Als Anna Livia, Name von der Redaktion geändert, zur Welt kam, wurden gerade die Primärschulen in „Grundschulen“ umgetauft. Seit mehreren Jahren besucht sie die Grundschule und sammelt empirisches Wissen über Bildungspolitik. Zweimal die Woche verlässt sie mit einigen Kameradinnen den Klassensaal und nimmt am Cours d’éducation morale et sociale teil, über den sie sich belobigend ausspricht: „Eine halbe Stunde diskutieren wir, eine halbe Stunde dürfen wir malen.“ Das ist eine willkommene Abwechslung zu Mathematik und Französisch. Während der Zeit nehmen andere Klassenkameraden am Cours d’instruction religieuse et morale teil, wo sie wenig spannende Filme anschauen.
In den vergangenen Jahren bekamen Anna Livias Eltern vor den Sommerferien ein Formular geschickt, wo sie ankreuzen mussten, ob sie während des folgenden Schuljahrs moralisch und gesellschaftlich erzogen oder religiös und moralisch unterwiesen werden sollte. Ihr Interesse an Transzendentem ist gering. Deshalb entschied sie sich stets für den 1968 als „Morale laïque“ erfundenen weltlichen Religionsunterricht.
Dieses Jahr blieb das Formular aus. Denn ab dem Beginn des neuen Schuljahrs im September sollen beide Fächer, wie zuvor schon im Sekundarunterricht, durch ein einheitliches Fach für alle Grundschulkinder ersetzt werden. Laut Regierungsabkommen sollte es „Werteunterricht“ heißen. Nun soll es „Vie et société“ heißen, wenn das Parlament noch rechtzeitig vor der Sommerpause in drei Wochen den Gesetzentwurf 7010 verabschieden kann.
Diese Woche einigten sich der Staatsrat und der parlamentarische Bildungsausschuss auf den Text des Gesetzentwurfs. Wer den Gesetzentwurf liest, weiß nicht, was im Fach Vie et société gelehrt werden soll. Denn der Text beschäftigt sich bloß mit den Lehrern und Hilfslehrern, die das Fach unterrichten sollen. Auf Betreiben des Staatsrats war Artikel 2 wieder aus dem Gesetzentwurf gestrichen worden, laut dem das Fach den Schülern helfen soll, „de s’inscrire dans une pensée et des actions visant la construction de sa propre vie et de la vie en société“ unter Berücksichtigung „des grandes questions philosophiques et religieuses de l’humanité, des droits de l’homme, de savoirs issus des sciences et de la raison, ainsi que des cultures religieuses“.
Der Motivenbericht des Gesetzentwurfs trägt den Titel „Vers une émancipation de l’école publique“. Aber die öffentliche Schule emanzipiert sich nicht von der Religion. Die Regierung und der Erzbischof haben sich vielmehr darauf geeinigt, dass Laienmoral und Religionsunterricht zu einem einzigen Fach für alle Schüler verrührt werden. Vie et société ist der Name eines politischen Kompromisses, keines pädagogischen Projekts.
Der Cercle de coopération des associations laïques, dem die Lehrergewerkschaft FGIL, die Ligue de l’enseignement, Freidenkerbund, Liberté de conscience und Aha angehören, bedauert, dass dem neuen Fach eine Referenzdisziplin mit ihren Inhalten und Methoden fehle. Er denkt beispielsweise an die Boom-Branche Philosophie für Kinder.
Was in zwei Monaten während des neuen Fachs gelehrt und gelernt werden soll, wissen derzeit weder die Kinder, noch die Eltern. Das Erziehungsministerium hat eine Internetseite vieso.lu eingerichtet. Dort gibt es ein Faltblatt für Eltern und Anweisungen für Lehrer zu Vie et société, aber alles nur für den Sekundarunterricht. Von der Grundschule geht keine Rede.
Die Lehrer, die ab September Vie et société unterrichten wollen, waren im Frühjahr zu Vorbereitungsversammlungen gerufen worden. Obwohl das Parlament das Gesetz noch nicht gestimmt hat. Die Einführungen hießen „Kick-Off-Veranstaltungen“ und dauerten drei Stunden. Danach fühlten sich die meisten Lehrer nicht viel klüger. Das neue Fach sei schwammig, die Erklärungen seien tautologisch. Die Lehrer wurden angewiesen, die Kinder reden zu lassen und sie zuhören zu lehren, ohne sich zu prügeln. Vie et société soll hauptsächlich Toleranz lehren. Toleranz ist die Marktwirtschaft des Geistes. Bis zum Schulbeginn sollen die Lehrer noch eine zweiteilige Unterweisung von mehreren Stunden besuchen.
