Sie sei nicht „homeless“, sondern „houseless“, gibt die 61-jährige Fern (Frances McDormand) selbstbewusst zur Kenntnis. Das Nomadentum, das sie führt, ist ihre eigenwillige Entscheidung. Nach dem Tod ihres Mannes und der Schließung einer Mine in Nevada macht sie sich auf, den Südwesten der USA zu erkunden; sie will ein alternatives Lebensprogramm für sich gestalten, fernab ihres geregelten Alltags…
Ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen in Venedig, zwei Golden Globe Awards (für den besten Film und die beste Regie) und einer Reihe von Preisen für den besten Film, beste Regie und beste Schauspielerin von mehreren Kritikerverbänden, gilt Nomadland mittlerweile mit sechs Nominierungen als aussichtsreicher Kandidat für die Oscars. Der Film, der die 11. Ausgabe des Luxembourg City Filmfestivals eröffnete, läuft nun regulär in den Kinos.
Wie bereits in Three Billboards Outside Ebbing Missouri (2017) ist Nomadland ganz um Hauptdarstellerin Frances McDormand aufgebaut, an ihre Erlebniswelt wird der Zuschauerblick angebunden, mit ihr ist zu trauern, um sie ist zu weinen, mit ihr ist sich zu freuen. Diese Fern ist eine Heldin, die, bewusst oder unbewusst, einen Bruch mit der Gesellschaft hinter sich hat. Die Sozialbeiträge werden ihr gekürzt, neue Jobangebote sind rar. Dann bleibt ihr irgendwie auch keine Wahl; Nomadland zeigt die Entfremdung der Heldin, die sich dann in ihren Taten äußert: Ausbruch aus dem Geregelten, Beginn von etwas Neuem!
Die Regisseurin Chloé Zhao, eine Chinesin, die 1982 in Beijing geboren wurde, ihre Ausbildung aber in England und den USA durchlaufen hat, befasst sich seit Beginn ihrer Regiekarriere mit der amerikanischen Mythologie, so etwa mit The Rider (2017), in dem sie das Bild des Cowboys eindringlich beleuchtete. Auch Nomadland ist eine Reise in die mythologischen Bilderwelten des amerikanischen Kinos. Insbesondere die Ikonografie des Western erwächst aus einer großartig fotografierten Landschaft in kontemplativen Einstellungen, die von sanfter Klaviermusik untermalt sind: Von den Badlands in South Dakota über die Wüste Nevadas bis hin zum Pazifik im Nordwesten des Landes zeichnet Zjao ein Porträt einer mit Trauer und Verlust kämpfenden Frau, dessen Prozess der Findung ihrer Unabhängigkeit nur in einhergehen kann mit dem Loslassen eines geliebten Menschen und der Bewältigung dieses Schmerzes. Ausgehend von dem Einzelschicksal strebt Zhao aber ein größeres Bild der Randexistenzen der Vereinigen Staaten an, und da ist möglicherweise ihr ausländischer Blick ausschlaggebend; er ist ungebundener, analytischer und weniger der klassischen Darstellung des American way of life verpflichtet: Dieser Eindruck einer äußerlichen Sichtweise entsteht in Nomadland durch die Verwischung der Grenze zwischen Fiktion- und Dokumentarfilm.
Das erreicht der Film durch eine hochgradig filmisch inszenierte Unmittelbarkeit, die gestiftet wird durch eine mobile Handkamera, die nah an die Darsteller/innen heranrückt oder durch die Besetzung von Laien-darstellern in kleineren Rollen, die eindringlich und ehrlich von ihren eigenen Erfahrungen als Nomaden berichten. So ist auch Nomadland so etwas wie die Spiegelung einer bemerkenswerten Bewegung, zurück und nach vorn, auf der Suche nach „Amerika“. Zhao dämonisiert nicht die Annehmlichkeiten des Einfamilien-hauses, das so zitathaft für den amerikanischen Traum in das Mainstream-Kino eingegangen ist, noch verklärt sie dieses Nomadenleben zu einem romantischen Gegenentwurf. Vielmehr will sie diese Konstellationen untersuchen und fragt nach dem Platz des Individuums darin. Mit Frances McDormand hat sie eine versierte Schauspielerin gefunden, die diesen Film tragen kann. Dass Chloé Zhao nach diesem außergewöhnlichen Film Türen in Hollywood offenstehen werden, ist evident. Dass sie sich aber mit ihrem nächsten Projekt ausgerechnet den Marvel-Superhelden widmet, ist ein Betriebsunfall in einer ansonsten vielversprechenden Filmkarriere.