Luxemburgensia

Menschen im freien Fall

d'Lëtzebuerger Land vom 16.11.2018

„Wer hoch steigt“, heißt es in einem Sprichwort, „der kann tief stürzen.“ Es ist der volksweisliche Aufruf zur Mäßigung in der protestantischen Ethik, denn jedes Hochgefühl, jeder Erfolg, jeder Glücksmoment kann nicht anders enden, denn mit einem tiefen, freien Fall. Die Angst vor dem Sturz wird jedem Aufschwung mitgegeben. Ins Ungewisse. Ins Bodenlose. In tiefe Dunkelheit. Oder ins helle Tageslicht. Auf die Bühne der Eitelkeiten. Mitten ins Leben. In Gesellschaft, unter Freunden und über Belanglosigkeiten. Mit dem Sturz ist oftmals die Scham verbunden, seinen Halt verloren zu haben, oder unfähig zu sein, das eigene Dasein zu meistern – oder aufrecht durch das Leben gehen zu können, eine verkorkste Existenz zu sein. Die Scham ist eine der Master Emotions des Menschen. Fest eingraviert auf die Festplatte des Lebens und Überlebens begleitet sie – neben der Furcht und dem Stolz – ihn auf dem Weg durch die Evolution. Die luxemburgische Autorin (und Literaturkritikerin des Land) Elise Schmit hat nun in ihrem Erstlingswerk Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen eben jene Abstürze zusammengetragen. Die Metaebene bildet dabei gleich zu Beginn des Kompendiums eine Auflistung von Stürzen, die Geschichte schrieben, sich in der Populärkultur einprägten oder dem Leben an sich eine unabsehbare Wendung gaben. Wenn auch stets in die gleiche, vertikale Richtung.

In den sechs Erzählungen und Kurzgeschichten befasst sich Schmit aber nicht mit dem Sturz an sich, sondern kreist um diesen, leuchtet ihn indirekt aus verschiedenen Perspektiven aus und lässt ihn in einem nebensächlichen Erzählstrang geschehen. So etwa in der ersten Kurzgeschichte Letztes Haus vor dem Meer. Hier wohnt Ingrid. Sie hat ihr Leben in ihren Ritualen eingerichtet und beobachtet es nur noch von ihrer Warte am Küchenfenster aus. Es zieht an ihr vorüber wie die Touristenscharen, die eine nahe Klippe besuchen, die nach einem Felssturz eine besondere Form erhalten hat. Schmit gelingt es, den Leser auf allerlei Fährten und Wege zu setzen, zur Klippe, zum Meer, in den erstarrten Lebensalltäglichkeiten der Protagonistin, indem sie assoziativ Stürze als tatsächliche Felsbrüche, aber auch Brüche in Biografien inszeniert. Der Einschnitt im Leben wird zum herbeigesehnten Wendepunkt, der eben zu genau jener Ausweglosigkeit führt, dass nur noch das Dasein bleibt, aus dem man ausbrechen kann, wenn man den Mut hat – oder einen die Verzweiflung packt.

Aus diesen Optionen heraus entwickelt sich auch Aus dem Wald, Wind im Gesicht. Hier zeigt Schmit die Möglichkeit auf, den Sturz als solchen zu akzeptieren, als unabänderliches Schicksal anzunehmen oder den Sturz vermeiden oder zumindest aufhalten zu wollen, in den Lauf der Geschichte einzugreifen zu wollen, um aus der Retrospektive Heilung herbeizusehnen und somit nichts anderes als sich selbst Trost zu spenden. Während sich der Zeitungsbote längst in seiner neuen – abgestürzten – Lebenswirklichkeit zurechtgefunden hat, beobachtet er – schwankend zwischen Wut, Neid und Mitleid, Anerkennung und Bewunderung – seinen Gegenspieler, den Menschen aus dem Wald, der alles unternimmt, um zeitreisend seinen Absturz vermeiden zu können, um verpasste und verpatzte Augenblicke ungeschehen zu machen. Dabei ist dies unmöglich. Denn selbstredend ist dieser Absturz längst ausgelöst und unaufhörlich ist er im freien Fall seiner selbst, doch schafft er es in einem Selbstbetrug dagegen aufbegehren zu wollen.

Im Zentrum des Erzählwerks steht die Kurzgeschichte Im Zug. Sicherlich das stärkste Stück in diesem Band, der die ganze Kraft und die Stärke von Elise Schmits Erzählkunst aufzeigt. In einem atemlosen Tempo wird eine Trennung zelebriert, in dem sich das Erzählende Ich auf eine absurde, ziellose Bahnreise begibt und mit dem Zug durch sein Leben rast, um Abstand von der Freundin zu gewinnen und doch Nähe sucht. Der Sturz aus der Beziehung wird zum Train Movie an Wirrungen und Irrungen, emotional, rational, irrational, absurd. Schmit schafft es den Leser mit dem Beziehungsentreisenden – oder Liebeentreißenden – stolpern, straucheln, sich verrennen, hoffen, wagen und verlieren zu lassen. Der Leser ist Mitreisender ohne Fahrkarte, Mitleidender ohne Fahrplan bis Puste, Geld und Bahngleise enden. Für diese Kurzgeschichte hat sie 2012 den luxemburgischen Literaturpreis bekommen.

Allen Figuren und Protagonisten in Schmits Geschichten ist gemeinsam, dass sie sich die Zeit vor dem Sturz als ein Refugium aufgebaut haben, das ihren Sehnsüchten und ihrem Verlangen einen Ort und Raum gibt. Etwa Helena, die sich noch einmal an Die Liebe vor fünfundzwanzig Jahren zurückerinnern möchte, nun vom Sohn der damaligen größten Liebe ihres Lebens mit Enttäuschungen oder der bereits damals existierenden Realität konfrontiert wird. Oder Ingrid, die das Haus vor der Klippe lediglich als Ferienhaus für Wochenenden haben wollte, um mit ihrem Mann in der Stadt zu leben. Bis dieser unerwartet starb und das Stadthaus für sie alleine nicht mehr zu halten war.

Schmit gelingt es, einen eigenen Topos zu setzen, ein Biotop, in dem sich die einzelne Geschichte, das jeweilige Schicksal entwickelt. Sprachgewalt und Sprachgefühl lässt Schmit in jedem Satz walten. Sei es retardierend in Letztes Haus vor dem Meer, frustrierend in einer verwelkten Liebe vor einem Vierteljahrhundert oder resigniert in Fast wie neu. In ihrer Erzählstruktur lässt die Autorin viel Raum für scheinbare Nebensächlichkeiten, die oftmals belanglos oder gar überflüssig erscheinen, bis sich allmählich erst der auslösende Moment rauskristallisiert. Doch Schmit setzt nicht auf den heischenden Moment des eigentlichen Sturzes, der in aller plakativen Plätte genüsslich seziert werden könnte, sondern bleibt mit den Protagonisten ihrer Erzählungen auf Tuchfühlung, wenn sie versuchen, den Sturz zu vermeiden oder sich schönzureden, versuchen die Scham in Stolz umzumünzen, was letztendlich den Sturz noch härter enden lässt. Gleiches macht die Autorin auch mit dem Leser, dem sie gerne ein Vier-Zeilen-Ende gönnt, um schnell und plötzlich mit der Geschichte aufzuhören, als hätte der Postbote an der Tür geklingelt, um ein Telegramm abzugeben. Der Leser stürzt aus den Erzählungen und muss sich kurz vor dem Aufprall in der literarischen Realität wieder fangen und sortieren. Das kann funktionieren, wenn es so meisterlich aufgebaut wird, wie in Im Zug. Es kann misslingen, wenn dem Deus ex machina in Letztes Haus vor dem Meer nichts anderes übrigbleibt, als seinen Rucksack an einer Stuhllehne zurückzulassen. Doch es überwiegt die Vorfreude auf den ersten Roman von Elise Schmit, wenn sie denn die Angst vor dem Sturz überwindet und sich an größeres wagt.

Elise Schmit: Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen; Hydre Editions, Bridel, Oktober 2018; 144 Seiten; ISBN 978-2-9199541-0-0; 15 Euro. / Lesung am 18. November 2018 um 14 Uhr, im Rahmen der Walfer Bicherdeeg, im CAW, route de Luxembourg, Walferdingen.

Martin Theobald
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