„Bonjour! Bonne année! Ça va?“, begrüßt die Mitarbeiterin das Paar, als sie die Tür öffnet. Man kennt sich, die Kunden sind nicht zum ersten Mal hier. Samstagmorgen im Kleederschaf in Frisingen. Draußen vor der Tür des Bauernhauses am Fuße des Wasserturms tobt das Sturmtief. Drinnen glänzen die Details der alten Medaillontapete im Lampenlicht. Im Flur zwischen dem Angebot an Kindergummistiefeln und Schmuck und der Schal- und Mützenauslage prüft die ehrenamtliche Mitarbeiterin die Karte vom Sozialamt, die die Familie dazu berechtigt, hier einzukaufen, schreibt die Kartennummer auf. Sie kassiert fünf Euro ein – „Merci“ – diesen Beitrag müssen alle Kunden leisten. Dann gehen sie gemeinsam die Treppe hoch in den ersten Stock.
Geradeaus ein Zimmer mit Schuhen, hinten links eines mit Damenkleidern, vorne eines für Männer und dahinter die Kinderabteilung. An Damensachen ist das Angebot sichtlich größer. Kleiderständer, vollgepackt mit Blazer, Blusen, Jacken stehen auf dem Treppenabsatz. Die Familie ist eine von fast 400, die bereits 2014 zum Kleederschaf kamen, um sich hier einzukleiden, weil sie sich in anderen Geschäften nicht viel leisten kann. Alle zwei Monate darf sie, wie alle anderen Kunden, herkommen. Pro Kopf können dann sechs Kleidungsstücke, ein Paar Schuhe, eine Tasche, Bett- und Unterwäsche mitgenommen werden.
Sie sind nicht die ersten Kunden, obwohl erst seit 15 Minuten geöffnet ist. Eine Flüchtlingsfamilie ist bereits hier. Sie trägt Kopftuch, er einen Palästinenserschal. Sie sucht Kleider zusammen, er wartet lieber unten im Flur, mit Blick auf die Tochter, die Puppen und Puzzles begutachtet. Zwischen den Büchern hinter der Puppe im Regal sticht der weiße Einband der Biografie Jacques Chiracs hervor.
Im Februar 2013 startete der Kleederschaf als Initiative der Mitglieder der Chancengleichheitskommission der Gemeinde Frisingen. Die ehrenamtlichen Helferinnen im Bettemburger Centbuttik hatten festgestellt, dass die Kunden nicht nur Schwierigkeiten haben, Lebensmittel zu kaufen, sondern auch Bedarf an Kleidung besteht, wie Jacky Wagner erklärt. In der Zwischenzeit haben sie eine gemeinnützige Vereinigung gegründet, um sicherzustellen, dass sie ihr Projekt weiterführen können, auch wenn die politischen Verhältnisse in der Gemeinde durch Wahlen ändern. Bereits im ersten Jahr nutzten 374 Familien die Möglichkeit, sich in Frisingen einzukleiden. Geschickt werden sie von der Sozialämtern mehrerer Südgemeinden, dem Familienhaus, Profamilia, von der Asti, der Alupse oder dem Frauenhaus.
So wie die serbische Mutter, von Mitte dreißig, die mit ihren beiden Töchtern seit einem Jahr im Frauenhaus wohnt, weil der Vater der Kinder gewalttätig wurde. Sie ist berufstätig, aber nach Abzug der Miete im Frauenhaus und den Ausgaben fürs Essen – weil sie arbeitet, ist sie nicht zu den Essenszeiten im Frauenhaus – bleibt nicht genug Geld übrig, um sich und ihre Töchter einzukleiden. Das erzählt der Bekannte, der sie hierher gefahren hat. Sie selbst spricht nur ein wenig Deutsch, setzt es aber lächelnd und enthusiastisch ein, um sich mit den Mitarbeiterinnen des Kleederschaf zu unterhalten, die ihr bei der Suche nach einer Jeans, Größe 38, für ihre Tochter helfen. Die Mitarbeiterin hält eine hoch: „Die dürfte passen.“ Die Mutter betrachtet die kunstvoll zerissene Jeans skeptisch. „Ripped Jeans – das ist modern“, bekräftigt die Mitarbeiterin. „Nein, mein Kind nicht modern!“, schüttelt sie lachend den Kopf.
