Vor allem Unternehmer und Ministerialbeamte füllten am gestrigen Donnerstag den Konferenzsaal im Untergeschoss der Handelskammer. Gut gelaunt grüßten sie sich untereinander als „Revolutionäre“. Das war nur halb im Scherz. Denn auf ihrer Tagesordnung von The Third Industrial Revolution Strategy stand eine Revolution von oben: „Die Lohnabhängigen werden keine Lohnabhängigen mehr sein“, so PwC-Partner Christian Scharff von der Unternehmervereinigung Inspiring More Sustainability (IMS). Statec-Direktor Serge Allegrezza verwies auf die Folgen für den Sozialstaat, das Arbeitsrecht und die Steuereinnahmen, wenn „das Salariat in Frage gestellt wird“, und sah wieder einmal die Aushöhlung der Mittelschichten. Von den politischen Folgen sprach keiner. Doch Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) sah das kleine Großherzogtum schon als Wirtschafts- und Soziallabor für Europa oder gar die Welt.
Wurden soziale Fragen dieser Art in grauer Vorzeit unter Sozialpartnern verhandelt, so sind die Antworten nun fest in der Hand des Wirtschaftsministeriums, der Handelskammer und von IMS. Handelskammerdirektor Carlo Thelen betonte zwar, dass die dritte Industrielle Revolution hierzulande „bottom-up“ beschlossen werde, er meinte aber die Beteiligung der Unternehmen. Politiker und Gewerkschafter waren kaum im Publikum. Um den erwarteten gesellschaftlichen Umwälzungen den Anschein eines unpolitischen, von Internet, Sonnenenergie und 3D-Druckern diktierten Sachzwangs zu geben, leisten sich Ministerium und Handelskammer sogar eine wissenschaftliche Bescheinigung durch den Futurologen Jeremy Rifkin, den unvermeidlichen ausländischen Experten. Ihr Prophet war am Donnerstag abwesend und hatte nur einen Stellvertreter für ein kurzes Grußwort geschickt, doch sein Geist schwebte über der Handelskammer.
Der bald 71-jährige Jeremy Rifkin aus Denver (Colorado) gehört in der bunten Zunft der US-amerikanischen Zukunfts- und Trendforscher zu jenen, die nicht nur in populärwissenschaftlichen Büchern vor Zukunftsproblemen warnen. Er verkauft mittels seiner Jeremy R. Rifkin Enterprises, der TIR Consulting Group und der Foundation on Economic Trends Unternehmen und Körperschaften gleich auch die passende Medizin.
Seit 1973 veröffentlicht Jeremy Rifkin im Durchschnitt alle zwei Jahre ein Buch. 43 Jahre lang kündigt er regelmäßig an, dass die USA und damit die Menschheit sich gerade an einem historischen Wendepunkt befänden und deshalb eine Revolution nötig sei. Diese Revolution sollte laut seinen allerersten Werken die Rückbesinnung auf die Werte der Gründerväter der USA darstellen (How to Commit Revolution American Style: Bicentennial Declaration [1973], Common Sense II: The Case Against Corporate Tyranny [1975]).
Aus der Sicht eines militanten Verbraucherschützers bekämpfte Jeremy Rifkin ein angebliches Komplott der großen Konzerne gegen die uramerikanischen Werte. Er sehnte sich nach vorindustriellen Verhältnissen mittelständischer Kleinproduzenten zurück und versprach Own Your Own Job: Economic Democracy for Working Americans (1977). Für einen Trendforscher etwas peinlich dabei war, dass die amerikanischen Arbeiter nicht Herren ihrer eigenen Arbeit wurden, sondern er anderthalb Jahrzehnte später The End of Work: The Decline of the Global Labor Force and the Dawn of the Post-Market Era (1994) melden musste.
1978 hatte Jeremy Rifkin das Ende des US-Kapitalismus und den Triumpf der Rheinischen Variante angekündigt (The North Will Rise Again: Pensions, Politics and Power in the 1980s). Doch in Wirklichkeit führte wenige Jahre später Ronald Reagan den neoliberalen Durchmarsch zum Sieg, das Ende des sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus.
Das störte Jeremy Rifkin wenig und er verlegte sich stattdessen darauf, mit New-Age-Mystik Charles Darwin zu widerlegen (Algeny: A New Word – A New World, [1983] – „Algeny“ ist eine Kontraktion von „alchemy“ und „gene“). Auch in Declaration of a Heretic (1985) lehnt er Genetik und Atomkraft als Frevel an der göttlichen Schöpfung ab. Zuvor hatte er schon die hierzulande als wirtschaftliches Standbein verehrte Biotechnologie bekämpft (Who Should Play God? The Artificial Creation of Life and What it Means for the Future of the Human Race [1977]) und noch einmal 1998: The Biotech Century: Harnessing the Gene and Remaking the World.
2004 wiederholte Jeremy Rifkin seine Bewunderung für den Rheinischen Kapitalismus (The European Dream: How Europe’s Vision of the Future is Quietly Eclipsing the American Dream). Das zahlte sich zwar mit europäischen Vortrags- und Berateraufträgen für seine Firmen aus, aber im Rheinland und Umgebung träumten SPD und Grüne mit ihrer Agenda 2010 schon den Traum vom ungehemmten amerikanischen Kapitalismus.
