Er heißt Antoine Deltour, ist 28 und sein Bild passt nicht auf das „Most Wanted“-Poster eines gefährlichen Staatsfeindes. Schmal und blass sieht er aus, ein Idealist, der aus Überzeugung gehandelt hat, der auch sonst gerne Gutes tut. Fürs Klima beispielsweise und der deshalb mit einem Bananen-ähnlichen Velomobil durch Luxemburg-Stadt zu PWC zur Arbeit radelte. Ein schüchterner Anti-Held – so sieht der Daten-Dieb aus, dessen Beute das ICIJ ohne sein Wissen ins Netz stellte. Dass Luxemburgs Image lädiert ist, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sich einem Misstrauensvotum stellen musste, noch bevor er vereidigt war, ist nicht allein sein Verdienst. Er hatte Helfer. Beim Staat. Als das Finanzministerium der EU-Kommission Anfang des Jahres 22 anonyme Ruling-Beispiele schickte, blieb auf einem davon der Firmenname ungeschwärzt: FFT. Ärgerlich, dass das zum Staatsbeihilfeverfahren geführt hat. Pierre Gramegna sind wichtige Beamte abhanden gekommen, sein Vorgänger war mit Srel-, Bombenleger- und Cargolux-Skandalen abgelenkt. Unterdessen versuchte die Justiz hartnäckig, die französischen Kollegen zur Kooperation anzuhalten. Bisher wurden keine Klagen gegen weitere Datendiebe eingereicht. Auch nicht gegen PWC, die Deltour freien Zugriff auf die Rulings ermöglichten. Ob die Luxemburger Justiz den franzöischen Journalisten wegen Hehlerei verfolgen und einen internationalen Protest-Aufschrei riskieren will, dazu äußert sie sich derzeit nicht. Antoine Deltours Prozess, so sein Anwalt, könnte binnen weniger Monate beginnen.
09/2008: Antoine Deltour wird bei PWC als Buchprüfer eingestellt.29/09/2008: Auftakt Bankenkrise: Die Benelux-Länder retten Fortis. 04/2009: Luxemburg wird beim G-20-Gipfel in London auf die „graue Liste“ der Länder gesetzt, die in Steuerfragen nicht kooperativ sind. 02/2010: Griechenland revidiert das Defizit für 2009. Die Schuldenkrise beginnt.03/2010: Antoine Deltour führt in der Émission de solutions sein Velomobil vor, in dem er durch Luxemburg-Stadt radelt.
07/06/2010: Finanzminister Luc Frieden (CSV) wird bei Jacques Delvaux, Notar, vorstellig. Mit 31 000 Euro Firmenkapital gründet er den Spezialfonds European Financial Stability Facility (EFSF), den ersten Euro-Rettungsfonds.10/2010: Antoine Deltour kündigt bei PWC, kopiert vor seinem Abgang Dokumente, darunter die Rulings.16/12/2011: Die Tripartie scheitert. Die Regierung beschließt, den Index bis ans Ende der Legislaturperiode zu modulieren. 15/05/2012: France2 zeigt in der Sendung Cash Investigation, wie große Unternehmen in Luxemburg Steuern optimieren. Grundlage sind bei PWC entwendete Dokumente. In der Sendung wird von 47 000 Dokumenten, die vorliegen, gesprochen. Luc Frieden (CSV), Finanzminister, Pascale Toussing, stellvertretende Direktorin der Steuerverwaltung, und Wim Piot, PWC Luxemburg, geben in der Sendung Interviews. 06/2012: PWC erstattet Anzeige gegen Unbekannt wegen Diebstahls.18/06/2012: Die zuständige Untersuchungsrichterin schickt im Rahmen des Datenklaus bei PWC ein Rechtshilfeersuchen an die Behörden in Nancy.06/07/2012: Die französische Justiz schickt eine Eingangsbestätigung.09/2012: Die Luxemburger Justiz wird informiert, dass Antoine Deltour nicht mehr in Épinal in den Vogesen wohnt, sondern in Nancy.11/09/2012: Die Luxemburger Behörden beantragen eine Weiterleitung der Akte Antoine Deltour von Épinal nach Nancy.12/10/2012: Die Akte Antoine Deltour wird nach Nancy weitergeleitet.16/11/2012: Qatar Airways zieht sich aus Cargolux zurück.25/02/2013: Auftakt im