Das Erziehungsministerium ließ auch ein mit Piktogrammen verziertes Handout für die Kick-Off-Veranstaltungen 2017 in Powerpoint-Deutsch verfassen. Darin erklärt das Ministerium: „Hinter dem neuen Fach steht die politische Herausforderung Zusammen leben – Zusammenleben gestalten. Es geht darum, dass die Schülerinnen und Schüler sich in einer multikulturellen Gesellschaft orientieren und verständigen können.“ Denn „[s]ie sollen sich in einer demokratischen Gesellschaft verantwortungsbewusst mit einbringen können“.
Das Gesellschaftsbild von Vie et société in der Grundschule hat eine schwer kulturalistische Schlagseite. „Kultur“ und „multikulturell“ kommen gleich 59 Mal vor, „Religion“ und „religiös“ sogar 82 Mal. Die Menschen sind zuerst, was sie glauben und wie sie sprechen, einst „Rasse“ genannt. Soziale, ökonomische und politische Kategorien werden nur am Rand erwähnt, weil die Pisa-Studien vorführen, wie die Schule die sozialen Unterschiede zementiert. Der liberale Erziehungsminister will deshalb die Pisa-Tests am liebsten abschaffen.
Das Handout für die Kick-Off-Veranstaltungen 2017 regt nicht nur an, über „Traditionen und Gebräuche hier und in der Welt“ zu diskutieren, sondern auch über „große Fragen“. Die Kinder sollen einen Bauchladen der Ideologien gezeigt bekommen. Wobei die Toleranz gebietet, jeden Sinn und Unsinn gleichwertig zu behandeln.
Das überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum zieht zahlreiche Arbeitskräfte aus anderen Ländern zu den Globalisierungsgewinnern nach Luxemburg. Schon in der Grundschule sollen alle konfliktfrei zu funktionieren lernen. Auf Technokratisch heißt die Leugnung gesellschaftlicher Widersprüche „cohésion sociale“. Die Schulkinder zweimal die Woche in Katholiken und Ungläubige aufzuteilen, den Mohammedanern, Juden und Protestanten ihren Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen zu verwehren, drohte, kontraproduktiv zu werden.
In Zeiten der populistischen und terroristischen Aufstände gegen die liberale Globalisierung lauten die „[d]idaktischen Grundsätze“ des neuen Grundschulfachs: „Herkunft und Erfahrung respektieren“, „Fachspezifische Zugänge herstellen“, „Glaubens- und Meinungsfreiheit“, „Schüler stärken und in ihrer Entwicklung fördern“, „Moderierende Haltung einnehmen“, „Respekt und Aufgeschlossenheit“, „Pluralität und Kontroversität“. So werden die Grundschüler gegen politische und theologische Radikalisierung geimpft. Und erfahren, dass schon Sokrates die Radikalisierung der Jugend mit dem Leben bezahlen musste.
Das didaktische Prinzip ist, wie in anderen Fächern, nicht Wissen, sondern „Kompetenzorientierung“ der Kinder, nach ihrem Schulabschluss „Produktivität“ genannt. Die für das Leben und die Gesellschaft verlangten Kompetenzen sind: „Kulturelle, weltanschauliche und religiöse Ausdrucksformen wahrnehmen und interpretieren“, „Lebensfragen und moralisch-ethische Problemstellungen beschreiben und analysieren und sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen“, „Menschen mit verschiedenen Traditionen und Überzeugungen respektvoll begegnen und sich mit ihnen verständigen“, „Sich in einer mehrsprachigen und multikulturellen Gesellschaft orientieren und angemessen in ihr handeln“.
Der Cercle de coopération des associations laïques befürchtet, dass Vie et société zu zwei wöchentlichen Plauderstunden wird. Wenigstens wird die liberale Regierung Kirche und Staat symbolisch getrennt haben. Auch der Erzbischof spielt mit. Sogar Anna Livia wird zufrieden sein. Denn ab Herbst gibt es weiter eine halbe Stunde Diskussion und eine halbe Stunde Malen. Nur dass sie dann mit ihren Klassenkameradinnen aus katholischem Elternhaus zusammenbleiben darf.