Wohin ist die Bildungsdebatte verschwunden, fragte ein junger Leser vor zwei Wochen im Luxemburger Wort. Der Streit um den richtigen bildungspolitischen Diskurs sei „mit der Geschwindigkeit eines U-Boots mit offenen Luken untergetaucht“. Er hat Recht mit seiner Beobachtung: Nach Protestmärschen, monatelangen Diskussionen und einem Schwall von Leserbriefen rund um die Reform der Lyzeen, nach einem Wahlkampf, der immer wieder auch um die Luxemburger Schule kreiste, ist es geradezu unheimlich still um das Thema geworden.
Doch es wird noch diskutiert: in der Arbeitsgruppe Bildung der blau-rot-grünen Koalitionäre. Und kontroverser als die Bündnispartner es vor Mikros und Kameras zugeben wollen. Man habe „in guter Atmosphäre“ geredet, „ein Streit“ sei ausgeblieben, betonen die Verhandlungsteilnehmer aller dreier Parteien, nachdem sich die Arbeitsgruppe am Dienstag erneut getroffen hatte und lange hinter verschlossenen Türen diskutiert wurde. Es sei ein „anständiger Konsens“ gefunden worden, den „alle Seiten tragen können“, ist zu hören.
Eben das war zu Beginn der Woche noch nicht so sicher. Während in anderen Arbeitsgruppen die Diskussionen recht zügig voranschritten, war es in der Arbeitsgruppe Bildung am vergangenen Freitag zunächst zu einem kleinen Eklat gekommen. Der Grund: Nachdem sich DP, LSAP und Déi Gréng nach zwei längeren intensiven Treffen auf eine gemeinsame Richtung verständigt zu haben schienen, legten der Präsident der Arbeitsgruppe, André Bauler von der DP, und seine Mitarbeiter plötzlich ein Papier vor, das bei den anderen Koalitionären für Überraschung, um nicht zu sagen, für Empörung und Ärger sorgte: Während bei Themen wie dem Religionsunterricht, den sowohl die Liberalen, die Sozialisten als auch die Grünen aus der öffentlichen Schule verbannen wollen, auf den großen Linien schnell Einigung erzielt werden konnte, war das bei anderen Inhalten nicht so einfach.
DP und Grüne forderten beide in ihren Wahlprogrammen Schuldirektoren auch für die Grundschule. Nur durch weisungskompetente Schulleitungen ließe sich die Qualitätsentwicklung und pädagogische Innovation in den Grundschulen erreichen, so ihre Überzeugung. Für die LSAP waren die partizipativen Schulkomitees aber eines der wichtigsten Zugeständnisse an die reformskeptischen Gewerkschaften gewesen, in dessen Gegenzug sie wenigstens eine halbherzige Unterstützung für das umstrittene Grundschulgesetz erhielten. Der sozialistische Abgeordnete Ben Fayot hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er von dem bildungswissenschaftlich gestützten Argument, dass klare Hierarchien und profes-sionelle Leitungen wichtig für einen guten Unterricht seien, nicht besonders viel hält. Er sitzt bei den Gesprächen der drei Koalitionäre als Berater mit am Tisch und soll, gemeinsam mit der scheidenden Unterrichtsministerin Mady Delvaux, derjenige gewesen sein, der sich am heftigsten gegen die Einführung von Schuldirektoren wehrt. Am Dienstag dann wurde ein Kompromiss gefunden: Statt regelrechte Schuldirektoren sollen die gewählten Präsidenten der bereits bestehenden Schulkomitees erweiterte Kompetenzen bekommen. Land-Informationen zufolge soll der noch zu verfassende Koalitionsvertrag auch das Schlüsselwort „diriger“ enthalten.
Neben den Schulleitungen war es aber ein anderer Punkt, der insbesondere die Sozialisten erzürnte: In dem Bildungs-Papier, das die DP-Mitarbeiter am Freitag vorgelegt hatten, war plötzlich die Rede davon, den bereits in der Abgeordnetenkammer hinterlegten Entwurf über die Reform des Sekundarunterrichts komplett zurückzuziehen. Die Reaktion von Ben Fayot und Mady Delvaux fiel deutlich und entschieden aus: Das komme gar nicht in Frage, schließlich habe man den Text über Monate eingehend mit sämtlichen Partnern – Lehrer, Lehrerdelegation, Gewerkschaften, Schulleitungen, Eltern, Schüler und Wirtschaft – diskutiert, so der erzürnte Einwand. All die Zeit und Mühen, von den Kosten nicht zu reden, wären dann umsonst gewesen.