Bombenlegerprozess.03/04/2013: Das internationale Journalistenkonsortium ICIJ veröffentlicht Offshoreleaks, stellt eine Datenbank von tausenden Unterlagen ins Netz.06/04/2013: Luc Frieden schafft durch ein aufgrund von Offshoreleaks missverständliches Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung das Bankgeheimnis für EU-Bürger ab. 12/04/2013: „Aktiv, konstruktiv, offensiv – so wird unser Verhalten in diesen Diskussionen sein. Es geht darum, wie sich Unternehmen in einer globalen Wirtschaft aufstellen können und wo sie Steuern bezahlen. Dies ist ein Thema, das alle Staaten, in denen Finanzdienstleistungen angeboten werden, ein wichtiges Anliegen ist – Irland, den Niederlanden, Großbritannien, Luxemburg – wir sind also in diesem Dossier nicht alleine“, sagt Luc Frieden im Land-Interview, auf die EU-Initiative gegen die aggressive Steuerplanung von Unternehmen angesprochen.13/06/2013: Finanzminister Luc Frieden muss sich im Parlament einem Misstrauensvotum stellen, weil ihm Generalstaatsanwalt Robert Biever vorgeworfen hatte, die Bombenleger-Untersuchung in Frage gestellt zu haben.19/06/2013: Die EU-Kommission richtet ein Auskunftsersuchen mit ausführlichen Fragen zu seiner Steuervorabentscheidungspraxis an Luxemburg.25/06/2013: Das Rechtshilfeersuchen Antoine Deltour wird von der Kriminalpolizei Nancy an den Untersuchungsrichter in Nancy weitergeleitet, aber nicht ausgeführt. Antoine Deltour wohnt wieder in Épinal. 10/07/2013: Das Parlament diskutiert den Abschlussbericht des Srel-Untersuchungsausschusses. Staatsminister Jean-Claude Juncker (CSV) beantragt Neuwahlen. 17/07/2013: Die Luxemburger Behörden reagieren mit einem generellen Antwortschreiben auf das Auskunftsersuchen der EU-Kommission. 20/10/2013: Neuwahlen in Luxemburg.04/12/2013: Vereidigung der Regierung von DP, LSAP und déi Gréng20/12/2013: Frankreich schickt das Rechtshilfeersuchen Antoine Deltour zurück.01/2014: Die Luxemburger Kriminalpolizei erkundigt sich beim Untersuchungsrichter in Nancy, ob Antoine Deltour immer noch in Épinal wohnhaft ist. Nachdem der Wohnsitz bestätigt ist, schickt die Untersuchungsrichterin erneut ein Rechtshilfeersuchen an die Behörden in Épinal.15/01/2014: Auszug aus dem Amtsblatt : „Luxemburg beantwortete das Ersuchen nur teilweise und legte 22 Vorabentscheidungen für den Zeitraum 2010-2013 vor, in denen die Namen der Steuerzahler geschwärzt waren. Luxemburg zufolge sind diese 22 Vorabentscheidungen für die luxemburgische Praxis als repräsentativ anzusehen.“
28/02/2014: Finanzminister Pierre Gramegna bedauert gegenüber RTL den Rücktritt von Georges Heinrich, Schatzamtsdirektor, Alphonse Berns, Direktor für Steuerfragen, und Sarah Khabirpour, Regierungsrätin im Finanzministerium, „aus persönlichen Gründen“.04/03/2014: Die Untersuchungsrichterin schickt erneut ein Rechtshilfeersuchen an die Behörden in Épinal.07/03/2014: Die EU-Kommission fordert Luxemburg auf, zu bestätigen, dass es sich bei der Firma FFT um Fiat Finance and Trade handelt, teilt mit, sie schließe nicht aus, dass das FFT-Ruling eine illegale Staatsbeihilfe enthält.02/04/2014: Die Luxemburger Behörden erhalten eine Eingangsbestätigung für ihr Rechtshilfeersuchen in Bezug auf Antoine Deltour.07/04/2014: Jean-Claude Juncker wird in Dublin zum Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei bei den Europawahlen gekürt. Die EU-Kommission fordert Luxemburg erneut schriftlich auf, zusätzliche Informationen in Bezug auf FFT zu liefern.16/04/2014: Alphonse Berns, Direktor für Steuersachen im Finanzministerium, schickt nach der Sitzung der Finanzkommission vom 18. März ein Erklärungsschreiben ans Parlament. „En fait les explications avancées par Monsieur le ministre des Finances (...) ; elles passent sous silence les mesures prises ayant amené une déstructuration du ministère et le délaissement des fonctions de coordination, de direction et de préparation de dossiers, de visites ou d’entretiens ministériels.“
