Gibt es in Luxemburg Familien und Kinder, die dringend hilfsbedürftig sind und bei denen die Hilfe wegen „technokratischer Exzesse“ nicht oder nur verspätet ankommt? Es ist ein Jahr her, dass Déi Gréng das mit dem Gesetz der Jugendhilfe neu geschaffene Office national de l’enfance (ONE) attackierten. Zu schwerfällig, zu bürokratisch, ein „diktatorisches Organ“ gar: die Vorwürfe waren massiv. Ein Jahr später sieht die grüne Abgeordnete Josée Lorsché immer noch „Handlungsbedarf“ – und sie steht damit nicht allein.
So weit wie die Grünen geht die Kritik der Ombudsfrau für Kinderrechte zwar nicht, aber auch Marie-Anne Rodesch-Hengesch, die kürzlich ihren zehnten und letzten Tätigkeitsbericht vorlegte, macht sich Sorgen: Eltern und Erzieher klagten, Hilfen kämen nicht an, die Prozeduren seien zu schwerfällig, das Zusammenspiel zwischen den den Trägern zugeordneten CPI-Diensten (coordination de projets d’intervention), dem ONE und den Erziehungsheimen klappe nicht richtig.
Nun waren die Heime von Anfang an skeptisch gegenüber dem Gesetz, das als wesentliche Änderung die Umstellung von einer Budgetfinanzierung auf eine fallbezogene Finanzierung vorsah. Seit 2011 rechnen Therapiezentren, Kinderheime, aber auch ambulante Hilfsdienste über Fallpauschalen nach Stunden- oder Tagessätzen ab. Je nachdem, ob ein Kind, Jugendlicher oder seine Familie sozialerzieherische, therapeutische oder psychiatrische Unterstützung bekommt, fällt ein anderer Tarif an.
Der ambulante Bereich sei unterfinanziert, sagt ein ehemaliger Heimdirektor dem Land. „Die Finanzierung funktioniert ähnlich wie die Pflegeversicherung, aber die Jugendhilfe ist mit der Pflegeversicherung nicht zu vergleichen, schon wegen der Größe der Leistungsanbieter nicht.“ Tom Bellion, Direktor von der Entente des gestionnaires des centres d’accueil (EGCA) bestätigt – vorsichtig – die Einschätzung: „Im Bereich der stationären Hilfen scheint die Finanzierung zu funktionieren, die ambulanten Hilfen aber bleiben unser Sorgenkind“, so Bellion, der den Vorteil der Heime darin sieht, dass ihre Dienstleistungen von „ihrer Methodologie her fundiert und leichter abzurechnen sind“. Außerdem sind diese von größeren Trägern unterhalten. Im ambulanten Sektor sei das nicht so. Gerade kleinere Vereine fürchten, sie könnten beim Kassensturz am Ende des Jahres nicht länger auf ihre Kosten kommen. Als Folge des zunehmenden Kostendrucks stellen sich einige Dienste neu auf, das ist politisch durchaus gewollt. „Die Anbieter müssen vielleicht die Frage der Regionalisierung ihrer Dienste stärker stellen“, sagt ONE-Direktor Jeff Weitzel. Fahrten zur betreuten Familie schlagen teuer zu Buche und sind finanziell nur teilweise gedeckt. „Vielleicht müssen sich Sozialarbeiter darauf einstellen, statt nur zwei Klienten am Tag, vier oder fünf zu besuchen“, so Jeff Weitzel.
Dass die Befürchtungen von finanziellen Engpässen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen nicht zuletzt die Reaktionen der Politik: Die Tarifstruktur wurde mehrfach überarbeitet, die Verhandlungen für die Tarife für 2013 sind im Gange, so Tom Bellion, der das „konstruktive Klima“ zwischen ONE, Familienministerium und Leistungsanbietern lobt. Der Budgetentwurf von Finanzminister Luc Frieden sieht erstmalig rund 8,5 Millionen Euro für ambulante Erziehungshilfen vor. Der Etat des ONE würde von 64,3 Millionen Euro in diesem Jahr auf voraussichtlich 74 Millionen Euro in 2013 steigen, der Großteil der Summe ist für die Finanzierung der Hilfen vorgesehen.
