Für ihre letzte Pressekonferenz als Unterrichtsministerin wählte Mady Delvaux-Stehres Rot als Farbe ihres Kostüms. Signalrot, so als wollte sie zum Abschied ihrer neunjährigen Amtszeit noch einmal ein Zeichen setzen, ein Bekenntnis zum Rot der Sozialisten. Das hatte sie damals schwer getroffen: dass ihr wegen ihres Reformkurses aus einst befreundeten Gewerkschaftskreisen vorgeworfen wurde, sie mache neoliberale, ja sogar rechte Politik.
An diesem Dienstagmorgen waren die alten Gräben und Schlachten aber kein Thema mehr. Vielmehr tat die Ministerin, was sie gleich bei ihrem Amtsantritt 2004 tun musste: Gewohnt sachlich analysierte die Politikerin Luxemburgs Abschneiden im nunmehr vierten Pisa-Bildungstest.
Anders als zu Beginn ihrer Amtszeit können sich die Ergebnisse durchaus sehen lassen. Zwar meldeten übereifrige Journalisten kurz darauf über Twitter, dass die Leistungen der Luxemburger Schüler immer noch mittelmäßig sind. Luxemburg belegt im internationalen Ländervergleich der 65-OECD-Teilnehmerländer in der Mathe Platz 29, beim Leseverstehen Platz 32 und bei den Naturwissenschaften Platz 35 und liegt damit leicht unter dem OECD-Durchschnitt. Doch im Vergleich zu 2009 hat sich der Abstand sowohl in der Mathematik, im Leseverstehen als auch in den Naturwissenschaften verringert, Luxemburgs 15-Jährige holen also auf. Am deutlichsten ist der Aufwärtstrend beim Leseverstehen, wo Luxemburgs Schüler immerhin rund 16 Punkte zulegen konnten.
Die gute Nachricht wird noch besser, wenn man berücksichtigt, dass sich zwischen der ersten Pisa-Studie 2003 (die von 2000 wies methodologische Schwächen auf) und Pisa 2012 die Zusammensetzung der Schüler weiter verändert hat. Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist gegenüber Pisa 2006 von 33 Prozent auf mittlerweile 43 Prozent gestiegen. Da erfahrungsgemäß Einwandererkinder häufiger aus ärmeren, bildungsfernen Familien kommen, sie daheim in der Regel kein Luxemburgisch sprechen – und sie öfters auf die niedrigeren Schulzweige Préparatoire und Technique orientiert werden, hätte man erwarten können, dass die Gesamtbilanz noch weitaus negativer ausgefallen wäre. Ist sie aber nicht.
Nach Schultypen aufgeschlüsselt, konnten Schüler im Régime préparatoire sogar mehr zulegen als Technique-Schüler. Das Ergebnis ist paradox: Offensichtlich gelingt es den Schulen durchaus, einen großen Teil der Jugendlichen zu integrieren oder wenigstens Grundkompetenzen beizubringen, wovon gerade auch nicht-luxemburgische Schüler profitieren. Gleichzeitig aber wirken die hohen Sprachanforderungen weiterhin als Barriere, die es Einwanderer- und Arbeiterkindern deutlich erschweren, für den Classique empfohlen zu werden. Die Ursachen sind allseits bekannt: Vergleicht man die Gruppe der portugiesischsprachigen, der französischsprachigen und die Gruppe der Balkansprachen mit den luxemburgischsprachigen Schülern schneiden alle drei schlechter ab. In den Naturwissenschaften kommt der Sprachnachteil am stärksten zum Tragen. „Die Schüler brauchen gefestigte Sprachkenntnisse, um die Aufgaben zu verstehen“, betont Romain Martin, Bildungsforscher an der Uni Luxemburg und für Luxemburgs Pisa-Studie verantwortlich. Insbesondere portugiesischsprachigen Schülern fehle eine klare Erstsprache, was ihr schlechtes Abschneiden bei naturwissenschaftlichen Aufgaben erkläre. Das zeigt auch die Wahl der Testbücher: Portugiesischsprachige Schüler entschieden sich zur Hälfte dafür, den Testbogen auf Deutsch auszufüllen – und zur Hälfte auf Französisch.
Dass ausgerechnet im Préparatoire die Lernzuwächse besser sind als im Technique erklärt Romain Martin mit der dortigen Homogenität: Offenbar können Luxemburgs Lehrer mit relativ leistungshomogenen Gruppen, wie sie im Préparatoire bestehen, besser umgehen als mit großen Leistungsunterschieden. Oder anders ausgedrückt: Während im Classique und im Regime préparatoire starke beziehungsweise schwache Schüler gemeinsam unterrichtet werden, sehen sich Lehrer in Technique einer sehr gemischten Schülerschar gegenüber: Da sitzen schlaue Köpfe, die lediglich den Spaß am Lernen verloren haben, neben solchen, die sich schon früh mit dem Lernen schwertaten. Sie alle so gut wie möglich zu unterstützen und sie individuell zu fördern, die Schwachen geradeso wie die Stärkeren, ist die Herausforderung des Luxemburger Schulsystems, das auf ein Programm für alle setzt,statt auf individuelle Lernangebote, und Letzteres fällt den hiesigen Lehrern dementsprechend schwer. „Viele wissen nicht, wie sie mit der Vielfalt in ihren Klassen umgehen sollen“, erklärt Martin.