24/04/2014: Das Finanzministerium teilt der Kommission mit, dass es keine weiteren Informationen in Bezug auf FFT besitzt und die Identität von FFT aus Vertraulichkeitsgründen nicht bestätigen kann.27/06/2014: Der EU-Rat einigt sich auf Jean-Claude Juncker als Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten.08/09/2014: Die französischen Behörden senden das ausgeführte Rechtshilfeersuchen zurück an die Luxemburger Behörden. Die Überführungsunterlagen fehlen. 07/10/2014: Die EU-Kommission leitet eine Untersuchung wegen illegaler Staatsbeihilfen für Amazon in Luxemburg ein. Im Fokus stehen die Transferpreise.14/10/2014: Das ICIJ schickt seinen Fragenkatalog in Bezug auf die Rulingpraxis an das Finanzministerium. Aus den ersten zwei Fragen geht hervor, dass die Journalisten eine Zeitspanne von zehn Jahren untersucht haben und hunderte von Rulings vorliegen haben. 15/10/2014: Finanzminister Pierre Gramegna stellt den Haushaltsentwurf für 2015 vor. Im Zukunftspak enthalten: Eine Disposition, die den Rulings eine legale Basis gibt, und eine weitere, durch die die Luxemburger Gesetzgebung in Sachen Transferpreise an OECD, und EU-Standards angepasst wird. Die traditionelle Anwendung der Vorabentscheidungen „est considérée comme n’étant plus entièrement adaptée aux besoins de la situation actuelle, notamment en raison de l’absence de base légale explicite“, heißt es darin. Und dass die Luxemburger Abgabenordnung das Prinzip, nach dem Transferpreise zwischen Unternehmen einer gleichen Gruppe denen zwischen unabhängigen Marktteilnehmern entsprechen müssen, nur „de manière plutôt indirecte“ reflektiert.
17/10/2014: Amtsblatt der Europäischen Union C369/37: Staatliche Beihilfen – Luxemburg. Mutmaßliche Beihilfe für FFT: Aufforderung zur Stellungnahme nach Artikel 108 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. „Nach ihrer bisherigen Kenntnis der Sachlage hat die Kommission Grund zur Annahme, dass die Vorabentscheidung für FFT eine staatliche Beihilfe (...) darstellt. Die Kommission hat derzeit Zweifel daran, dass FFT in Luxemburg nicht genug Steuern entrichtet. Die Vorabentscheidungen wurden von Luxemburg getroffen und würden eine Verwendung staatlicher Mittel in Form entgangener Steuereinnahmen darstellen. (...) Die Kommission hat geprüft, ob die in der Vorabentscheidung der luxemburgischen Steuerbehörden für FFT vereinbarten Verrechnungspreise von den Bedingungen abweichen, die zwischen unabhängigen Marktteilnehmern festgelegt worden wären.“ Die Kommission hat die Transferpreise im Blick. Das Ruling und die Berechnungsmethode derTransferpreise stammen von KPMG. 01/11/2014: Die neue EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker tritt ihr Amt an.04/11/2014: Das Luxemburger Parlament nimmt den Gesetzentwurf 6680 über den Austausch von Steuerinformationen und die dafür vorgesehene Prozedur an. 05/11/2014: Das Luxemburger Parlament nimmt den Gesetzentwurf 6668 an, mit dem Luxemburg die Reform der Zinsbesteuerungsrichtlinie umsetzt.05/11/2014: Finanzminister Pierre Gramegna informiert die Luxemburger Presse über die Tragweite der Parlamentsbeschlüsse der vorherigen Tage: Dadurch erfüllt Luxemburg die Anforderungen der Groupe d’action financière (Gafi) – im Bezug auf die Besteuerung natürlicher Personen. 