An der kahlen Wand in Steve Kariers kargem Direktorenbüro hängt eine Fotokopie aus der Fachzeitschrift Theater heute, April 1999: "Ich bin kein Markenartikel, ich bin ein Mensch", lautet der Titel über dem Foto einer neckisch grinsenden jungen Frau mit Bubifrisur und Armyboots. Es ist Sarah Kane, die Autorin von u.a. Zerbombt, einem Stück mit dem sie 1995, gerade mal 24-jährig, in London einen der größten Theaterskandale seit Kriegsende provozierte. Am 19. Februar 1999 wurde sie tot aufgefunden; sie hatte sich, nach mehreren Depressionen und Selbstmordversuchen, in einer Nervenklinik erhängt.
Ein biederes Hotelzimmer in Leeds. Ein Mann und eine Frau zerfleischen sich. Sie mag keinen Schinken, und er benimmt sich wie ein Schwein. Die junge, lebensunerfahrene und naive Cathy ist dem sterbenden, seine Lungen hinaushustenden Skandalreporter Ian ins Hotel gefolgt, weil er am Telefon so traurig klang. Früher waren sie ein Paar, aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Sie ist labil und verunsichert, er hat nichts mehr zu verlieren und ist brutal. Ihre Annäherungsversuche sind verzweifelt, ihre Geschichte hoffnungslos. Er weiß, dass er bald sterben wird, besäuft sich und lässt sich zu abscheulichen Erniedrigungen herab.
Sie will ihn trösten, doch er will bloß ihren Körper erobern, als sei es feindliches Territorium. In der Nacht wird er sie vergewaltigen. Und der Krieg breitet sich über die ganze Stadt aus.
Weil es immer ein noch größeres Schwein gibt, erscheint plötzlich ein Soldat, jung und verzweifelt, also schamlos. Die gleichen Gräuel werden sich, um ein vielfaches gesteigert, wiederholen. Die Gewalt und Brutalität steigern sich ins Abnorme, die Handlung auf der Bühne ins für den Zuschauer fast Unerträgliche. Das Mampfen der Menschenfresser wird unterstrichen durch die grellen Gitarrenriffs aus Neil Youngs Musik zu Dead Man.
Sarah Kane wollte Großbritannien und Bosnien zusammendenken. "Das Theater ist keine externe Kraft, die auf die Gesellschaft einwirkt," sagte sie, "es ist ein Teil von ihr, eine Wiedergabe dessen, wie die Menschen innerhalb der Gesellschaft die Welt sehen. Filme, Bücher, Theater, sie alle stellen etwas dar, was es bereits gibt, wenn auch nur im Kopf eines einzelnen, und durch diese Darstellung können sie, was sie beschreiben ändern oder verstärken." Sie schrieb dieses, ihr erstes zur Aufführung gelangte Stück während des Bosnienkriegs.
Drei Tage vor der Escher Premiere des Stücks zeigte arte Peter Kosminskys Docu-Drama Warriors, eine Verfilmung von Zeugenaussagen britischer UN-Blauhelme, die 1992-93 in Bosnien waren. Ihre Schilderungen übertreffen jene des Soldaten in Zerbombt um etliches an Grausamkeit. Am Schlimmsten für die Soldaten war ihre Ohnmacht, erzählten sie, dass sie nichts gegen die Gewalt vor ihren Augen unternehmen konnten oder durften. In Sarah Kanes Stück empfindet Cathy eine ähnliche Ohnmacht gegenüber der Gewalt: sie wird ohnmächtig und freut sich darüber, dass sie minutenlang einfach "weg" war.
Sarah Kanes Stück ist mit Schweiß, Blut, Sperma und Urin geschrieben. Uwe Dag Berlin lässt in seiner Inszenierung keinen Zweifel an der Künstlichkeit des Blutes oder der Gehirnmasse. Es ist Theater, das Stück hat seine eigene Poesie, seinen Galgenhumor sogar, und für Kane gab es in der Zeit noch immer Zartes in der Verrohung - immer wieder versuchen Cathy und Ian sich zu lieben - und sogar ein Quäntchen Hoffnung in einer kranken und kaputten Welt.
Steve Karier, bis vor ein paar Monaten am Bochumer Schauspielhaus, an dem die Inszenierung im Frühling 1999 Premiere hatte, spielt Ian. Die Bestie. Das gefährliche, weil verwundete Tier, das um seinen herannahenden Tod weiß. Und um seine Verbrechen. Wenn er nicht an seiner verrotteten Lunge - oder das, was davon übrig bleibt - stirbt, dann werden ihn die Killer umbringen, für die er gearbeitet hat. Sein Ian ist faschistoide, brutal, aggressiv und zynisch - Karier gibt sich ihm hin, gibt ihm alle Gefährlichkeit, alle Abscheulichkeit, die er verlangt. Die zierliche Elena Meißner ist ein wahres Kind ihm gegenüber, immer auf der Hut und trotzdem unfähig sich loszureißen. Peter Jordan als Soldat hingegen fällt es trotz Kriegsbemalung und vollem Outfit schwer, Kariers Gefährlichkeit zu übertreffen.
Es wäre schade, wenn nach dieser Rückkehr des Schauspielers Karier nur noch vergilbende Fotokopien im Büro des Direktoren übrig blieben.
Zerbombt / Blasted von Sarah Kane; Inszenierung: Uwe Dag Berlin; mit: Steve Karier, Elena Meißner und Peter Jordan; Bühne: Tina Klietz; Kostüme: Ute Lindenberg; Regieassistenz: Claudia Steinseifer. Weitere Vorstellungen in der Escher Kulturfabrik am 13., 14., 20., 21., 22., 27. und 28 November jeweils um 20 Uhr. Telefon für Reservierungen: 55 88 26, Montags bis Freitags zwischen 12 und 18 Uhr.