Furzende Sportwagen wären wahrscheinlich kein geeignetes Gesprächsthema für den noblen Residenzclub Affalterbach in einer ehemaligen Villa des AMG-Gründers Hans Werner Aufrecht. Wer über künstliche Fehlzündungen und auf Knopfdruck geöffnete Abgasrohre reden will, sollte in dem Treffpunkt für gut betuchte Autofreaks besser Werbung zitieren und zum Beispiel „sportlich brachialer Klang“ sagen oder „Fahrdynamik mit passender Begleitmusik“. Schließlich wird in dem benachbarten Industriegebiet nicht nur an aufgemotzten Motoren, Zierstreifen und Breitreifen gearbeitet, sondern besonders gern auch an Sounddesign für Auspuffanlagen.
Auf der anderen Seite der Hügel, im nahen Stuttgart, regieren neuerdings Grüne, die Parkplätze vernichten. Im fernen Brüssel gibt es Eurokraten, die meinen, Gesetze müssten auch für Premium-Autohersteller gelten; ab Juli 2016 sollen alle Neuwagen die Lärmgrenzwerte einhalten. Wenn es tatsächlich verboten würde, nur zum Spaß Krawall zu machen, dann müssten Auspuffklappen nicht nur unter deutschen Testbedingungen geschlossen bleiben, sondern auch in Wirklichkeit. In Affalterbach, einem 4 500-Einwohner-Dorf im Hinterland des Daimler-Stammwerks Stuttgart-Untertürkheim, würden sich da viele am liebsten bekreuzigen. Lieber erzählen Autobauer die Geschichte von Mercedes-AMG: Der Aufstieg vom Zweimann-Betrieb zum weltweit bekannten Unternehmen ist ganz nach schwäbischem Geschmack.
Hans Werner Aufrecht wurde 1938 nordöstlich von Stuttgart geboren. Nach einer Ausbildung zum Maschinenschlosser wollte der Motorsport-Fan unbedingt „zum Daimler“. Anfang der 1960er Jahre landete er dort tatsächlich in der Entwicklungsabteilung – just in dem Moment, als der Konzern aus dem Rennzirkus ausstieg. Aufrecht ließ sich davon nicht verdrießen. Zusammen mit dem Ingenieur Erhard Melcher tüftelte er privat weiter an Rennwagen. Die beiden präparierten einen Mercedes 300SE, mit dem ihr Daimler-Kollege Manfred Schiek zehn Mal bei der Deutschen Tourenwagenmeisterschaft gewann. Immer mehr Bekannte ließen sich von Aufrecht und Melcher Motoren frisieren.
Im Sommer 1967 kündigten beide bei Daimler und machten sich selbstständig. In einer alten Mühle in dem Dorf Burgstall, etwa 20 Kilometer von Untertürkheim entfernt, richteten sie ein „Ingenieurbüro, Konstruktion und Versuch zur Entwicklung von Rennmotoren“ ein. Später tauften sie ihr Unternehmen „AMG Motorenbau- und Entwicklungsgesellschaft“. Die Buchstaben AMG stehen für die beiden Gründer und für Aufrechts Geburtsort Großaspach.
Ein erster großer Erfolg für AMG war das 24-Stunden-Rennen von Spa-Francorchamps im Juli 1971: Eine schwere, unförmige Luxuslimousine namens „Rote Sau“ fuhr den leichten Rennwagen der Konkurrenz davon. AMG hatte den V8-Motor eines Mercedes 300SEL aufgebohrt, den Hubraum von 6,3 auf 6,8 Liter vergrößert und die Leistung von 250 auf 420 PS gesteigert. Da damals noch niemand an das Mercedes-Museum dachte, wurde die „Rote Sau“ zu einem Testgerät für Düsenjet-Reifen umgebaut und ging irgendwo in Frankreich verloren. Erst 2006 wurde eine Replik des legendären Urahns gebaut.
Autorennen brachten in der Anfangszeit nicht viel Geld. Ihre Boliden finanzierten Aufrecht und Melcher damit, reguläre Mercedes-Benz-Modelle schneller, schöner und teurer zu machen. Tuning war damals noch eine echte Marktlücke, in der sich außer Brabus aus Bottrop kaum jemand versuchte. Im Jahr 1976 zog AMG mit einem Dutzend Mitarbeiter aus der Mühle aus und baute sich am Rand des Nachbardorfs Affalterbach eine neue Werkstatt mit Büro.
Erhard Melcher wurde mit der Entwicklung eines Vier-Ventil-Zylinderkopfs in Fachkreisen berühmt: Ein mit einem V8-Motor von AMG ausgerüstetes Mercedes-Coupé wurde von US-Journalisten ehrfürchtig „The Hammer“ genannt. Das 1985 in Affalterbach eingeweihte AMG-Werk II mit hundert Mitarbeitern war bald wieder zu klein. Ein 1990 mit Daimler abgeschlossener Kooperationsvertrag ermöglichte AMG, rund um die Erde Niederlassungen und Vertriebspartner von Daimler zu nutzen – die Verkaufszahlen schnellten in die Höhe. Im gleichen Jahr ging Werk III mit 400 Mitarbeitern an den Start. Prominente aller Art fingen an, nach Affalterbach zu pilgern, um sich ihren Mercedes mit Telefonkonsolen, Kühlfächern und anderen Extras aufbrezeln zu lassen.
Die Daimler AG kaufte 1999 von Hans Werner Aufrecht 51 Prozent der AMG-Anteile und übernahm 2005 auch den Rest. Seither ist die Mercedes-AMG GmbH eine hundertprozentige Tochter von Daimler und in dem Konzern für Sportwagen und kundenspezifische Einzelanfertigungen zuständig. AMG ist nun jeweils für die schnellsten und teuersten Varianten einer Mercedes-Baureihe verantwortlich: derzeit mehr als 20 verschiedene Limousinen, Coupés, Roadster und SUV.
„Werkstuner von Daimler“ hört man in Affalterbach allerdings ungern. Immerhin hat AMG bereits zwei Sportwagen eigenständig entwickelt: Der Flügeltürer Mercedes-Benz SLS AMG (571PS, max. 317 km/h) wurde von 2010 bis 2014 gebaut und ab 177 000 Euro verkauft. Das Nachfolgemodell Mercedes-AMG GT (462PS, max. 304 km/h), beziehungsweise AMG GTS (510PS, max. 310 km/h) ist ab 115 000 Euro zu haben und soll dem Porsche 911 Konkurrenz machen. Der V8-Motor von AMG wird dabei im Daimler-Werk Sindelfingen in eine Alu-Karosserie eingebaut, die von Magna Steyr aus Graz kommt.
Zu den rund zwei Millionen Fahrzeugen, die Mercedes-Benz Cars im Jahr 2015 verkaufte, steuerte AMG 68 875 Wagen bei – im Vergleich zu 2014 ein Plus von rund 45 Prozent. Die meisten davon waren allerdings vergleichsweise billige, so genannte „Sportmodelle“ mit AMG-Optik und Allradantrieb, aber nur ordinären Serienmotoren. Die exquisiten „echten“ AMG-Motoren werden in Affalterbach (V8), im ostdeutschen Kölleda (V4) und in Mannheim (V12) nach dem Motto „Ein Mann, ein Motor“ von jeweils einem Monteur zusammengebaut und signiert: „Handcrafted by Michael Kübler in Germany“.
Das bislang einzige AMG-Elektrofahrzeug, der Mercedes SLS AMG electric drive (552 kW/751 PS), wurde nur von Frühjahr bis Herbst 2013 produziert und für 416 000 Euro verkauft. Das Experiment scheint sich trotz eigens dafür komponierten Fahrgeräuschen nicht so bewährt zu haben. Für die nächste Zeit sind keine weiteren Elektroautos angekündigt; AMG arbeitet aber an Hybridfahrzeugen. Der derzeit stärkste AMG-Motor verbraucht 15 Liter Superbenzin auf 100 Kilometer, natürlich nur unter Testbedingungen. Geliefert wurde dieser V12-Biturbo-Motor bis vor kurzem an die italienische Automanufaktur Pagani, deren Zweisitzer Huayra damit auf 537 kW/730 PS und eine Höchstgeschwindigkeit von 370 Stundenkilometer kommt. Ein Nachfolgemodell soll in Arbeit sein.
Der Rennsport wurde 1999 von AMG in ein anderes von Hans Werner Aufrecht gegründetes Unternehmen ausgegliedert. Die von Aufrecht kontrollierte HWA AG betreut Renneinsätze im Auftrag von Daimler, fertigt aber auch für andere Rennteams Motoren. Heute arbeiten in Affalterbach 290 HWA-Mitarbeiter direkt neben den mittlerweile mehr als 1 300 AMG-Mitarbeitern. Den meisten dürfte es egal sein, an welchem Ende der Benzstraße sie angestellt sind, wenn sie nur an Mercedes-Motoren schrauben können. Rennautos wie der SLS AMG GT3 werden ohnehin gemeinsam gebaut.
Tiefer gelegte Fahrwerke, Spoiler, Pedale aus gebürstetem Edelstahl mit Gumminoppen, verchromte Endrohrblenden und anderer Zierrat brachten Aufrecht im Jahr 2010 in der Liste der reichsten Deutschen auf Platz 301. Selbst AMG ist aber nicht so perfekt, dass Freaks in irgendeinem deutschen Dorf nicht weiter daran herumtunen könnten: Firmen wie G-Power aus Aresing, Wimmer aus Solingen, Poseidon aus Montabaur oder Väth aus Hösbach machen AMG-Modelle durch Umbauten und Software-Modifikationen noch schneller. Zum Angebot gehören jeweils auch dazu passende Geräusche. Beispielsweise soll die von HS Motorsport aus Elching verkaufte Edelstahl-Abgasanlage den Sound des V8-Biturbomotors noch ungehemmter wiedergeben. Jedenfalls so lange die Knallerei erlaubt bleibt.