Wie die meisten liberalen Futurologen glaubt Jeremy Rifkin, dass soziale Entwicklungen mechanische Reaktionen auf unvermeidbare technische Entwicklungen sind, unabhänig von gesellschaftlichen Interessenswidersprüchen und politischen Entscheidungen. Zur Legitimierung dieses Standpunkts wurde er auch hierzulande angeheuert, so dass Wirtschaftsminister Etienne Schneider am Donnerstag ruhig zugestehen konnte, man brauche nicht alle einzelnen Thesen des Futurologen für bare Münze zu nehmen. Hauptsache scheinen seine naturwissenschaftlichen Metaphern für gesellschaftliche Vorgänge.
In der gleichen Logik stülpte Jeremy Rifkin sozialen und ökonomischen Verhältnissen die anscheinend ewigen Gesetze der Thermodynamik über (Entropy: A New World View, [1980]) und schenkte dem Umweltschutz, für den er sich zunehmend interessierte, eine mystische Tradition (Biosphere Politics: A New Odyssey from Middle Ages to the New Age [1992]). Er wurde Vegetarier (Beyond Beef: The Rise and Fall of the Cattle Culture [1992]), warb für den Umweltschutz zu Hause (The Green Lifestyle Handbook: 1001 Ways to Heal the Earth [1990]) und für grüne Parteien (Voting Green: Your Complete Environmental Guide to Making Political Choices In The 90s, [1992]).
Als das Erdöl knapp und teuer wurde, wandte sich Jeremy Rifkin der Energieversorgung zu und versprach unter erneuter Berufung auf die Gesetze der Thermodynamik „the next great economic revolution“ in The Hydrogen Economy: The Creation of the Worldwide Energy Web and the Redistribution of Power on Earth (2002). Seine Vorhersagen über den heutigen Stand der Erdölpreise waren falsch, aber damit steht er wenigstens nicht allein.
In seinen jüngsten Büchern versucht Jeremy Rifkin, seine verschiedenen Interessensgebiete eschatologisch zusammenzuführen. Nach einem dramatischen Kampf der guten Mächte der Empathie und der finsteren Mächte der Entropie verheißt er die Morgendämmerung eines neuen Heilsalters (The Empathic Civilization: The Race to Global Consciousness in a World in Crisis, [2010]. Das Ergebnis ist, dank Informationstechnik, Internet und erneuerbarer Energien, eine dritte Industrielle Revolution: „Its completion will signal the end of a two-hundred-year commercial saga characterized by industrious thinking, entrepreneurial markets, and mass labor workforces and the beginning of a new era marked by collaborative behavior, social networks, and boutique professional and technical workforces.“ (The Third Industrial Revolution: How Lateral Power Is Transforming Energy, the Economy, and the World, [2011]).
Allerdings hält Jeremy Rifkin es kaum für nötig, seine oft akrobatischen Thesen mit Argumenten zu untermauern. Vielmehr beschreibt er im atemlosen Stil von Kriminalromanen, wie er auf der Suche nach der nächsten großen Revolution durch die ganze Welt hinter technischen Pionieren herrennt. Begeistert entdeckt er dann, wie jedesmal schon Millionen Menschen in aller Welt ihren Strom selbst machen, Fremdsprachen am Computer lernen oder ihre Möbel tauschen und damit die Richtigkeit seiner Thesen beweisen.
Weil die Technik nicht stehen bleibt, greift Jeremy Rifkin in seinem neusten Buch, The Zero Marginal Cost Society: The internet of things, the collaborative commons, and the eclipse of capitalism (2014) seine Vorstellungen von der dritten Industriellen Revolution noch einmal auf und bereichert sie um die Vernetzung von Alltagsgeräten, um 3D-Drucker und Internetuniversitäten: „The real revolution comes when the 3D Makers Movement connects all the ‚things’ in a 3D Makers economy to an Energy Internet.“
Die Folgen sollen dramatisch sein. Aber Jeremy Rifkin bemüht sich, die gefürchtete Rückkehr zum ungehemmten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts in einen unmittelbar bevorstehenden mittelständischen, paradiesischen Sozialismus zu wenden: „The old paradigm of owners and workers, and of sellers and consumers, is beginning to break down. Consumers are becoming their own producers [...] prosumers will increasingly be able to produce, consume, and share their own goods and services with one another on the Collaborative Commons at diminishing marginal costs approaching zero.“ Weil Wind und Sonne die Energie, das Internet die Bücher oder Filme und die 3D-Drucker den restlichen Hausrat liefern sollen, wird fast alles kostenlos werden und den Kapitalismus überflüssig machen, prophezeit Jeremy Rifkin für die kommenden Jahrzehnte, für die hierzulande die Rentenmauer erwartet wurde.
Allerdings hat diese dritte Industrielle Revolution – in Davos wurde diese Woche schon die vierte angekündigt – bisher nicht zur Befreiung unabhängiger Produzenten und Konsumenten geführt, sondern, im Gegenteil, zu Quasimonopolen wie Google, Apple, Ebay, Amazon oder Facebook. Und auch Jeremy Rifkin stellt seine Bücher nicht als kostenlose Gemeingüter ins Internet, sondern verkauft sie mit Hilfe internationaler Verlage wie Penguin (Tarcher) und Macmillan. So wie er trotz der gegen null tendierenden Grenzkosten seiner Unternehmensberaterfirma das Luxemburger Wirtschaftsministerium und die Handelskammer nicht kostenlos berät, sondern ihnen eine halbe Million Dollar verrechnet. Aber so viel muss ihnen die erhoffte Akzeptanz einer Revolution von oben schon wert sein.