Dass ein differenzierter Unterricht, der beim jeweiligen Schüler ansetzt, etwas bringt, beweist der erneute Erfolg der Proci-Schüler im unteren Zyklus des technischen Sekundarunterrichts: Sie schneiden deutlich besser ab als ihre Kollegen im Regelschulsystem. Ihr Vorsprung ist zwar leicht geschrumpft, was daran liegen kann, dass die Proci-Projekte an Zugkraft und Elan verloren haben – oder aber dass andere Schulen nachgezogen und ihren Unterricht differenziert haben. Vielleicht haben sie sich die Aufrufe der sozialistischen Ministerin zu Herzen genommen und die individuelle Betreuung verbessert?
Wichtige Schlüsselelemente der Proci-Projektschulen wollte Mady Delvaux-Stehres mit der geplanten Reform der Sekundarstufe verallgemeinern, etwa das Tutorat, die engere Betreuung durch ein festes Lehrerteam oder die automatische Versetzung nach der achten Klasse. Allerdings scheiterte sie mit ihrer Idee am Widerstand vor allem von Lehrern aus den klassischen Lyzeen und der Gewerkschaften, denen die Proci-Schulen ein Dorn im Auge sind und die die automatische Versetzung als „nivellement vers le bas“ kritisieren.
„Das ist etwas, das mir wirklich zu schaffen macht: dass selbst wenn alle Fakten für Förderprojekte wie das Proci sprechen, einige Lehrer dies offenbar immer noch nicht wahrhaben wollen“, wird Delvaux am Rande ihrer letzten Pressekonferenz am Dienstag sagen, als die meisten Mikros schon abgeschaltet sind. Der Frust stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Doch egal, welche Bedeutung Pisa von der Politik noch beigemessen wird – die mediale Aufmerksamkeit hat deutlich abgenommen, zudem werden die ungleichen Bildungschancen und die Benachteiligung nicht-luxemburgischer Schüler durch nationale Leistungstests bestätigt –; der neue liberale Schulminister Claude Meisch und sein Staatssekretär André Bauler werden sehr wahrscheinlich einen ähnlichen bildungspolitischen Weg einschlagen und ganz bald ähnliche Erfahrungen machen müssen: Zwar soll es weniger zentralisierte Vorgaben geben. Mehr Autonomie für die Schulen bedeutet aber auch, dass diese sich stärker als bisher Gedanken machen– und dafür Rechenschaft ablegen – müssen, wie sie mehr Chancengleichheit schaffen können. Schulen wären demnach frei, sich zu spezialisieren, vielleicht sogar, sich ihre Lehrerteams zusammenzustellen. Aber um eins kommen sie nicht herum, ist Bildungsforscher Romain Martin überzeugt: „Es wird in Zukunft noch stärker darum gehen, Wege zu finden, mit der Heterogenität umzugehen. Denn diese wird in den kommenden Jahren eher noch zunehmen.“
Das können auch andere Lehrpläne oder Schulbücher sein, die aber funktionieren müssen. Bloß werden differenzierte Sprachanforderungen auf der Sekundarstufe im Französischen oder im Deutschen allein kaum ausreichen, die bestehenden sprachlich bedingten Nachteile zu verbessern. „Wir müssen frühzeitig ansetzen, im Précoce oder im Kindergarten“, ist Martin überzeugt. Da hilft es hoffentlich, dass das neue Schulministerium auch die Ressorts Kindheit und Jugend umfasst.
Was heißt das für das Sprachenproblem? Die neue Regierung will das wagen, was die LSAP-Ministerin sich nicht getraut hat, und eine Alphabetisierung auf Französisch einführen. Ob diese die Bildungschancen nicht-luxemburgischer Kinder erhöht oder ob sie die Segregation verstärken wird, muss sich noch zeigen. In den vergangenen Monaten und Jahren wurde zwar viel über Bildungsreformen und die Sprachproblematik diskutiert, aber konkrete Modelle, die andere Wege im Sprachenunterricht gehen, eine andere Didaktik nutzen oder andere Lehrbücher, sind weiter Mangelware.
Im Pisa-2012-Bericht wird die „Stabilität“ und Kontinuität der Luxemburger Schulen unterstrichen. Man könnte es auch als Beharrungsvermögen und Starrheit bezeichnen. Die Sekundarschulen innovieren noch zu wenig. Gegen den Vorschlag, in Grundschule und unterem Zyklus Französisch als Fremdsprache zu unterrichten, wurde vor allem von Französischlehrern polemisiert und mobilisiert. Nun ist die Rede von einer langue seconde, die sich irgendwo zwischen Erst- und Fremdsprache ansiedeln soll. Allerdings existiert dazu weder ein klares Konzept noch die dazugehörigen Bücher.
Wer weiß, mit wie viel Skepsis und Misstrauen gerade auch Sprachlehrer aus dem Classique auf differenzierte Sprachanforderungen im Technique schauen, ahnt vielleicht, wie viel Überzeugungsarbeit noch geleistet und wie viele Denkbarrieren überwunden werden müssen. Nicht wenige Lehrer tun sich immer noch schwer damit, das ganze Bild der Bildungsmisere zu sehen – und nicht nur ihr kleines geschütztes Refugium in ihrer Klasse oder ihrem Lyzeum. In dem Sinne kann es eine Chance sein, dass der neue Bildungsminister kein Lehrer ist und mit seiner Erfahrung als Bürgermeister von Differdingen um die Schwierigkeiten weiß, sozial benachteiligte Kinder ins Schulsystem zu integrieren.
Dabei geht es nicht darum, die Bedeutung von Bildungsstudien à la Pisa zu hoch zu bewerten, zumal nationale Leistungstests dasselbe widerspiegeln. Ob liberale oder sozialistische Bildungspolitik: Will Luxemburg auch in Zukunft als Hochlohnland bestehen, wird es sich nicht länger leisten können, tausende Schüler mit einer unzulänglichen schulischen Ausbildung auf den Arbeitsmarkt zu entlassen.