06/11/2014: Luxleaks I: Das Konsortium internationaler Journalisten ICIJ veröffentlicht 28 000 Seiten Steuerrulings, die bei PWC gestohlen wurden. 07/11/2014: Staatsminister Xavier Bettel (DP) sagt, er „akzeptiere nicht, dass ein ganzes Land duerch de Kacka gezu gëtt“24/11/2014: „We feel deeply sorry for what the Luxembourgish public has experienced due to a fraud back in 2010“, sagt Didier Mouget, Managing Partner von PWC, bei der Eröffnungsfeier des neuen Firmensitzes.27/11/2014: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker übersteht das Misstrauensvotum im Europaparlament.08/12/2014: Finanzminister Pierre Gramegna sichert Belgien die Übergabe aller Rulings, die Belgien betreffen, „im Prinzip“ zu. Ob die Kommission die gefragten Rulings erhält, kann er zu diesem Zeitpunkt nicht sagen.09-10/12/2014: Luxleaks II: Das ICIJ und andere Medien veröffentlichen weitere Luxemburger Rulings. Sie wurden von PWC, KPMG, E&Y und Loyens&Loeff vorbereitet.10/12/2014: Die neue EU-Kommission unter dem Vorsitzenden Jean-Claude Juncker wird vereidigt. Im Parlament sagt Pierre Gramegna, aus der Steuerdebatte würden sich neue Möglichkeiten für Luxemburg ergeben: „Compétence, Courage, Concurrence.“11/12/2014: Pascal Saint Amans von der OECD besucht Staatsminister Xavier Bettel und Finanzminister Pierre Gramegna. Vor der Presse erklärt er die verschiedenen Position der OECD-Länder im Rahmen der BEPS-Diskussion um die angemessene Besteuerung von Gesellschaften. Manche Länder seien dafür, dass Firmen dort besteuert werden, wo produziert wird, andere dafür, dass dort besteuert würde, wo konsumiert werde. Das hänge davon, ob die Länder große Produktionskapazitäten beziehungsweise große Verbrauchermärkte hätten. Finanzminister Pierre Gramegna sagt, dass sich Luxemburg an der Diskussion aktiv beteiligt. Dass Luxemburg weder Produktionsanlagen noch einen großen Verbrauchermarkt hat, sagt niemand. 12/12/2014: Antoine Deltour erscheint vor dem Untersuchungsrichter in Luxemburg und wird wegen Diebstahls, Verletzung des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses, Geldwäsche und wegen des unerlaubten Zugriffs auf ein Datensystem angeklagt. Er riskiert laut seinem Anwalt bis zu zehn Jahren Haft und eine Geldstrafe von bis zu maximal 1,2975 Millionen Euro.15/12/2014: Antoine Deltour outet sich im Interview mit Libération als derjenige, der PWC die Rulings gestohlen hat. Er sagt, er habe aus Überzeugung gehandelt.
Libération bemerkt: „Vous risquez d’être condamné au Luxembourg, quand bien même la France vous mettrait à l’abri...“ Antoine Deltour antwortet: „J’ai dénoncé des pratiques qui, jusqu’à ce jour, sont légales mais de plus en plus considérées comme contraires à l’éthique. J’ai du mal à imaginer que je puisse être condamné pour l’exemple. Mon action va dans le sens de l’histoire, initiée par d’autres lanceurs d’alerte ou des ONG. Je n’ai jamais demandé de contrepartie. (...) “ 17/12/2014: Die EU-Kommission verlangt von allen 28 EU-Ländern eine Liste mit den Firmen, die zwischen 2010 und 2013 ein Ruling erhalten haben. Luxemburg begrüßt die Ankündigung, kann aber nicht sagen, ob Luxemburg der Aufforderung der Kommission ein Liste zu liefern, nachkommt.18/12/2014: Das Parlament nimmt den Haushalt 2015 und den Zukunftspak an. Der Entwurf der Ausführungsbestimmung der neuen Ruling-Disposition schließt Privatpersonen nicht aus. Das heißt: