Österreichs Grenzschützer verteilen Broschüren: Wer arabischer Herkunft zu sein scheint, erhält ein Merkblatt. Darauf ist eine Frau in einem Niqab zu sehen. Die Broschüre klärt in vier Sprachen darüber auf, dass am 1. Oktober 2017 das Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz in Kraft getreten sei1. In autoritärer Amtssprache wird der Inhalt des Gesetzes kurz zusammengefasst: An öffentlichen Orten ist die Gesichtsverschleierung verboten, sie muss auf Aufforderung abgenommen werden, ein Verstoß gegen das Gesetz zieht eine „Organstrafverfügung“ über bis zu 150 Euro nach sich. Unvermeidlich erfolgt der Hinweis auf den digitalen Fortschritt: Die Strafe kann auch mit Kreditkarte beglichen werden2.
Das österreichische Gesetz ist der vorläufig letzte Schritt in einer europäischen Entwicklung, die unter diesem Arbeitstitel muslimischen Frauen das Tragen von Burka und Niqab strafrechtlich verbietet, freilich stets eingebettet in ein generelles Verbot der Gesichtsverhüllung, um dem Einwand der Diskriminierung schon im Ansatz zu entgehen. In Frankreich gilt das strafbewehrte Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum bereits seit dem 20. Oktober 20103. Belgien führte das allgemeine Burkaverbot am 1. Juni 2011 ein4. Das niederländische Parlament hat am 29. November 2016 ein teilweises Verbot der Gesichtsverhüllung unter anderem im öffentlichen Personennahverkehr beschlossen5. Im Deutschen Bundestag beantragt die AfD ein allgemeines Burkaverbot6. Vordergründig aus der Sorge um Würde und Gleichheit der Frau. Im Hintergrund aber geht es um „deutsche Leitkultur“, um vermeintlich deutsche Identität, um populistische Trivialdebatten, was zu einer Gesellschaft gehört und was nicht. Gesetze werden gemacht, nicht um zu versöhnen oder zu integrieren, sondern um zu spalten und auszuschließen.
Anders als bei der Diskussion um Kopftuchverbote in öffentlichen Einrichtungen, bei Behörden oder in Schulen – wie man sie besonders aus Frankreich oder Deutschland kennt –, geht es nicht primär um einen Konflikt zwischen Religion und säkularem Staat: Die Diskussion um die Vollverschleierung wird kriminalpolitisch geführt. Das Strafrecht wird zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, oft entkoppelt von normativer und empirischer Vernunft, vor allem orientiert an Vorurteil, Verunsicherung, ja Angst. Die Verbotsnormen, die in Europa Verbreitung und Anhängerschaft finden, sind ein Seismograf für einen – beunruhigenden – politischen Klimawandel.
Aus den Motiven der Gesetzgeber in Frankreich, Belgien und den Niederlanden ergeben sich Spuren dieses Klimawandels. Soziale Normen des täglichen Zusammenlebens – Kleiderordnungen – können Gegenstand exekutivischer Sicherheitspolitik werden. Die Botschaft ist: Wer sich nach seinen Vorstellungen, Wünschen oder religiösen Überzeugungen kleidet, kann als Risiko für die öffentliche Sicherheit angesehen werden. Die Kleidung wird zum Bezugspunkt von Bedrohungsszenarien. Nationale Gesetzgeber in Europa machen bei der Einschätzung von Gefahren und Risiken für die öffentliche Sicherheit vor dem äußeren Erscheinungsbild der Bürger nicht mehr Halt, erst recht nicht, wenn es als Symbol religiöser Überzeugungen dient. Dabei geht es nicht vorrangig um die Lösung von durch Religion und Kultur verursachten Normenkonflikten, sondern um die Kriminalisierung religiös motivierter sozialer Verhaltensnormen, die dem subjektiven Sicherheitsgefühl der Mehrheitsgesellschaft abträglich werden könnten. Strafrecht, das Leitbild einer homogenen Gesellschaft und öffentliche Sicherheit erscheinen in der europäischen Diskussion als Teile eines kraftvollen Konzepts populistischer Politik, das Prinzipien liberaler Demokratien gefährdet.
Strafrecht und Religionsfreiheit
Sollte der luxemburgische Gesetzgeber in einem solchen politisch aufgewühlten Kontext wirklich ein Gesetz erlassen7, das sich in die Reihe europäischer Burkaverbote einfügt, das mithin nolens volens Teil einer fragwürdigen politischen Konzeption gesellschaftlichen Zusammenlebens wird? Meine Antwort darauf ist: Nein, sollte er nicht – muss er auch nicht.
