Das Leben von Fantasyautor J.R.R. Tolkien, der mit seinen Buchveröffentlichungen The Hobbit (1937) und The Lord of the Rings (1954) weltweit bekannt wurde, kann man mit Humphrey Carpenters Satz aus seiner ausführlichen Biographie treffend zusammenfassen: „Und dann [...] geschah eigentlich nichts mehr.“1 „Dann“ markiert hier den Wendepunkt in Tolkiens Leben, der sich mit seiner Erennung zum Professor für Anglistik in Oxford vollzog. Davor verlief Tolkiens Leben phasenweise durchaus aufregend: Da gibt es die durch soziale Konvention erschwerte Beziehung zu seiner Jugendliebe Edith Brath (Lily Collins), die Beteiligung am Ersten Weltkrieg, in dem er seine engsten Freunde verlor.
Nun ist mit Tolkien eine Verfilmung dieses Lebens in den Kinos gestartet. Tolkiens Familie hatte sich bereits kurz nach der Kinoveröffentlichung vom Film distanziert, die Darstellung entspreche nicht den wahren Begebenheiten.
Freilich, wer hier eine Dokumentation erwartet, geht fehl: Tolkien ist eine fiktionalisierte Biographie, ein Biopic, das sich auf Tolkiens Erlebnisse stützt, um daraus ein aufregendes Filmdrama nach hollywoodscher Konvention zu stricken. So versucht der Film, über die Aufarbeitung der wichtigsten Lebensstationen des Schriftstellers die Inspirationsquellen für sein Werk offenzulegen: seine Naturverbundenheit, seine unerschöpfliche Liebe für Sprachen und sein Sinn für Kameradschaft.
Es scheint beinahe so, als habe Regisseur Dome Karukoski sich den vorangestellten Satz Humphrey Carpenters zu Herzen genommen, denn er folgt weitestgehend der biografischen Vorlage und hält sich ganz an diese Zäsur, indem er überwiegend markante Lebensstationen in Szene setzt. Jedoch kann er nicht umhin, den Stoff für dramatische Zwecke entsprechend zu modifizieren. Die Zeit mit seinen Freunden an der King Edward‘s School in Birmingham, mit denen Tolkien gemeinsam den TCBS gründete – ein Literaturverein zum Austausch von Ideen –, füllt den Großteil des Films; wahre Leidenschaft für Sprache ist bei diesem Schauspielensemble allerdings wenig zu spüren. Da wo das Bild des kreativen Sprachengenies, das in der Gesellschaft aneckt, durchaus Konfliktlinien anbietet, drängt Karukoski aber auf eine Gewichtung der Liebesgeschichte. Nicholas Hoult gibt sich in der Hauptrolle sichtlich Mühe, dabei will man ihm den umtriebigen Sprachkünstler nicht wirklich abnehmen.
Ein wirklich einschneidendes Erlebnis mit erheblichem Adaptionspotenzial ist wohl die Schlacht an der Somme. Entsprechend wird die Episode des Kriegseinzugs und der Schützengräben als Höhepunkt des Filmes inszeniert. Daraus resultiert eine über weite Strecken langatmige Handlung, die erst gegen Ende wirklich an Dramatik zunimmt. Das wirkt sehr stark dramaturgisch forciert und wenig ausbalanciert. Wenn dann einer von Tolkiens Kriegskameraden sich als Sam namentlich kenntlich macht und plumpe Horror-Effekte einsetzen, feindliche Soldaten sich plötzlich in Nazgûls, die finsteren Schergen aus Tolkiens Fantasiewelt, und Flammenwerfer in Drachen transformieren, dann überschreitet der Film jene Linie, die Tolkiens Werk auf eine zu einseitige, offenkundig biographische Deutung rückführt; damit bedient der Film implizit jene allegorische Lesart des Werks vor der der Autor selbst warnte: „Ich habe eine herzliche Abneigung gegen ‚Allegorie’ [...] Ich glaube viele Leute verwechseln ‚Anwendbarkeit’ mit ‚Allegorie’; aber die eine ist der Freiheit des Lesers überlassen, die andere wird ihm von der Absicht des Verfassers aufgezwungen.“2
Der Ursprung dieser Fantasiewelt Mittelerde ist eben nur partiell in den Kriegserlebnissen anzusiedeln, sicherlich aber in Tolkiens unerschöpflicher, fast schon an Obsession grenzender Liebe für altertümliche Sprachen und für nordische Mythologie. Dieses Porträt des kreativen Philologen, der nach dem Krieg sogar seine akademische Forschungstätigkeit an der renommierten Universität Oxford für die Publikation seines Buches vernachlässigte, bleibt hingegen komplett ausgespart. Dabei wäre gerade die von zahlreichen Hürden geprägte Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Herrn der Ringe durchaus spannend gewesen. Hier dient sie nur mehr als allzu anekdotenhafter, sentimentaler Epilog.