Unten im Erdgeschoss geht auf leisen Sohlen ein Mann zwischen den Auslagen hin und her, lässt sich dabei Zeit. Er hat Flüchtlingsstatuts, wissen die Kleederschaf-Mitarbeiterinnen, die Namen der Kunden kennen sie hingegen nicht unbedingt. Er wohnt in einer Nachbargemeinde, kommt regelmäßig und nimmt jedes Mal einen Koffer, einen Rucksack oder eine Tasche mit. „Das ist sein Ding“, erzählt eine weitere Mitarbeiterin, merklich fasziniert. „Was er mit all den Taschen macht, wissen wir auch nicht. Aber das geht uns eigentlich auch nichts an.“
Hinten in der Küche, Triumph-Geräusche. Auf dem Tisch stehen Kaffeetassen und Kuchen für die Kleederschaf-Mitarbeiterinnen, die schon vor neun Uhr hier waren. Und Arbeitsgerät: Hier wird die Kleidung sortiert und fein säuberlich etikettiert, mit Eingangsdatum und Kleidergröße. „Ich glaube, ich habe eine Hose für G. gefunden“, freut sich eine Mitarbeiterin. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Kleederschaf-Team. G. mögen hier offensichtlich alle besonders gern. Er ist 17 und kommt wenig später mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester. Auch sie sind regelmäßige Kunden. Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter bezieht 560 Euro soziales Mindesteinkommen und arbeitet acht Stunden die Woche als Haushaltshilfe. G. ist sehr groß und äußerst dünn. Ein schlaksiger Teenager eben, deshalb ist es schwierig, gutsitzende Kleidung zu finden. Und deswegen kennen beim Kleederschaf alle seine Hosengröße. Hosen und Jeans für Teenager sind, trotz der Berge an Kleider, die beim Kleederschaf ankommen, Mangelware. Wahrscheinlich weil Jungs, anders als Mädchen, ihre Hosen selbst tragen, bis sie zerschlissen sind. Findet das Kleederschaf-Team in den Kleidermassen eine passende Hose für G., wird sie vorsorglich beiseite gelegt. Für G.’s Schwester, die sich vorsichtshalber im Schatten des großen Bruders bewegt, gibt es einen neuen Rock, eine passende Strickjacke und Strumpfhosen. Ihr ist das relativ egal. Das Objekt ihrer Begierde liegt im Spielzeugregal im Erdgeschoss: ein Staubsauger. „Den hat sie sich schon zu Weihnachten gewünscht, aber da gab es keinen“, lacht ihre Mutter. Das Kind ist glücklich.
Es klingelt, neue Kunden kommen herein, ein Paar, das erst kürzlich eine Karte vom Sozialamt erhalten hat und zum ersten Mal hier ist, sucht Kleidung für sich und die Tochter. Als der Mann den Fünf-Euro-Beitrag bezahlen soll, hebt er die Stimme. „Er wusste das nicht“, so die Mitarbeiterin später. „Deshalb wurde er wütend.“ Übellaunig marschiert er durchs Haus, raunzt an, wer gerade vor ihm steht. Vielleicht ist es ihm unangenehm hier zu sein und er hatte die fünf Euro schon für eine andere Ausgabe eingeplant. Die freiwilligen Mitarbeiterinnen nehmen es gelassen und urteilsfrei. „Es ist ja nicht so als ob Verkäuferinnen in regulären Läden immer nur freundliche Kunden bedienen würden“, sagt eine. „Du kannst kein Urteil über das Verhalten der Kunden fällen. Sonst machst du diese Arbeit nicht“, eine andere. „Außerdem wissen wir ja nicht, wodurch sie in die Lage geraten sind, weshalb sie zum Beispiel ihre Arbeit verloren haben. Aber das kann jeden treffen.“ Und: „Manche sind weniger dankbar, andere dafür umso mehr“.
Letzteres gilt für einen jungen Mann, der nach passenden Unterhosen sucht. Es ist ihm sichtlich peinlich vor den anderen Leuten, er fragt deshalb nicht nach Hilfe und irrt sich im Regal. „Das sind Kindersachen“, sagt ihm eine Mitarbeiterin, stellt ihm die richtige Schachtel hin und lässt ihn allein. Er ist mit einer Bekannten und ihrer Tochter hier. Sie sind portugiesischer Abstammung, sie ist hier aufgewachsen, zog dann zurück nach Portugal. Wegen der Krise sind sie wieder nach Luxemburg gezogen. Sie arbeitet, das Geld reicht dennoch nicht. Er ist mittlerweile arbeitslos, hat für verschiedene Patrons auf dem Bau gearbeitet, aber das Gehalt kam nicht regelmäßig. Deshalb konnte er die Miete für sein Zimmer nicht mehr zahlen und wurde vor die Tür gesetzt. „Pas d’adresse, pas de chômage“, erklärt er. Er schläft im Nachtfoyer in Findel, isst beim Roten Kreuz und verbringt den Tag im Foyer Ulysse. Als er geht, hat er einen nagelneu aussehenden Markenrucksack auf den Schultern, in dem er seine Habseligkeiten verstaut.
Neben der Haustür sitzt auf einem Stuhl eine alte Frau, in Mantel, Schal und Mütze, völlig unbeteiligt vom Geschehen um sie herum. Sie schaut geradeaus. Ihr Sohn und seine Frau, Mitte vierzig, kleiden sich im ersten Stock neu ein. Winterschuhe, Winterjacke, neue Hose. Beide waren berufstätig, kauften nicht im Sozialladen ein, erzählt der Sohn. Doch dann erlitt sein Vater, der sich in Portugal um die demenzkranke Mutter kümmerte, einen Schlaganfall. Er zog zur Tochter in die Schweiz, die ihn dort pflegt. Die Mutter kam nach Luxemburg, wo sich ihr Sohn und seine Frau nun um sie kümmern. Seither arbeitet er als Zeitarbeitskraft, und auch seine Frau kann nicht mehr vollzeit arbeiten. Sie rückt der Schwiegermutter mit einer sanften Geste die Mütze zurecht, streicht ihr lächelnd über die Wange bevor sie sie zum Gehen unterhakt.