Wie man von einer ungewohnten Seite in eine vertraute Stadt kommt und zunächst alles fremd und verschoben findet, bevor sich über erste Anhaltspunkte das Wiedererkennen einstellt, so ungefähr blättert der Leser von Nichts kapiert, doch alles notiert, dem ersten deutschsprachigen Buch von Lambert Schlechter seit rund drei Jahrzehnten, durch die ersten Seiten. Tatsächlich stammt ein Großteil der Texte aus den Achtzigerjahren, einer Zeit, in der das Französische vielleicht noch nicht so eindeutig Schlechters „Primärsprache“ (so das Vorwort des Verlags) gewesen ist wie heute.
Etwas verloren und wie in die Ecke geschoben wirken die Texte im ersten Teil des Bandes, der die Gedichte des Lyrikbandes Das große Rasenstück von 1981 wiedergibt, weil das Format nicht nur für Gedichte, sondern auch für die Prosatexte im zweiten Teil herhalten muss. Unabhängig von diesem optischen Hindernis macht sich recht schnell eine über die Jahrzehnte durchgehaltene inhaltliche Konsistenz bemerkbar, ein konsequentes Weiterarbeiten des Autors an seinen zentralen Themen und Motiven, etwa Alltags- und Naturbeobachtungen, Momentaufnahmen, das Schreiben und In-Worte-fassen, die Verfehlungen der Kirche.
Auch die Konstellation, die viele Leser heute mit Schlechters Lyrik verbinden, die enge Verbindung von Sexualität und Vergänglichkeit, ist in Das große Rasenstück schon angelegt und verzweigt sich als ein Leitmotiv bis zu den neueren Texten, Eigenübersetzungen des Autors aus seinem französischen Werk. Dem Leser begegnen so verschiedene Gestalten von Eros und Thanatos, wenn man diese großen Wörter und den entsprechenden kulturgeschichtlichen Kontext bemühen will. Sie verweisen auf eine allgemeingültige Perspektive (oder jedenfalls eine, die mehr meint, als den individuellen Standpunkt des schreibenden Ichs), die der Autor gern auch in den Einträgen eröffnet, die er in seiner Eigenschaft als reger Blogger unter dem Titel Le murmure du monde in kurzen Abständen veröffentlicht. Auch bei seinem politischen Engagement – sei es im Gedicht oder in offenen Briefen an Machthaber und Entscheidungsträger – kommt diese Perspektive zum Tragen. Man kann statt der ehrwürdigen Begriffe aber auch die Allerweltswörter Liebe und Tod nennen und das meinen, was in der Erfahrung eines schreibenden Ichs als konkrete Sehnsüchte und Verluste spürbar wird und ins Wort drängt. Hierzu passt der sprachliche Duktus des Tagebucheintrags, der minutiösen Selbstbeobachtung und -vergewisserung sowie des spontanen Einfalls. Nichts kapiert, doch alles notiert liefert jedenfalls auch im Deutschen den Nachweis, dass radikale Subjektivität und humanistisches Engagement einander als zwei wesentliche Facetten eines Werks nicht ausschließen müssen.
Bei aller Gewandtheit im Deutschen ist am Ende nicht einerlei, in welcher Sprache der Dichter spricht. Lambert Schlechter hat sich letztlich gegen die sprachliche Zweigleisigkeit und für das Französische als seine Schriftsprache entschieden. Der Vergleich, der sich unwillkürlich aufdrängt, ist damit nicht nur einer zwischen zwei Sprachen, sondern zwischen einer frühen und einer späten Schaffensphase. Ein unfairer Vergleich natürlich, der den Autor an sich selber, und auch noch zu verschiedenen Zeiten misst. Insofern scheint die Frage müßig, ob Schlechter die Möglichkeiten der deutschen Sprache wirklich ausschöpft, die vor allem in den Bereichen der Morphologie und der Syntax deutlich vom Französischen abweicht, also die Möglichkeiten, Wörter zu schaffen und zu kombinieren, Satzgebilde umzustellen und zu verdrehen. In beiden Hinsichten hält sich Schlechter zurück, wenigstens, was die Lyrik anbelangt. Zwar sind diese Texte nicht frei von stilistischer Überformung. Dass der Hang zum Wortspiel in diesen Gedichten ihnen dabei aber eher abträglich zu sein scheint, liegt womöglich daran, dass im Deutschen ein Wortspiel eher zum schnöden Kalauer gerät als zum eleganten Bonmot.
Den unverhofften Blick gewährte der Verlag Guy Binsfeld pünktlich zur Ehrung des Autors mit dem Batty-Weber-Preis und erinnert damit völlig zurecht an eine wenig bekannte Seite von Schlechters Schaffen. Wenn die Gedichte auch nicht von der gleichen Leichtigkeit sind wie die französischsprachige Lyrik des Autors, so ist das Buch doch mehr als eine interessante Fußnote zum französischsprachigen Hauptwerk (wobei die Postulierung als „Denkmal“ allerdings etwas vorschnell und hoch gegriffen zu sein scheint, siehe Vorwort des Verlags). Es sind aber ohnehin weniger die Gedichte, als vielmehr die – leider meistenteils nicht präzise datierten – Prosatexte, aus denen ersichtlich wird, was Schlechter in und mit der deutschen Sprache vermag.