„Ich möchte mich nicht als Vorzeige-Feminist inszenieren, aber seit meine Frau mir sagte, sie wolle nicht mehr hormonell verhüten, und Sex mit Kondom öde ist, erscheint uns eine Vasektomie die beste Option“, erwähnt ein 35-jähriger Vater von zwei Kindern, der überlegt, sich sterilisieren zu lassen. Es sei eine Form von male privilege, dass Männer sich keine Gedanken über Verhütung machen müssen, meint er, aber in seinem Umfeld ziehen immer mehr Männer eine Sterilisierung in Betracht. Nach einer ersten Beratungssitzung müssten sich zunächst die letzten Zweifel zerstreuen, nachdem er erfuhr, dass eine Vasektomie nicht ohne Weiteres rückgängig zu machen ist: „Manchmal ist das Leben grausam. Was wäre, wenn meine Kinder oder meine Frau in einem Unfall sterben und man nochmals eine Familie gründen will?“ Mit diesen Bedenken habe er allerdings jetzt abgeschlossen und er suche nun nach einem passenden Zeitpunkt für den Eingriff. Während der Beratung habe der Arzt, ein älterer Herr, ihm versichert: „Sie bleiben ein Mann“. „Er muss wohl öfters diesen Ängsten begegnen, vermutet der Gesprächspartner und schickt scherzhaft nach: „Meint er, ob ich noch im Stande bleibe, Bier zu trinken?“.
Die Vasektomie ist eigentlich keine neue Erfindung. Als Alternative zur Kastration wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts die beiden Samenleiter von männlichen Hunden getrennt, einige Dekaden später führten Chirurgen solche Operationen an Männern durch. Sterilisierungseingriffe an Frauen fanden bereits ab 1850 statt. Damals waren die Eingriffe zuweilen durchtränkt mit eugenischem Gestaltungswillen: Eine der ersten Vasektomien wurde von dem Chicagoer Arzt Ochsner durchgeführt, der über diesen Weg zum Schutze der breiteren Gesellschaft verhindern wollte, dass Kriminelle und „Degenerierte“ Kinder zeugen können. 1933 verabschiedeten die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Bis zu 400 000 Männer und Frauen wurden während der NS-Zeit zwangssterilisiert, weil sie als erbkrank galten und die „Reinhaltung des gesunden Volkskörpers“ gefährden würden. Als erbkrank wurde bezeichnet, wer körperlich behindert, psychische Leiden oder eine unterdurchschnittliche Intelligenz aufwies. Daneben zirkulierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber auch die Vorstellung, eine Vasektomie könnte einen Verjüngungsprozess einleiten und den Körper beleben, wie der Londoner Chirurg Norman Haire verkündete. Der Schriftsteller W. B. Yeats suchte Haire auf und beklagte sich, er habe jegliche Inspiration verloren und dachte, seine Lyrik und seine Potenz seien nur noch durch einen Eingriff zu retten. Beides hing für ihn zusammen, ohne Lust und Liebesspiel kein inspiriertes Schreiben – sei ihm das eine nicht möglich, scheitere er auch an dem anderen.