Das Verbot der Gesichtsverhüllung stellt in seiner konkreten Folge des Burkaverbots einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar. Die Burka ist ein religiöses Symbol. Dieses ist – völlig zu Recht – umstritten, gerade auch im Islam selbst. Wir wissen aber seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, dass ein Staat den inneren und äußeren Frieden nur bewahrt, wenn er sich des Zwangs gegenüber religiösen Minderheiten enthält, sich religiös und weltanschaulich neutral zeigt und seinen Bürgern die Freiheit der Religionsausübung gewährt. Die Religionsfreiheit, wie sie sich heute darstellt, gehört zum Kern allen Grundrechtschutzes. In Frankreich verpflichtet die Laizität – den Staat zum gleichberechtigten Schutz einer jeden religiösen Überzeugung, die Bürger zur gegenseitigen Toleranz des jeweils Andersgläubigen.
Die Hürden, um Eingriffe in diese Balance von Religionsfreiheit und den Interessen des säkularen oder auch laizistischen Staates zu rechtfertigen, sind daher hoch. Wären sie es nicht, drohte ein Rückfall in Zeiten, als der Glaube mit den dunklen Seiten gesellschaftlichen Zusammenlebens verknüpft war: gewaltsame Unterdrückung auf der einen Seite, verzweifelter Widerstand auf der anderen. Die Kriminalisierung sozialer Verhaltensnormen, die Ausdruck religiöser Freiheit sind, trifft mithin auf einen festen, aus historischer Einsicht gewachsenen normativen Rahmen. Sie unterliegt hohen Maßstäben – den Erfordernissen eines allgemeinen Gesetzes, eines sachlichen Grundes für einen Grundrechtseingriff, nicht zuletzt der Schranke der Verhältnismäßigkeit. Und sie wirft schließlich die kriminal- und rechtspolitische Frage auf, welche Risiken wir eingehen, wenn wir diese Maßstäbe vergessen.
Lex incerta
Wer straft, bedarf eines Gesetzes. Das Prinzip der Strafgesetzlichkeit setzt ein in seinem Inhalt und in seinen Rechtsfolgen klar bestimmtes Gesetz voraus. Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen können, was verboten und was erlaubt ist. Es muss vorhersehbar sein, welche Rechtsfolgen im Falle eines Normenverstoßes verhängt werden können. Das ist der Kern des Bestimmtheitsgebots – der lex certa.
Der luxemburgische Gesetzgeber, inspiriert vom niederländischen Modell, optiert für ein bereichsspezifisches Verbot der Gesichtsverhüllung – im Unterschied zu den Regelungen in Frankreich oder Belgien, die das Verhüllungsverbot auf den gesamten öffentlichen Raum erstrecken. Will man nun Bereiche definieren, in denen das Burkaverbot greift, gelangt man jedoch schnell über die Grenzen des gesetzlich Machbaren hinaus. Der erste Vorschlag eines neuen Art. 563 Abs. 10 im Code pénal sah vor, die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Personennahverkehr, in öffentlichen Lehranstalten, öffentlichen Gebäuden und Pflegeeinrichtungen zu untersagen.
Schon in seiner ersten Stellungnahme aber erhob der Staatsrat – zu Recht – Bedenken. Der Gesetzgeber grenze nicht genau zwischen öffentlichem Personennahverkehr und anderen privaten Formen des Transports ab. Ebenso bleibe unklar, in welchen öffentlichen Gebäuden das Verbot der Vollverschleierung greife. Gehören Flexibusse, der Call a Bus-Service dazu oder nicht? Sind Philharmonie, Mudam, die Nationalbibliothek erfasst oder nicht? Sind auch Kulturveranstaltungen von Privatpersonen in öffentlichen Gebäuden betroffen oder nicht?
Der Gesetzgeber versucht nun, diesen Bedenken zu begegnen – und dehnt den Anwendungsbereich weiter aus. Das Verbot soll sich nun nicht mehr nur auf den öffentlichen Personennahverkehr, sondern auf alle gemeinschaftlich genutzten Verkehrsmittel erstrecken. Erfasst werden nun alle Bildungseinrichtungen und öffentliche Gebäude, in denen öffentliche Leistungen von Personen des öffentlichen Rechts erbracht werden. Indes, die Zweifel bleiben: Der Staatsrat fragt, ob das Gesetz auch auf Mietwagen Anwendung findet, vor allem aber stellt er fest, der vom Gesetzgeber beabsichtigte Ausschluss kultureller Einrichtungen wie Mudam und Philharmonie folge nicht eindeutig aus dem Gesetz. Zugespitzt: Wer künftig mit verhülltem Gesicht durch die Straßen und Gebäude Luxemburgs geht, bedarf gegebenenfalls einer detaillierten Gebrauchsanweisung, um zu verstehen, wann und wo die Gesichtsverhüllung strafrechtlich verboten ist. Daher stellt der Staatsrat auch zu Recht klar: Die vorgeschlagene Regelung ist in ihrer derzeitigen Form mit dem Prinzip der Strafgesetzlichkeit nicht zu vereinbaren.
