Nachwuchsverbands CSJ, der noch am Samstag auf einer ganzen Zeitungsseite im Luxemburger Wort die Pensionsreform ein „Trojanisches Pferd“ nannte, das den Interessen der Jugend zuwiderlaufe, die Reform dann aber mitstimmt. Oder ein Sozialpolitiker wie Paul-Henri Meyers, der in der Vergangenheit immer wieder meinte, dass Rentenversprechen im umlagefinanzierten System irgendwie auch Rentenrechte sind. Nicht zu vergessen, dass den CSV-Senioren die Reform zu weit geht. Deshalb stellt im Parlament auch nicht Meyers, sondern die gesundheitspolitische Sprecherin Martine Mergen „einfach mal in den Raum“, ob die „Pension à la carte“, nach der für eine Rente in heutiger Höhe drei Jahre länger gearbeitet werden müsste, nicht besser schon nach 20 Jahren voll wirksam werden sollte und nicht erst nach 40 Jahren, wie im Reformtext steht. Und ob der proportionale Steigerungsfaktor in der Rentenformel nicht nur auf das Niveau vor der Pensionsreform von 1987 gesenkt werden sollte, sondern noch weiter. Diese Frage müsse erlaubt sein, „weil die Renten ja weiterhin an den Index angepasst werden“. Und weil, wenn die Pensionsreform nur dazu anreizen soll, drei Jahre länger zu arbeiten, „ein Gap“ von weiteren drei Jahren bleibe, falls die Lebenserwartung in den nächsten vier Jahrzehnten tatsächlich um sechs Jahre steigt.
Bei so vielen Bemerkungen von den Bänken des Koalitionspartners hat die LSAP regelrecht Glück, dass Lydia Mutsch mit ihrem Bericht zur Reform die Redezeit der Fraktion mit beanspruchte. Aber auch Mutsch hat zum Schluss erklärt, die Pensionsreform sei nun lediglich „eingeleitet“, weil „das hier nur punktuelle Anpassungen sind“. Damit ist sie nicht gerade derselben Meinung wie der Sozialminister, der am Tag zuvor im RTL-Radio noch erklärte: „Ich will mit der Reform das System für die nächsten Jahrzehnte in trockene Tücher bringen.“ Der Abgeordnete und frühere Vizepräsident der Transportgewerkscfaft FNCTTFEL, Roland Schreiner, enthält sich beim Votum zur Reform seiner Stimme.
Folgt aus all dem, dass die Parteien eine „Pensionsreform 2.0“ zu einem großen Thema für die Wahlen 2014 machen werden? Eigentlich müssten sie es. Denn eine erneute große Auseinandersetzung in der nächsten Legislaturperiode ist so gut wie sicher: Ab 2014 soll jedes Jahr überprüft werden, ob die Einnahmensituation der Pensionskasse es erlaubt, die laufenden Renten an die Reallohnentwicklung anzupassen. Und fünf Jahre nach Inkrafttreten der Reform – und dann immer alle fünf Jahre – soll entschieden werden, ob die Beiträge erhöht werden müssen oder nicht. Weil ein Aussetzen der Rentenanpassung ebenso wie eine Beitragserhöhung nur über ein Gesetz erfolgen kann, wäre eine neue Rentendebatte unvermeidlich. Sie würde jedoch vermutlich kontroverser geführt wie alle Diskussionen dieses Jahr: Übersteigen die Ausgaben der Pensionskasse die Einnahmen und wächst die Reserve nicht weiter, muss die Rentenanpassung um mindestens die Hälfte gekürzt werden. Ab 2018 könnte damit zu rechnen sein. Eine Beitragserhöhung könnte das vermeiden. Aber: Ebenso, wie Widerstand der Gewerkschaften gegen Änderungen der Rentenanpassung sicher ist, dürften die Unternehmerverbände gegen eine Beitragserhöhung sein. Die Regierung müsste dann zwischen zwei Positionen entscheiden, die genauso weit auseinander liegen wie die zur Reform jetzt. Nur dass es dann vor allem den Gewerkschaften um alles oder nichts gehen könnte: Wer weiß denn, ob die Rentenanpassung je wieder voll einsetzt, wenn an ihr einmal gedreht wurde?
Vielleicht aber werden zumindest CSV und LSAP noch abwarten, welche Sachzwänge sich im nächsten Jahr aufbauen. Hatten sie es seit dem Rententisch vermieden, die Pensionsfrage zu politisieren, und sich standhaft allen Forderungen der Opposition nach Einberufung eines Rententisch II widersetzt, muss nicht hinter jeder Einlassung im Kammerplenum gleich ein politisches Programm stehen. Aber es könnte Druck aus der EU geben. Im Rahmen des Europäischen Semesters zur Haushaltskoordination war schon 2011 die „Empfehlung“ des EU-Rates an Luxemburg ergangen, eine groß angelegte Reform einzuleiten, um das Pensionssystem mit Horizont 2060 „abzusichern“. Nach den in letzter Zeit wegen der Euro-Krise verabschiedeten Kontrollmaßnahmen haben diese Zwänge zugenommen. Die „implizite Staatsschuld“ für künftige Ausgaben, die durch die älter werdende Bevölkerung entstehen, wird über einen EU-weit verbindlichen Formelapparat dem mittelfristigen Haushaltsziel zugerechnet, über das die Mitgliedstaaten Anfang jedes Jahres in ihrem Update zum EU-Stabilitätsprogramm zu berichten haben. Bei anhaltender Krise und einem Wachstum von vielleicht nur einem Prozent in Luxemburg im nächsten Jahr könnte es schon sein, dass in Europa Entscheidungen vorweggenommen werden, die in Luxemburg lieber vertagt worden sind. Dann könnte plötzlich auch über die Rentenleistungen gesprochen werden. Und womöglich sogar über die Beamtenpensionen im Übergangsregime, an die bei der Diskussion dieses Jahr lieber niemand rührte.
Peter Feist
Catégories: Pensions
Édition: 09.11.2012