Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo

Märtyrer

d'Lëtzebuerger Land du 16.01.2015

Proselytische Gemeinschaften pflegen die Überlegenheit ihres Glaubens damit zu demonstrieren, dass dessen Anhänger sogar bereit sind, dafür zu sterben. Allerdings überlassen die oberen Schichten proselytischer Gesellschaften den Märtyrertod ihren subalternen und Randgruppen, selbst zum Preis, dass diese nicht allen Glaubensidealen gewachsen scheinen.

Seit vergangener Wochen feiert der militanteste Flügel des Salafismus tollwütig gewordene Kleinkriminelle und Verbrecher als Märtyrer, weil sie in Paris Journalisten der Zeitung Charlie Hebdo, die Kunden eines jüdischen Supermarkts und Polizisten ermordet und dies mit dem Leben bezahlt haben. Damit scheinen die im Gefängnis Spätbekehrten nicht nur die Verspottung des Islam gerächt zu haben, sondern ein wenig auch die Besetzung des Irak und Afghanistans, die Zerschlagung Libyens und Syriens, die Dronenangriffe auf Waziristan, die Foltergefängnisse von Guantánamo und Abu Ghraib, vielleicht sogar den missglückten arabischen Frühling und das würdelose Leben in den armen französischen Vorstädten.

Seit vergangener Woche feiert der globale Liberalismus die bis dahin von seinen oberen Schichten als Fäkaljournalisten verhassten Zeichner des dreimal verbotenen Charlie Hebdo als Märtyrer der Meinungsfreiheit, weil sie sich über den Religionsgründer Mohammed lustig gemacht und dies mit dem Leben bezahlt haben – in einem „Anschlag auf unsere ganze Zivilisation“, wie DP-Europaabgeordneter Charles Goerens am Sonntag im Fernsehen meinte. In der Darstellung des Nato-Generalsekretärs, des EU-Kommissions­präsidenten, zahlreicher Staatschefs und ungezählter Leitartikel scheinen die Karikaturisten damit nicht nur für die Pressefreiheit, sondern auch ein wenig für eine von den Armen der Welt geneidete und bedrohte Lebensweise von Säkularisierung und Freizügigkeit für Schengen- und Euro-Bürger, von Marktwirtschaft und Parlamentarismus gestorben zu sein. Wie die jungen Afrikaner auf den Seelenverkäufern vor Lampedusa.

Nur die Stilisierung der Karikaturisten zu Märtyrern kann erklären, wie tief auch hierzulande Tausende von ihrer Ermordung in Paris erschüttert waren. Innerhalb von vier Tagen fanden drei Kundgebungen in der Hauptstadt statt, wo Leute Pappschilder „Je suis Charlie“ hochhielten, um nicht nur ihre Solidarität mit der französischen Zeitung zu demons­trieren, sondern im Gegenzug auch ihre Ängste und Anliegen zu denjenigen der erschossenen Satiriker zu erklären. Premierminister Xavier Bettel weinte vor der laufenden Kamera von Paperjam, wenn nicht über das Verschwinden jener, die nur unflätigsten Spott für Seinesgleichen und seine Steuer-Rulings übrighatten, so doch über die Bedrohung seiner liberalen Werte, für die sie gestorben sind.

Im Augenblick allgemeiner Verstörung nahm Großherzogin Maria Teresa am Sonntag an einer „marche républicaine“ durch die Fußgängerzone der Hauptstadt teil. Auch der parlamentarische Gotteskrieger Fernand Kartheiser (ADR) war gekommen, um für eine Zeitung zu trauern, die sich einen Spaß daraus machte, den Papst bei der Anal­penetration abzubilden. Während in Deutschland Spießer und Neonazis, die vorübergehend nicht die Juden, sondern die Muselmanen für ihr Unglück halten, und in Frankreich die Partei des Folterknechts aus dem Kolonialkrieg die linken Pafefrësserten zu ihren Märtyrern machen, weil sie auch den Propheten der aus den Exkolonien eingewanderten Straßenfeger verspotteten. Von allen, die nicht nur das Recht auf Spott über alle Pafen und Propheten, sondern trotzig auf „Satire ohne Grenzen“ beanspruchten, wollte niemand wissen, ob man über Auschwitz Witze machen soll.

Denn mit dem Terroranschlag in Paris drohen die Initiatoren des Projekts Clash of Civilisations ihrem Ziel ein Stück näher zu kommen, alle sozia­len Widersprüche und politischen Konflikte als Kulturkampf zwischen dem rückständigen Aberglauben der Armen in der Welt und dem aufgeklärten Liberalismus der Reichen zu vermummen. Dabei ist seit dem Apostolischen Vikar Johannes Theodor Laurent der Kulturkampf die einfachste und deshalb beliebteste Form der politischen Auseinandersetzung hierzulande. Sein Nachfolger, Jean-Claude Hollerich, unterzeichnete vor zwei Monaten ein Abkommen zur Rettung des Reli­gionsunterrichts, um auch die islamische Schura als Tirailleurs marocains zu rekrutieren.

Von der Schura verlangte der Minister für innere Sicherheit, Etienne Schneider (LSAP), am Samstag in einer Radiodebatte über die Terroranschläge, „dass die muslimische Religion das ganz klar verdammt und nicht einverstanden ist. Und ich habe doch das Gefühl, als ob da aber ein bisschen gezögert würde von der einen oder anderen Seite, um das evident und klarzustellen.“ Aber niemand forderte den seit vergangener Woche etwas schweigsamen katholischen Erzbischof auf, sich unmissverständlich zum Recht auf Blasphemie zu bekennen. Umso vorsichtiger verhandelt die Regierung gerade mit ausgewählten Religionsvertretern über die langfristige Säkularisierung des Staats. Doch längst bevor die katholischen Katecheten die öffentlichen Schulen verlassen, hatte der Unterrichtsminister schon kurzfristig Richtlinien über die Kopftücher moslemischer Schülerinnen erlassen.

Die Kundgebungen der vergangenen Tage waren der ergreifende Ausdruck der Solidarität zwischen allen, die von den Morden in Paris erschüttert waren und als Verfassungsrecht ihre Meinung ohne Angst vertreten wollen. Aber 100 Jahre nach dem durch einen politischen Burgfrieden ermöglichten Beginn des Ersten Weltkriegs riefen dabei nicht nur rechte Politiker wieder auf zur nationalen Einheit gegen den äußeren Feind und seine Fünfte Kolonne im Innern. Und wenn es um die nationale Einheit für die Verteidigung der Identität des Abendlands geht, muss Luxemburg nicht abseits stehen, da es seit über einem Jahrhundert ununterbrochen und derzeit wieder heftig im nationalen Identitätswahn zusammenzuckt.

Die Folgen der Pariser Morde könnten hierzulande eine strafrechtliche und geheimdienstliche, aber vor allem auch eine moralische Aufrüstung sein. Wenn die „Entradikalisierung“ von sechs potenziellen Foreign Fighters von Wiltz bis Esch-Alzette zum Auftrag für Sozial­ingenieure wird, fällt schon der Gedanke an Radikalität dem „juste milieu“, dem politischen Mittelmaß, zum Opfer.

Romain Hilgert
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