Nun wäre es ein Trugschluss zu glauben, ein allgemeines, auf den gesamten öffentlichen Raum sich erstreckendes Verbot der Gesichtsverhüllung wäre die bessere Lösung. In Frankreich und Österreich zeigen sich beim Vollzug der jeweiligen Gesetze derartige Probleme, dass allein diese den luxemburgischen Gesetzgeber hinreichend abschrecken müssten, die Vollverschleierung strafrechtlich zu verbieten. In Österreich wurde eine Fahrradfahrerin verwarnt, die sich zum Schutz vor der Kälte den Schal über das Gesicht gezogen hatte. Ein Mann im Haifischkostüm wurde angezeigt, als er als Werbefigur für die Neueröffnung eines Computerladens in Wien auftrat. Selbst das Maskottchen des österreichischen Parlaments – ein Hase – wurde während eines Werbespots von der Polizei aufgefordert, sich zu identifizieren. Straßenmusiker mit Clownmasken werden mit Geldstrafen belegt. In Frankreich klären Verwaltungsvorschriften darüber auf, dass der Innenraum eines Fahrzeugs nicht zum öffentlichen Raum gehört. Dies könnte sich jedoch ändern, sobald eine Person mit verhülltem Antlitz aus dem geöffneten Fahrzeugfenster hinausblickt. Auch darf das Verbot nicht zwangsweise durch öffentliche Bedienstete – etwa das Kontrollpersonal eines Museums – durchgesetzt werden. Diese sind vielmehr gehalten, die Polizei zu verständigen.
Diese Erfahrungen sollten lehren: Ein neuer Artikel 563 Abs. 10 im Code pénal bliebe eine lex incerta. Wer ein Verbot der Gesichtsverhüllung erlässt, kriminalisiert Alltagsverhalten und lässt die Grenzen zwischen straffreiem privatem Raum und strafbarem öffentlichem Verhalten verschwimmen. Er stellt zudem Anforderungen an Exekutivbehörden, die bei der Vollstreckung eines solchen Verbots entweder scheitern oder ein jederzeit und an jeder Stelle wirksames System von „Sittenpolizei“ etablieren müssen – das wäre eine Zumutung für alle.
„Leitkulturen“
Die Praxis der Anti-Gesichtsverhüllungsgesetze zeigt, dass das Burkaverbot tief in den Status der betroffenen Frauen als Bürgerinnen einer Gesellschaft eingreift, vor allem aber ihr Alltagsleben nachhaltig berührt. In Frankreich wird eine Burka tragende Demonstrantin während einer Demonstration gegen die Gesichtsverhüllung festgenommen, danach zu einer Geldbuße und Sozialarbeit verurteilt8. Eine andere Frau wird im Supermarkt von der Polizei angehalten und später gleichfalls gerichtlich zu Geldbuße und Sozialarbeit verurteilt9. Es entstehen Situationen, in denen in der Mitte der Gesellschaft, sichtbar für alle, Abweichungen von tradierten Verhaltensnormen öffentlich als „fremd“ stigmatisiert werden. Sieht so eine Gesellschaft aus, die integra-
tionsfähig ist, die Toleranz übt, in der es auf Zusammenhalt ankommt?
In Frankreich, Belgien und den Niederlanden findet sich darüber hinaus ein Topos zur Begründung des Eingriffs in die Religionsfreiheit, der Karriere zu machen beginnt: „Vivre ensemble“. Dahinter verbirgt sich ein Konzept öffentlicher Moral, der guten Sitten oder der guten Ordnung. Wer sein Gesicht verhüllt, verweigere die Kommunikation mit anderen und verletze so deren Rechte. Bekleidungsregeln ergeben sich als Teil eines gemeinsamen Fundaments gegenseitiger Pflichten und Grundprinzipien gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das ist ein problematisches Konzept. In seinem Urteil „S.A.S gegen Frankreich“ verwirft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Begriff des „Vivre ensemble“ nicht. Entgegen manch politischer Lesart billigt er ihn aber ebenso wenig. Das Gericht erkennt ihm nur einen Grad an Plausibilität zu, der den nationalen Gesetzgeber berechtigt, das Tragen einer Burka im Rahmen seines gesetzgeberischen Ermessens als Verletzung der Freiheit und der Rechte anderer anzusehen.