Heute sind diese Vorstellungen und Wünsche überwunden. Patrick Krombach, Urologe an der Klinik auf Kirchberg und Autor wissenschaftlicher Artikel zum Thema, erläutert, das typische Profil seiner Kunden seien heterosexuelle Männer um die 40, bei denen die Familienplanung abgeschlossen sei. In seiner Abteilung werden etwa 150-200 Vasektomien jährlich durchgeführt, genaue Statistiken liegen nicht vor. Feststellbar sei allerdings, dass die Methode in den angelsächsischen Ländern verbreiteter sei, in manchen Gebieten läge der Anteil bei 20 Prozent, und er habe der Eindruck, auch hierzulande steige die Nachfrage. Inwiefern dies mit einem neuen Zeitgeist zusammenhängen könnte, kann er nicht sagen, auch seien bisher Männer aus allen Gesellschaftsschichten in seinem Arztzimmer aufgetaucht. „Es handelt sich um eine ambulante Behandlung, die in geübten Händen zwanzig Minuten dauert und zumeist nur einer Lokalbetäubung bedarf“, erklärt Dr. Krombach sein Handwerk. Banal sei die Operation nicht, denn der Schnitt muss an einer Stelle durchgeführt werden, an der sich viele Gefäße befinden. „In der Regel verheilt die Schnittwunde problemlos, in einem von 1 000 Fällen bleibt jedoch ein chronisches Ziehen in den Hoden“. Etwa fünf Prozent bedauern die Entscheidung; dabei handele es sich zumeist um kinderlose Personen, die sich vor dem 30. Lebensjahr operieren ließen. „Ich kann allerdings versichern, dass die Libido und das Sexualleben unbeeinträchtigt bleiben und auch sonst keine Nebenwirkungen auftreten. Die Spermien gelangen, nachdem die Samenleiter durchtrennt wurden, nicht mehr in die Samenflüssigkeit und werden vom Körper abgebaut“, schildert der Urologe.
Waren zuvor in einem Teelöffel Ejakulat 60 bis 800 Millionen Spermien – Männer produzieren etwa 1 000 Spermien pro Herzschlag –, sind es nach einer erfolgreichen Operation null. Allerdings nicht sofort: Bei manchen kommt es zu einer „Rekanalisation“ und es fließt doch wieder Sperma in die Samenflüssigkeit. Deshalb sollte in den ersten drei Monaten eine weitere Verhütungsmethode angewendet und nach drei Monaten eine Untersuchung des Ejakulates durchgeführt werden. „Ich weiß von Fällen, da wurde der Patient nicht ausführlich über diese dreimonatige Frist aufgeklärt und bekam erneut ein Kind, heute zahlt der Arzt die Alimente“. Trotzdem ist die Sterilisation des Mannes mit seinem 0,1 Perl-Index die sicherste Verhütungsmethode: Das heißt, von 1 000 Frauen ohne Kinderwunsch wird nur eine innerhalb eines Jahres ungewollt schwanger.
Das Land hat auch mit einem Mitte dreißigjährigen Kinderlosen gesprochen, der vor drei Jahren den Eingriff vornahm. Die Entscheidung traf er aus einer Mischung von Gründen heraus: „Kinder großzuziehen ist kein attraktives Lebensziel für mich. Zudem scheint mir die Welt überbevölkert und die künftigen Generationen werden vermehrt mit unterschiedlichen Krisen konfrontiert sein.“ Dass er sich schließlich für eine Vasektomie entschied, hängt auch damit zusammen, dass er die Verantwortung über die Verhütung übernehmen wollte: „Bis dohin hat ech dovu profitéiert, datt d’Fraen Hormoner geholl hunn“. Einen Arzt zu finden, der ihn operiert, stellte sich allerdings etwas schwieriger heraus als gedacht: „Der Herrgott hat das nicht so vorgesehen“, lehnte einer ab; ein weiterer befand, er sei noch zu jung für solch eine Entscheidung. Danach ging er zu einem Spezialisten, für den Vasektomien zu einem Routineeingriff geworden sind. Den Operationsverlauf erlebte er als unspektakulär – „man ist ja lokal betäubt“. Nur zwei Tage sei er im Anschluss zu Hause geblieben und habe die Wunde gekühlt. Mittlerweile haben sich weitere Männer in seinem Freundeskreis die Samenleiter trennen lassen; für andere Bekannte wirke es jedoch kontra-intuitiv, einen Schnitt an einem gesunden Körperteil vorzunehmen. Die Option, Spermien einfrieren zu lassen, habe er für sich als Kinderloser ausgeschlagen und bereut die Entscheidung bisher nicht: „Meine Partnerin hat die Pille nicht gut vertragen, unser Sexualleben ist jetzt entspannter“.
