Goethe, unterwegs die französische Revolution zu zerschlagen, blickte 1792 vom Bockfelsen über die Festung. Im selben Jahr begann, von der Revolution begeistert, der 22-jährige Hölderlin seinen Hyperion zu schreiben.
Im Zelt des Théâtre national auf dem Glacis der inzwischen geschleiften Festung griff David Bennent am Sonntag nach einem Bild und begann, die leere Leinwand bedächtig, zögerlich, zu beschreiben: die Bildbeschreibung Heiner Müllers, des skeptisch Begeisterten der Oktoberrevolution.
"In meiner Bildbeschreibung spreche ich von der Zeichnung einer Studentin in Sofia, die in ihrem ersten Semester war," erinnerte sich Müller 1988 im Katalog einer deutsch-amerikanischen Kunstausstellung. "Natürlich entstanden durch diese mangelnde Perfektion Räume, die mit perfekter Zeichnung oder Malerei zugedeckt worden wären. Da waren Risse in der Abbildung, durch die ein Aspekt von dem Abgebildeten durchkam, der sonst nicht sichtbar geworden wäre, der sonst zugedeckt worden wäre. Ich habe dann einfach angefangen, das Bild - so wie es war - zu beschreiben, und an den Stellen, wo diese schlechte Schraffur und die diffusen Wolken waren, ergab sich dann die Möglichkeit, sich etwas anderes zu denken. So wurde allmählich dieses Bild mit Schrift bedeckt', und es wurde dadurch auch immer abstrakter."
Bennent benutzt die "abgestorbene dramatische Struktur" für einen Monolog, und es gelingt ihm mit seinem ruhigen, nachdenklichen, manchmal stockenden Vortrag, einigen eckigen, körpergewandten Griffen, diesen Text entlang seiner Hypothesen zu strukturieren, diesen einzigen siebenseitigen Satz, der mit seinen ständigen "Übermalungen" zuerst den Leser auszuschließen scheint und sich dann zusammebraut wie ein Gewitter. "Mit Bildbeschreibung ist eine bestimmte Phase für mich auf einen Punkt gebracht, auf einen Endpunkt oder Nullpunkt. (...) Sie können das auch Höhepunkt nennen", bilanzierte Müller 1985 in Sinn und Form.
Bildbeschreibung ist, wie Hyperion, die Beschreibung einer imaginären Landschaft. Bei Müller ist es, auch wenn der gedämpfte Verkehrslärm am Sonntagabend ins Zelt drang, eine hoffnungslose "Landschaft jenseits des Todes". Bei Hölderlin, der nie in Griechenland war, kann die klischeehafte Naturidylle Griechenlands in der "Unheilbarkeit des Jahrhunderts", nach allen Irrtümern der Politik und der Liebe noch Trost spenden, wenn er sich - auch nach der Terreur - fragt: "Wie mag der Priester leben, wo sein Gott nicht mehr ist?" Hölderlin verfiel dem Wahnsinn, Müller kurz vor seinem Tod Ernst Jünger.
Heinz Bennent, barfüßig, in verschlissenem Pullover und verwaschener Hose, wandert wie Hyperion über die fast leere Bühne - oder wie Hölderlin 1802 von Bordeaux zurück nach Nürtingen.
Er rezitiert mit der Weisheit des Alters die jugendliche Schwärmerei des Seminaristen und Privatlehrers über "den Übergang aus der Jugend in das Wesen des Mannes vom Affecte zur Vernunft, aus dem Reich der Fantasie ins Reich der Wahrheit und Freiheit", so Hölderlin 1794 an seinen Freund Neuffer.
Die Handlung des Briefromans lässt er weg und filtert die Erkenntnis heraus, die er mit ruhigen, kräftigen Gesten unterstreicht, die theologische Verklärung und klassizistische Überhöhung des erwachenden bürgerlichen Individuums am Ende des 18. Jahrhunderts, das dennoch eins sein will mit der Welt. Einem Text, dessen invertierte Wortstellungen zur hohlen Deklamation verleiten, haucht er souverän Leben ein.
Dann zieht er sich warm an, um unter die Deutschen zu kommen, schon 150 Jahre vor Auschwitz, "durch Fleiß und Wissenschaft und selbst Religion barbarischer geworden". "Die Blutpumpe des täglichen Mords", so Müller, "versorgt den Planeten mit Treibstoff."
Die Aufführung der beiden Texte missachtete ihre chronologische Reihenfolge. Vielleicht weil Hyperion länger dauert, weil Vater Bennent zum Höhepunkt der Vorstellung werden sollte. Oder um das Publikum versöhnlicher in die kalte Sonntagnacht auf dem Glacis zu entlassen.