Ausdrücklich aber warnt das Straßburger Gericht vor den Folgen des Gebrauchs dieses Topos. Zu Recht: Der Begriff ist vage – juristisch erweitert er den Begriff des „ordre public“ um eine sehr dehnbare immaterielle Komponente. Dahinter verbergen sich politische Leitbilder der Mehrheitsgesellschaft, wie gesellschaftliches Zusammenleben funktionieren soll – manche nennen das „Leitkultur“. Politisch kann sich damit eine Tendenz zur Exklusion verbinden – wer dem Mehrheitsbild nicht entspricht, was „fremd“ erscheint, wird ausgeschlossen. Juristisch ist das gefährlich: Leitet man aus der „Leitkultur“ die Befugnis zum strafrechtlichen Zwang ab, könnte das Strafrecht insgesamt bald zum Instrument jeder mehrheitsfähigen Sitten- und Moralvorstellung werden, um politisch erwünschte Homogenität durch Strafe herzustellen. Das geht zu Lasten der Grundrechte. „The right to be an outsider“, wie das Sondervotum der Richterinnen Nußberger und Jäderblom im S.A.S-Urteil formuliert, ist das eigentlich konstitutive Element einer freiheitlichen Gesellschaft.
Ungeahnte Folgen
Schließlich: Wer strafrechtliche Verbote formuliert, muss ihre Folgen bedenken. Das ist ein normatives wie auch ein empirisches Gebot. Jeder Gesetzgeber muss sich fragen, ob eine Maßnahme geeignet, erforderlich, angemessen, kurz: verhältnismäßig ist. Die Reflexion über die Folgen eines Strafgesetzes stellt einen rationalen Bezug zwischen Rechtspolitik und Rechtswirklichkeit her. Das beginnt mit der Frage nach der eigentlichen Schwere des Problems. Wenn es keine hinreichenden Belege dafür gibt, dass die Zahl der Burka-Trägerinnen in den Kommunen signifikant steigt – und wenig spricht dafür –, gibt es auch keinen substantiierten Grund, die auf kommunaler Ebene geltenden Verordnungen zur Gesichtsverhüllung durch eine staatliche Vorschrift zu ergänzen, dies zumal wenn das potentielle Nebeneinander zu weiterer Rechtsunsicherheit führen kann.
Dagegen belegen empirische Studien und Befragungen Burka tragender Frauen, dass bei den befragten Frauen die Burka ein Symbol religiöser Überzeugung ist, das freiwillig getragen wird10. Verstörend mag dabei sein, dass bei jungen Musliminnen mitunter die Vollverschleierung eher als ein Symbol der Befreiung als der Unterdrückung betrachtet wird. Dies erfordert jedoch nicht den Griff zum Strafrecht, sondern die verstärkte und ungeschminkte politische und kulturelle Auseinandersetzung mit den Gründen und den Wegen zu potenzieller Radikalisierung. Kriminalsoziologisch wissen wir, dass die Anwendung des Strafrechts vor allem zur Exklusion des Normenübertreters führt. Diese Folgewirkung des Strafrechts ist gerade hier kontraproduktiv: Hinter einem von Sozialarbeitern und Psychologen konstatierten Trend der Entfremdung junger Muslime von den Werten und Prinzipien der Aufklärung, stehen unter anderem sozio-ökonomische Problemlagen und die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung, die nur durch politischen Dialog, nicht aber mit Sanktionen überwunden werden können. Im Gegenteil: Ein Verbot wäre nur der Ausganspunkt für Stereotypisierung und weitere Diskriminierung. In den Rechtsordnungen mit Burkaverboten zeigen sich alarmierende Tendenzen verbaler und körperlicher Übergriffe gegen die vom Burkaverbot betroffenen Frauen. Wer die Burka verbietet, sollte diese vielleicht ungeahnten Folgen mitbedacht haben.
Wir leben in einer Zeit der Unsicherheit, wie stark die Prinzipien und Werte der Aufklärung noch in den Gesellschaften des Westens verankert sind. Sie werden herausgefordert durch autokratische Herrschaftsmodelle, durch religiöse Fundamentalismen, durch soziale Brüche, nicht zuletzt aber werden sie durch die westliche Wertegemeinschaft selbst in Frage gestellt, teils diskreditiert. Das strafbewehrte Verbot der Burka wäre ein falsches Symbol, sich erodierender Werte zu vergewissern. Wir brauchen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Islam und seiner – notwendigen – Integration in die liberale demokratische Ordnung. Diese Auseinandersetzung steht noch aus, sie muss jetzt intensiv geführt werden – unter Verzicht auf strafrechtliche Keulen.