Die männliche Verhütung beschränkt sich derzeit auf Kondome, Coitus Interruptus und die drastischere Variante Vasektomie. In den Siebzigerjahren begann die Forschung an medikamentöser Verhütung für Männer, aber die großen Pharmaunternehmen forschen kaum im Bereich männlicher Verhütung, sie verdienen gut an den Antibaby-Pillen, deren Markt weltweit etwa bei 15 Milliarden US-Dollar liegt. Seit ein paar Jahrzehnten regeln Paare in Westeuropa ihr Sexualleben mit dem „Pillenkonsens“; etwas weniger als die Hälfte der Gebärfähigen nimmt sie. Die Gewohnheit hat sich eingependelt, dass mehrheitlich Frauen die Kosten der Verhütung übernehmen. Ansätze wie die Pille für den Mann oder ein Testosteron-Gel, das die Spermien lahm legt, stecken in frühen klinischen Testphasen fest. Nun weckt der Hemm-Wirkstoff YCT529 nach erfolgreichen Experimenten an Primaten Hoffnung: Sollten sich die Resultate auf Menschen übertragen lassen, würde es noch mindestens fünf Jahre dauern, bis der Stoff auf den Markt kommt. Die letzten News auf dem männlichen Verhütungsmarkt stammen aus dem Jahr 1912, als ein Berliner Tüftler einen Glaskolben in eine Gummilösung tauchte und das nahtlose Kondom erfand. Erste Gummikondome wurden ab 1855 produziert, nachdem Charles Goodyear ein Verfahren zur Herstellung von Gummi ausgeklügelt hatte. In den Jahrtausenden zuvor wurden Schwimmblasen von Fischen, Tierdärme oder Leinengewänder verwendet, deren Anwendung nicht zuverlässig war, – geschweige denn komfortabel.
Ab den 1960er-Jahren erlaubte die neue Verhütungsmethoden Frauen, ihr Berufsleben gezielter zu planen und ihr Sexualleben unbekümmerter auszuleben. Seit einigen Jahren machen nun Influencerinnen Stimmung gegen die Pille unter Hashtags wie #pilleabsetzen. Auf Instagram schreibt eine junge Frau, sie wolle „die Hormonschleuder nur noch im Müll sehen“. Das Profil von „Jessie – Dein Zykluscoach“ hat über 70 000 Follower/innen und warnt im Wochenrhythmus vor angeblich durch die Pilleneinnahme verursachte Migräne, Depressionen, Wassereinlagerungen und Schilddrüsen-Störungen. Gut belegt ist lediglich das Thrombose- oder Embolierisiko: Bei Frauen, die keine Pille nehmen, liegt die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen bei zwei zu 10 000. Für Pillen der zweiten Generation zählt man fünf bis sieben von 10 000 Frauen, bei denen eine Embolie auftritt. Viele Mediziner empfinden die Thrombosenrisiko-Debatte allerdings als verkehrt: Während der Schwangerschaft steigt das Risiko gegenüber denjenigen, die eine Antibabypille einnehmen ums fünffache. Die Angst vor der Pille gepaart mit der Vorstellung, diese stehe einer gesunden und umwelt-bewussten Lebensweise entgegen, bewirkt dennoch ein Umdenken. Gegenüber reporter.lu erläutert die Frauenärztin Brigitte Marchand, seit einer Dekade würden vermehrt Kupferspiralen eingesetzt. Dass die Skepsis gegenüber der Pille besonders unter Jüngeren steigt und deren Anwendung rückläufig ist, bestätigte letztes Jahr überdies „die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ in Köln in einer groß angelegten Studie.
Ob die Pillenmüdigkeit zu mehr Offenheit gegenüber Vasektomien führen wird, bleibt abzuwarten – in diesem Beitrag deuten die Gesprächspartner dies jedenfalls an. Bald sollen die Operationen zudem von der CNS rückerstattet werden. Dann wird sich jedoch die Frage stellen, weshalb Frauen, die älter als 30 sind, die Kosten für die Anti-Babypille selber tragen sollen.