Finanzminister Luc Frieden (CSV) hatte kein Wort darüber verloren. CSV-Fraktionssprecher Marc Spautz und LSAP-Fraktionssprecher Lucien Lux hatten kein Wort darüber verloren. Dabei war ihnen die Vorstellung des dritten Sparpakets zur Sanierung der Staatsfinanzen vergangene Woche gleich zwei wortreiche Pressekonferenzen wert.
In den Gesetzentwurf 6497, mit dem ab 1. Januar die angekündigten Steuererhöhungen in Kraft gesetzt werden sollen, ist unter Artikel eins Absatz 6° unscheinbar der kurze Satz eingefügt: „L’article 125 est abrogé.“ Artikel 125 des Einkommenssteuergesetzes besagt: „Lorsque la moyenne de l’indice des prix à la consommation des six premiers mois d’une année accuse par rapport à la moyenne de l’indice des prix des six premiers mois de l’année précédente une variation de 3,5 pour cent au moins, le tarif de l’impôt sur le revenu des personnes physiques applicable à compter de l’année d’imposition suivante est à réviser en raison de la variation de l’indice des prix constatée. À cette fin le Gouvernement soumettra à la Chambre des Députés le projet de tarif de l’impôt dûment adapté.“
Durch diese Anpassung der Steuertabelle an die Inflation sollen nominalen Lohnerhöhungen nominale Steuersenkungen entsprechen. Deshalb ist die halbautomatische Inflationsanpassung der Steuertabelle ein wenig die Zwillingsschwester der automatischen Indexanpassung der Löhne und Renten an die Inflation. Sollen sie nun zusammen sterben?
Lange Jahre galt die Lehre, dass die Indexanpassungen keine Lohnerhöhungen darstellten, sondern lediglich eine Maßnahme, um die Löhne vor einem Wertverlust als Folge der Geldentwertung zu schützen. Das kann aber eine perverse Folge haben: Die Steuertabelle ist progressiv und besteuert die höheren Einkommen stufenweise höher. Wenn durch einen Kollektivvertrag oder eine andere Abmachung Löhne erhöht werden, ist es deshalb selbstverständlich, dass die Nutznießer auch einen höheren Beitrag in die Staatskasse abgeben.
Anders aber, wenn Einkommen an die Inflation angepasst werden. Wenn sie dadurch auf eine höhere Stufe der Steuertabelle rutschen und höher besteuert werden, drohen sie zwar nominal erhöht, aber real, das heißt inflationsbereinigt, gekürzt zu werden. Der Fiscal engineer nennt das „fiscal drag“.
Aus diesem Grund hatte die Regierung kurz vor der Verabschiedung der großen Steuerreform von 1967 im Parlament einen Änderungsantrag eingebracht, um einen Artikel 152-octies, den heutigen Artikel 125, einzuführen. Er schrieb vor, dass mit dem Staatshaushalt eine Anpassung der Steuertabelle gestimmt werden soll, falls der Index binnen eines Jahres um fünf Prozent steigt oder fällt. Der Grenzwert wurde seither sogar auf 3,5 Prozent verringert.
Bei den Debatten im Parlament über die neue Regelung hatte es damals niemand gegeben, der sie beanstandete. Manche Redner bedauerten vielmehr, dass die Anpassung der Steuertabelle nicht genau so automatisch wie die Indexanpassung geschehen sollte, sondern jedes Mal das Haushaltsgesetz bemüht werden musste und auch dies nur auf Vorschlag, wie es im Gesetz heißt. Die Regierung erklärte das unter anderem damit, dass sie jeweils runde Beträge für die Einkommensstufen in der Steuertabelle festsetzen wollte. Vor allem aber wollte sie sich einen Spielraum lassen, um in Zeiten knapper Kassen die Anpassung der Steuertabelle zu verhindern.
Verzichtet die Regierung nämlich darauf, dem Parlament eine Anpassung der Steuertabelle vorzuschlagen, entsteht eine schleichende Steuererhöhung, welche vielen Wählern gar nicht auffällt. Das trifft sich für die Regierung gut. Denn die Wähler verübeln einer Regierung kaum etwas mehr als Steuererhöhungen.