Auch deshalb wird der ONE misstrauisch beäugt: Weil er mit darüber entscheidet, ob eine Maßnahme, ob stationär oder ambulant, angemessen sit und ergo finanziert wird. Leistungsanbieter müssen ihre Hilfen stärker als bisher begründen. Dass allerdings der ONE die Empfehlungen der zwischen Leistungsanbietern und ONE geschalteten CPI-Diensten inhaltlich hinterfragt, wie das manche befürchten, verneint Jeff Weitzel: „Wenn ein CPI eine Maßnahme für notwendig hält, dann prüfen wir den Fall nicht von Grund auf neu. Wir achten auf technische Fehler.“
Eben dieses Prüfverfahren wird von Einrichtungen und Betreuern als zu schwerfällig empfunden. Die Sorge, dass die inzwischen auf 17 Mitarbeiter aufgestockte junge Verwaltung zu einem „Wasserkopf“ ausufern könnte, hatten Träger schon früh geäußert, als die Beratungen zu dem komplizierten Gesetzeswerk noch im Gange waren. Was nützt es, wenn eine Familie dringend Hilfe braucht, diese aber nicht rechtzeitig ankommt, weil zunächst noch Anträge gestellt und bewilligt werden müssen? Das Gesetz sieht beschleunigte Prozeduren für Notfälle vor. „Wenn es wirklich brennt, sind sowieso meistens Jugendgericht oder Ärzte zuständig“, beruhigt Jeff Weitzel. Seit der Einrichtung des Notrufs für vermisste Kinder 116 000 in diesem Herbst sei das Amt an Werktagen von acht Uhr bis 18 Uhr besetzt.
Mehr Rechenschaft über die erbrachten Hilfsmaßnahmen im Jugendhilfebereich und eine bessere Vernetzung, um Mehrfachbehandlungen zu vermeiden, war erklärte Absicht des Gesetzgebers. In puncto Vernetzung lobt Jeff Weitzel eine Initiative der Kinder- und Jugendpsychiater: Sie haben einen Vorschlag vorgelegt, das die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure und Leistungsanbieter der Jugendhilfe verbessern soll. Wiederholt haben Sozialarbeiter kritisiert, Kinder mit psychiatrischem Behandlungsbedarf würden nicht in der Jugendpsychiatrie aufgenommen, die Wartelisten seien zu lang, die Kriterien einer Aufnahme nicht genügend transparent. Andererseits fürchten die Psychiater, die Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie könnte von überforderten Therapeuten und Erziehern als Abstellgleis missbraucht zu werden.
Hilfeleistungen und Erziehungspläne würden jetzt genauer begründet, dokumentiert und die Kosten transparenter gemacht, so Weitzel. Eben diese Dokumentationen sorgen bei Erziehern für Unmut: „Nun geht wertvolle Zeit, die wir sonst in die Arbeit mit den Betroffenen investieren, verloren, um Berichte zu schreiben, die vielleicht sowieso keiner liest“, polemisiert ein Erzieher eines großen Trägers gegenüber dem Land. Vier Berichte pro Fall jährlich, lautete die Vorgabe, dies in verständlicher Sprache, damit auch Eltern sie verstehen: drei kürzere und einen ausführlichen. Weil sich die Regelung aber als zu aufwändig entpuppte, wurden die Zahl im Sommer auf zwei gekürzt. Die Kritik ist dennoch nicht verstummt, was zum einen vermutlich daran liegt, dass gegen Jahresende wieder Berichte fällig sind. „Wir haben im Jugendhilfesektor noch keine durchgängige Dokumentationskultur“, betont Jeff Weitzel. So schreiben einige besonders detaillierte Berichte, während andere eher nachlässig dokumentieren. „Wir brauchen keine komplizierten psycho-sozialen oder medizinischen Expertisen, sondern Berichte, die die wesentlichen Schwierigkeiten, Ziele und Instrumente benennen“, so der ONE-Direktor, der unterstreicht, die Qualität der Berichte würde allmählich „immer besser“.
Dass eine kohärente Dokumentation wichtig für eine gute Betreuung und für die stärkere Vernetzung verschiedener Hilfen ist, streiten die Träger nicht ab. Aber von der Qualität und Professionalität der CPI-Dienste und des ONE ist nicht jedermann überzeugt. Mit der Jugendhilfe hat der Gesetzgeber zwar Qualifikationsanforderungen für verschiedene Angebote und Aufgaben klarer gefasst. CPI-Sachbearbeiter kann beispielsweise nur werden, wer mindestens zwei Jahre Berufserfahrung im psychosozialen Bereich und eine anerkannte Weiterbildung vorweisen kann. Aber ein strukturelles Problem im Sektor bleibt: der Mangel an qualifiziertem Personal. Vor allem Heimeinrichtungen und Therapiezentren beklagen, dass sie kaum geschulte Erzieher finden, die die anspruchsvolle Begleitung von schwierigen Kindern und ihren Eltern machen wollen. Dann doch lieber in den Kindergarten, ein Sektor, in dem die Nachfrage nach qualifiziertem Personal ebenfalls enorm ist. Ein Braindrain mit Folgen: Wer die Stellenanzeigen im Sozialsektor liest, wird den Eindruck nicht los, dass das Personalkarussell immer schneller dreht. Das gefährdet nicht zuletzt einen wichtigen Erfolgsfaktor in der Arbeit mit hilfsbedürftigen Familien: die Kontinuität in der Beziehung. Dafür kann der ONE allenfalls indirekt etwas: die von den Trägern gestellten, aber dem ONE zuarbeitenden CPI-Spezialisten sind erfahrene Psychologen, Erzieher die nun in den Häusern und für die konkrete Arbeit mit den Betrofffenen fehlen.
Wie gut das ONE seine Mission erfüllt und ob die Jugendhilfe die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, lässt sich noch nicht sagen. Die Familienministerin hatte den Abgeordneten eine Auswertung in drei Jahren versprochen, aber das macht wenig Sinn, schließlich hat das ONE seine Arbeit eigentlich erst vor einem Jahr richtig aufgenommen. Eine Zwischenbilanz soll Land-Informationen zufolge im nächsten Jahr vorbereitet werden, wird aber nicht mehr in dieser Legislaturperiode geschehen. Wie sehr die Jugendhilfe noch Work in Progress ist, lässt sich übrigens auch am Internetauftritt des ONE ablesen: Enthielt die Homepage zunächst kaum mehr als ein paar Namen und Telefonnummern, kann man jetzt Formulare, Organigramme und Statistiken (über die Heimbelegungen) lesen.
„Mit dem Gesetz zur Jugendhilfe wurde eine Riesenbaustelle begonnen“, sagt EGCA-Direktor Tom Bellion nachdrücklich. Das ist nun wirklich nicht untertrieben.
Die Jugendhilfe
Das Gesetz zur Jugendhilfe wurde Ende 2008 nach jahrelangen kontroversen Debatten verabschiedet. Weil die Ausführungsbestimmungen zum Gesetz auf sich warten ließen, sich Träger und Ministerium, respektive Träger untereinander nicht eins waren, wie das Zusammenspiel zwischen Leistungsanbietern und neu geschaffenem ONE organisiert werden sollte, dauerte es noch einmal fast anderthalb Jahre, bis das ONE in den Räumen in der Rue verte in Luxemburg-Stadt sein Zuhause fand und die ersten CPI-Sachbearbeiter ihre Arbeit aufnahmen. Hauptaufgabe des ONE ist es, Familien und Kinder in Not mittels erzieherischer, therapeutischer und anderer Hilfen zu unterstützen, diese zu koordinieren und zu validieren . Ein erklärtes Ziel der Jugendhilfe ist es, die Bedeutung der Justiz bei Familien und Kindern in Not zu mindern und den Akzent stärker auf präventive, ambulante und weniger stigmatisierende Maßnahmen zu legen. Inzwischen ist der Anteil der Heimeinweisungen, die nicht über die Jugendgerichte verordnet werden, gestiegen (laut ONE liegt er bei rund 17 Prozent), aber die Gerichte dominieren diesen Bereich weiterhin. Erfreulich: Die Zahl der Auslandsunterbringungen von hilfsbedürftigen Jugendlichen ist indes in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken (sie lag dieses Jahr bei 127 Platzierungen und früher bei rund 170).