d’Land: In Luxemburg zeigt derzeit eine Kampagne für Sicherheit auf den Straßen ein Plakat, auf dem eine Frau traurig und unbeholfen in einem Rollstuhl zu sehen ist. Wer im Straßenverkehr nicht aufpasst, kann im Rollstuhl landen und wird sein Leben trostlos fristen, scheint das Bild zu suggerieren. Ist die Kampagne gelungen?
Raul Krauthausen: Die Bildsprache des Plakats stigmatisiert Menschen mit Behinderung als diejenigen, deren Leben durch ein vermeidbares Unglück bestimmt ist: „So will man nicht sein“ und „so will man nicht werden“. Sie werden als unglückliche, frustrierte Leute gezeigt – dabei weiß man aus psychologischen Studien, dass zum Beispiel Menschen, die nach einem Unfall querschnittsgelähmt sind, bei guter Betreuung in der Regel in drei bis fünf Jahren wieder das gleiche Lebensglück empfinden wie vor dem Unfall. Aber diese Grundannahme, dass man behindert leidet, ist genau das Problem. Im Übrigen ist die Luxemburger Kampagne eine Kopie einer schlechten deutschen Kampagne.
Auf der Seite Leidmedien.de sammeln Sie Beispiele, wie Medien gerade nicht über Menschen mit Behinderung berichten sollten. Formulierungen wie: „Er leidet unter Behinderung x“ oder „er ist an den Rollstuhl gefesselt“, sind da noch häufig anzutreffen. Weshalb scheint die Diskussion um die Sprache im Umgang mit Menschen mit Behinderung bislang wenig Resonanz zu haben?
Das hat damit zu tun, dass nicht-behinderte Menschen Angst davor haben, selber krank und behindert zu werden – und das Thema dann möglichst weit von sich wegschieben. Sie vermeiden so, dass sie Menschen mit Behinderung kennenlernen. Würden wir einander begegnen, würde man uns nicht aussortieren und an den Rand der Gesellschaft drängen, dann würde sehr schnell verstanden: Eine Behinderung zu haben ist nur eine Eigenschaft von vielen und bedeutet nicht automatisch Leid. Ich empfehle einen Perspektivwechsel. Betrachten Sie die Behinderung doch wie eine Haarfarbe! Man leidet ja auch nicht unter braunen Haaren, sondern hat sie einfach. Das kann auch mal ein Problem sein, aber ist eben nicht immer Thema.
Meist sind Menschen mit einer Einschränkung in den Medien noch die „Sorgenkinder“. Zunehmend werden einzelne jedoch auch als „Superhelden“ inszeniert, die stark sind und vor allem hohe Leistungen zeigen, so die These Ihrer Diplomarbeit. Ist das ein Anzeichen dafür, dass der Umgang sich zu normalisieren beginnt?
Der Blick auf Behinderte ist entweder von Mitleid bestimmt oder sie werden wie eine Art Leistungssportler überhöht. Das sind für mich zwei Seiten einer Medaille. Wenn wir nicht von klein auf lernen, dass Menschen mit Behinderung auch Liebhaberinnen oder Charakterschweine sein können und genau so handwerklich und künstlerisch begabt wie Nichtbehinderte auch, dann bleibt es eine Sonderwelt.
Von der Diagnose „Glasknochen“, der Kindheit in einer integrativen Schule bis hin zum Aktivismus heute, beschreiben Sie Ihren Werdegang in dem Buch Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Sowohl das inklusive Schulmodell als auch die Unterstützung durch Ihre Eltern und Freunde waren demnach ideale Voraussetzungen dafür, dass Sie sich selbstbestimmt entwickeln und leben konnten ...
Nicht jeder Mensch mit Behinderung hat so resiliente Eltern oder das Glück, in einer Großstadt zu leben. Es sind viele Faktoren, die letztlich eine Rolle spielen, und niemand war vorher dafür ausgebildet, auch meine Eltern nicht. Mit weniger Glück und in anderen Umständen hätte ich genauso gut in einer Behindertenwerkstatt oder in einer Einrichtung landen können. Wir müssen dafür sorgen, dass der andere Weg der Standard ist, also die Regelschule, die Unterstützung da, wo sie benötigt wird. Niemand sollte sich dies alles selbst erkämpfen müssen. Aber das steht und fällt mit der Kampfbereitschaft und Kraft der Menschen, die in einer inklusiven Welt leben wollen. Entweder hab ich ein Umfeld, das mich die ganze Zeit betütelt und mich therapieren will, oder ich hab eins, das sagt, wir kriegen das schon irgendwie hin. Wenn man es auf meine Biografie überträgt: Es kommt immer auf das Umfeld an.
Wie weit Inklusion jeweils verwirklicht werden soll, ist durchaus umstritten. Sie sind da eindeutig: Einrichtungen wie Sonderschulen oder Behindertenwerkstätten sollten gänzlich abgeschafft werden.