Damit nicht genug: Als die Verhandlungspartner wissen wollten, warum denn die DP so erpicht darauf sei, den Entwurf zurückzuziehen, fielen deren Vertretern kaum überzeugende Argumente ein. Das mag mit am Führungsstil von André Bauler gelegen haben, der, so beschreiben es Insider, sich eher zurückgehalten und die Vorstellung und Verteidigung des Papiers seinen parlamentarischen Sekretären überlassen habe. Diese sind aber keine Bildungsexperten und konnten hartnäckige Nachfragen vor allem seitens der bestens informierten Sozialisten kaum inhaltlich Paroli bieten. Die Situation drohte zu eskalieren und in einer ernsthaften Blockade zu enden, auch wenn die Grünen noch versuchten, zwischen den blauen und roten Streithähnen zu vermitteln.
Vom Land kontaktiert, herrschte am Freitag auf allen Seiten eisernes, fast grimmiges Schweigen. Es sei ein delikater Moment, so ein Insider, deshalb wolle man den Streit nicht kommentieren, um die Stimmung nicht noch zusätzlich zu belasten. Die Kontrahenten verständigten sich dann immerhin darauf, dass die Sozialisten ihrerseits einen Gegenvorschlag für Montag, respektive in der nächsten Sitzung am folgenden Dienstag unterbreiten würden.
Als die Gruppe dann diese Woche erneut zusammenkam, hatten sich die Gemüter wieder beruhigt. Der erste Teil, über die Hochschule, ging zügig über die Bühne. Mit Elan startete die zweite Runde zur Bildung. Die DP-Vertreter hatten ihren Konfrontationskurs abgeschwächt. Da waren durch Indiskretionen erste Informationen über den Konflikt zwischen LSAP und DP bereits an die Öffentlichkeit gedrungen, Radio 100,7 berichtete von ernsthaften inhaltlichen Divergenzen. Die Verhandlungsführer der Grünen, die auch in der Vergangenheit die LSAP im parlamentarischen Bildungsausschuss öfters unterstützt hatten, suchten hinter den Kulissen den Schulterschluss mit der LSAP. Man wollte auf den DP-Vorstoß gemeinsam reagieren.
Der sich abzeichnende Widerstand blieb nicht ohne Wirkung. Jedenfalls hieß es am Dienstag seitens der liberalen Präsidentschaft, der Streit sei keiner und alles nur „ein Missverständnis“ gewesen. Man habe von vornherein vor allem sagen wollen, dass man den Gesetzentwurf noch einmal gründlich studieren und überarbeiten wolle. „Eigentlich eine Formalität“, wie nun vor allem die DP den Konflikt herunterspielt. Allerdings eine von Symbolkraft: Hätte die neue Regierung die Sekundarschulreform zurückgezogen, wären nicht nur die Bildungsministerin und ihre Partei desavouiert gewesen. Sie hatte den Text dem Parlament nach neunmonatigen Beratungen als „bestmöglichen Kompromiss“ vorgelegt. Die DP hätte sich so deutlich wie nie von der sozialistischen Bildungspolitik abgegrenzt – was ihr vor den Wahlen und sogar im Wahlprogramm noch schwer fiel – und damit ein klares Zeichen vor allem in Richtung reformskeptische Lehrerschaft gegeben. Der bildungspolitische Sprecher der DP, Wirtschaftslehrer André Bauer, gilt als eher konservativer Vertreter seiner Zunft und hatte sogar das Pilotprojekt Proci von Parteikollegin und Delvaux-Vorgängerin Anne Brasseur stets kritisiert. Auf Pressekonferenzen war sein Auftreten meistens korrekt und höflich, aber inhaltlich fehlte dem ehemaligen Norddeputierten, außer beim geplanten Clerfer Lycée, oft die Substanz.
Nun also bleibt Delvauxs Vorlage auf dem Tisch, wird aber von der neuen Regierung – und vom aller Wahrscheinlichkeit nach liberal geführten Ministerium – überarbeitet werden. Wie genau, darüber wird nun gerätselt. Richtig klar, so ist aus informierten Kreisen zu hören, sei nicht, was genau die anderen liberalen Inhalte sein sollten.
Tatsächlich war die DP auch in ihrem Wahlprogramm recht vage geblieben. Die Liberalen sprechen sich für ein Tutorat aus, wollen aber genauer definiert haben, wie es organisiert werden kann, ohne dass Lehrer von der Arbeit überfordert würden. Auch damit dürfte die DP vor allem Reformskeptiker erfreuen: Die nationale Lehrerdelegation hatte in ihrem Papier die Notwendigkeit eines solchen verbindlichen Tutorats in Frage gestellt. Die Haltung der DP erklärt sich auch damit, dass in der Arbeitsgruppe für die DP zwei Schuldirektoren mit verhandeln, darunter der Direktor des Escher Jungen-Lyzeums, einer Schule, in der die Ablehnung der Delvauxschen Pläne weit verbreitet ist und sich, von den Gewerkschaften SEW und Apess befragt, besonders viele Lehrer zum Streik bereit erklärt hatten. Intern werden freilich die gute Zusammenarbeit und die „konstruktiven Beiträge aus der Praxis“ gelobt. Das ist taktisch klug: Sollten Reformskeptiker später immer noch Kritik am bildungspolitischen Kurs der neuen Regierung haben, kann die DP sagen, die Skeptiker seien in die Verhandlungen einbezogen worden. Bei den Lehrern zu punkten, die einen wichtigen Teil der Wählerschaft ausmachen, und auf die es ankommt, wenn Reformen erfolgreich umgesetzt werden sollen, ist ein Grund, warum die DP den jetzigen Entwurf lieber zurückgezogen hätte; abgesehen davon, dass das neue Gesetz dann wohl den Namen eines DP-Ministers trüge.
Bleibt die Frage, was ein blaugeführtes Bildungsministerium in punkto Sekundarschulreform anders machen wird? Im DP-Wahlprogramm steht, man wolle den „Blick von den großen Strukturreformen auf die Frage hin, was die Qualität des Unterrichts konkret im schulischen Alltag ausmacht“, lenken und dass „der Lehrer der wichtigste Partner der Schulentwicklung“ sei. Wer bei der DP nachfragt, wird Schlagwörter von „Paradigmenwechsel“ und vom „Mentalitätswandel“, der errreicht werden soll, hören, und dass Schulen mehr Autonomie erhalten sollen. Aber wie diese umgesetzt werden soll, darauf gibt zumindest das Wahlprogramm der DP kaum Antworten. Zumal eines der Kernprobleme des Luxemburger Schulwesens das ist, dass weder die Schulleiter für Lenkungsaufgaben von Riesenschulen mit tausend und mehr Schülern ausgebildet sind, noch viele Luxemburger Sekundarschullehrer eine nennenswerte pädagogisch-didaktische Ausbildung haben. Schon die letzte DP-Unterrichtsministerin Anne Brausseur hatte den Lyzeen mehr Autonomie versprochen, aber diese wussten damit überraschend wenig anzufangen.
Was nicht heißt, dass die Ansatzpunkte der DP – der Lehrer und sein Unterricht – falsch wären, und es der Partei an Ideen mangelte: Eine parteiinterne Arbeitsgruppe diskutierte über Wochen mögliche Reformpisten. Das Papier sollte zur Rentrée 2013 vorgestellt werden, geriet aber wegen der Geheimdienstaffäre schnell in Vergessenheit. Darin enthalten sind entschlackte Programme, verbesserte Methoden, auch eine reformierte Lehrerausbildung und ein neues Zulassungsverfahren, in dem von vornherein die pädagogische Eignung der Lehreranwärter eine Rolle spielen soll. Vorgängerin Delvaux-Stehres hatte sich in der Vergangenheit zwar ebenfalls bemüht, Änderungen in der Lehrerausbildung anzuregen, viel Konkretes ist dabei aber nicht herausgekommen.
Eine andere Idee, die auf dem Tisch liegt, ist, die pädagogische Innovation durch ausgebildete Trainer auch in den Sekundarschulen voranzutreiben, ähnlich den von Schulen und Inspektoren viel gelobten Instituteurs-ressources in der Grundschule, die von den Gewerkschaften eher kritisch beäugt werden. Man wolle stärker auf horizontale Strukturen setzen, heißt es beruhigend von der DP. Auch beim Sprachenunterricht sollen neue Projekte kommen. In der Grundschule hatte sich die DP seit Jahren für eine parallele Alphabetisierung auf Französisch eingesetzt, die LSAP-Ministerin hatte ein solches Projekt ausgebremst. Anstatt „das Niveau herabzusetzen“, sollen Unterstützungskurse Schülern mit Schwierigkeiten in den Sprachfächern helfen, womöglich sogar in den Sommerferien. Der Sprachenunterricht soll verbessert und entrümpelt werden. Spätestens da dürfte ein liberal geführtes Unterrichtsministerium über dieselben Stricke stolpern wie die scheidende Ministerin Delvaux: Die fachdidaktische und methodische Kompetenz vieler Luxemburger Lehrer ist eher bescheiden, angesichts einer heterogenen Schülerschar, die es so in keinem anderen Land der EU gibt. Wer aber soll die neuen Programme und Inhalte schreiben, wer die Methoden in die Praxis umsetzen?
Wer auch immer das Unterrichtsministerium übernimmt – neben Bauler fällt auch der Name Claude Meisch in letzter Zeit häufiger –, wird viel zu tun bekommen. Sicher ist, dass, sobald der Koalitionsvertrag Ende November steht und veröffentlicht ist, es mit der relativen Ruhe in der Bildungsdebatte wieder vorbei ist.