Deshalb wurde im Laufe der Zeit die Anpassung der Steuertabelle an den Preisindex immer mehr zur Ausnahme. Statt eine in Artikel 125 des Einkommenssteuergesetzes vorgesehene lineare Anpassung an die Inflation vorzunehmen, beschlossen die verschiedenen Regierungen seit den sehr liberalen Achtzigerjahren lieber Änderungen an der Steuertabelle, um die Steuerlast umzuverteilen. Wie in den meisten OECD-Ländern wurden 1991, 1998, 2001 und 2002 im Zuge allgemeiner Steuerreformen der Grundfreibetrag erhöht, die Progression durch die Reduzierung der Zahl der Einkommensstufen abgeflacht und der Spitzensteuersatz gesenkt. Wobei die Erleichterungen für viele Haushalte nicht nur nominal, sondern auch real ausfielen, also die Folgen einer linearen Anpassung an den Preisindex übertrafen. Dabei sparten aber die Spitzenverdiener mit Abstand am meisten.
In ihrem Jahresbericht Taxing Wages hatte die OECD 2008 festgestellt, dass seit 2000 in 18 OECD-Staaten die Steuertabelle an die Inflation angepasst wurde, nicht aber in Luxemburg. Deshalb seien die Folgen der Steuerreformen durch den Fiscal-drag-Effekt rückgängig gemacht worden. Gleichzeitig habe Luxemburg zu jenen Staaten gehört, wo gerade das Zusammenwirken von Steuerreform und schleichenden Steuererhöhungen die höheren Einkommensgruppen am meisten bevorzugt habe.
Die einzige lineare Anpassung an die Inflation in den vergangenen 20 Jahren geschah am 1. Januar 2008, als die Regierung die Steuertabelle um sechs Prozent anpasste. Allerdings machten die Indexanpassungen der Löhne und Renten seit der vorangegangenen Steuerreform mehr als das Doppelte, 15,97 Prozent, aus.
Als Begründung für die nun endgültige Abschaffung der gesetzlichen Bestimmung über die Anpassung der Steuertabelle an die Inflation heißt es im Motivenbericht zum Gesetzentwurf: „Dans le contexte actuel, les considérations de politique budgétaire ne permettent pas de maintenir en vigueur une disposition en matière de l’impôt sur le revenu qui renferme l’adaptation du tarif à la variation de l’indice pondéré des prix à la consommation sous certaines conditions.“ Dies überrascht insofern, als es sich sowieso um eine Kannbestimmung handelt, die in Krisenzeiten nicht angewandt wurde. So dass keine zwingende Notwendigkeit zu bestehen scheint, sie nun ausdrücklich abzuschaffen und die Anpassung auch dann zu verhindern, wenn es den Staatseinnahmen wieder einmal besser geht.
Die automatische Indexanpassung der Löhne und Renten ist zusammen mit dem Kündigungsschutz eine der wesentlichen Sicherungen gegen die Risiken einer lohnabhängigen Existenz. Denn sie soll durch Gesetz eine Erosion der Einkommen als Existenzgrundlage der überwältigen Mehrheit der Bevölkerung verhindern. Unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs der Produktionsstandorte senkt die Regierung mit und ohne Sozialpartner die Kosten dieser Sicherheiten seit Jahren – durch die Desindexierung von Zusatzeinkommen, wie dem Kindergeld und anderer Familienzulagen, und der Reduzierung und Verzögerung der Indexanpassungen von Löhnen und Renten. Das Ziel ist, das im internationalen Vergleich als Anomalie dargestellte System über mehrere Legislaturperioden hinweg abzubauen, bis es vielleicht ganz abgeschafft sein wird. Dazu passt auch, dass nun die gesetzliche Möglichkeit einer Inflationsanpassung der Steuertabelle möglichst unauffällig aus dem Einkommensteuergesetz gestrichen werden soll, obwohl sie seit Jahren nicht mehr genutzt wird.
Romain Hilgert
Kategorien: Öffentliche Finanzen, Regierung
Ausgabe: 09.11.2012