Ja, wir müssen diese Sonderwelten auflösen! Wir müssen durchsetzen, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr in speziellen Einrichtungen untergebracht werden und diese nicht mehr dafür finanziert werden, dass sie permanent ausgelastet sind. Man könnte Einrichtungen und Unternehmen dafür finanziell belohnen, wenn sie es schaffen, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern oder in Regelschulen.
In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die Schwierigkeiten, als Mensch mit Behinderung eine Liebesbeziehung einzugehen. Mal abgesehen davon, dass Sexualität unter Menschen mit Behinderung tabuisiert wird, welches Rezept haben Sie, damit der Umgang unverkrampfter wird?
Wir machen letztendlich den Fehler, das Thema Behinderung zu „fachkraftisieren“ – dass nur bestimmte, ausgebildete Leute mit Menschen mit Behinderung wegfahren können, sie unterrichten dürfen oder mit ihnen Krankengymnastik machen. Dazu braucht es dann Sonderpädagogen, Pfleger oder Sexualbegleitung. Aber wir können uns auch die Frage stellen: Warum kann ich mir nicht vorstellen, einen behinderten Partner oder eine behinderte Partnerin zu haben? Und inwieweit entlasten diese Fachkräfte, die wir erfinden, die Mehrheitsgesellschaft davon, sich dieser Frage zu stellen? Würden wir miteinander aufwachsen – das ist eben die Antwort auf sehr vieles –, dann wäre es umso bizarrer zu sagen, wenn wir wechseln, dann braucht es eine Fachkraft. Vielleicht würde man sich einfach ineinander verlieben. Ich sage nicht, dass das ein Automatismus wird. Aber die Wahrscheinlichkeit wäre einfach größer.
Mit Wheelmap haben Sie eine App entwickelt, über die Menschen im Rollstuhl weltweit Orte, wie Cafés und Restaurants, eintragen können, die barrierefrei sind. Seit Kurzem gibt es diese App auch für Toiletten. Wie viele Nutzer hat Wheelmap, und hat die App geholfen, Barrierefreiheit öffentlich zu thematisieren? Ist das vielleicht die positive Seite der sozialen Medien im Kampf um Gleichstellung?
Ich denke, dass das Internet gerade da besonders geeignet ist, wo wir spezifische Zielgruppen erreichen wollen, die man im Alltag in seinem direkten Umfeld nur schwer antrifft. Und um Informationen zu streuen, die lange Gültigkeit haben, also: Hat der Ort eine rollstuhlgerechte Toilette? Das ist eine Information, die sehr lange hält, denn sie verändert sich ja nicht ständig, und das hilft ungemein. Wir haben tausende Nutzer, die in den letzten Jahren via App auf einer Online-Karte rund eine Millionen Orte zusammengetragen haben.
Am 3. Dezember werden weltweit wieder Menschen für die Rechte von Menschen mit Behinderung auf die Straßen gehen. Wie kann man die Politik dazu bringen, sich konsequent für Inklusion einzusetzen, und erreichen, dass das Augenmerk nicht nur an Jahrestagen auf die Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung gerichtet wird? Braucht es vielleicht die Wut der „Krüppelbewegung“?
Aktionstage sind sicherlich eine Möglichkeit, auf Themen aufmerksam zu machen, aber wir müssen das Thema viel breiter streuen. Ich bin ein großer Freund von zivilem Ungehorsam und davon, PolitikerInnen und EntscheidungsträgerInnen mit ihren eigenen Argumenten und Waffen zu schlagen. Wer Inklusion will, muss auch bereit sein, Macht abzugeben. Wichtig ist doch die Machtfrage. Wenn weiße, heterosexuelle Männer sagen, sie seien für Diversity, dann sagen sie damit auch, dass sie bereit sind, homosexuellen schwarzen Frauen Macht einzuräumen. Das Gleiche gilt auch hier.
Am 8. Dezember sprechen Sie in Luxemburg bei einer Konferenz. Welche Erwartungen haben Sie daran?
Ich möchte mit den Leuten in den Dialog kommen, Erfahrungen über unseren Kampf für Inklusion in Deutschland austauschen und vielleicht auch etwas aus Luxemburg mitnehmen und lernen.
Zur Person
Raul Aguayo-Krauthausen wurde 1980 in Lima (Peru) geboren und lebt heute in Berlin. Er studierte Kommunikation und Design-Thinking, war Programm-Manager bei einem Radiosender des öffentlich-rechtlichen Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), gründete 2004 den gemein-
nützigen Verein „Sozialhelden“. 2010 ging sein Projekt wheelmap.org online – eine interaktive Landkarte für rollstuhlgerechte Orte. Vor vier Jahren erschien bei Rowohlt sein Buch Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive.