In der Kannerklinik wartet man im Moment – ohne lebensbedrohliche Situation – über sieben Stunden, ohne eine Ärztin zu Gesicht zu bekommen, während die Kinder fiebrig und mit glasigen Augen an ihren Eltern rumhängen und im besten Fall irgendwann resigniert einschlafen. Das sei ab September bis Winterende jeden Abend so, sagte die Frau vom Empfang kürzlich bei einem Besuch, ebenfalls resigniert. Lange Wartezeiten, überfüllte Zimmer und genereller Personalmangel im klinischen und außerklinischen Bereich sind in der Pädiatrie zur Norm geworden. Bricht die Infrastruktur unter dem Bevölkerungswachstum zusammen?
Nach langen Jahren der Überfrequentierung sollte die an die Kannerklinik angegliederte Maison Médicale pédiatrique Erstere entlasten. Mit einem Lächeln hatte die damalige Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) die Struktur, die von liberalen Kinderärzt/innen betrieben wird, 2015 eröffnet. Doch auch dieses Angebot, das an Wochentagen von 19 bis 22 Uhr und an Feiertagen und Wochenenden von 9 bis 21 Uhr Patienten annimmt, reiche nicht aus, um dem größeren Andrang, der aus dem Bevölkerungswachstum resultiert, gerecht zu werden, sagt Claude Schalbar, pädiatrischer Notfallmediziner an der Kannerklinik. Im Kinderkrankenhaus arbeiteten 2019 6,5 Kinderärzte in der Notaufnahme, heute sind es elf. Trotz der Aufstockung reichten die Ressourcen nicht aus, was neben der wachsenden Anzahl an Kindern auch der Bronchiolitis-Epidemie und den Covid-postpandemisch fallenden Masken geschuldet ist.
Letztes Jahr gab es 46 845 Vorstellungen in der Notaufnahme, im arbeitsintensiveren Winter schreiben sich laut Dr. Schalbar ab 18 Uhr jede Stunde zwischen 15 und 20 Patienten in die Warteliste ein. „Kinder, die in der Großregion wohnhaft sind und deren Eltern in Luxemburg arbeiten, kommen ebenfalls zu uns“, sagt Schalbar. Es gehe also um etwa 900 000 über die CNS Versicherte – von denen natürlich nicht alle Kinder sind – trotzdem ein schwer zu bewältigender Andrang. Die überproportionale Frequentierung habe auch mit den leichteren Fällen, die zwar ärztlich versorgt werden müssten, aber im Triage eher einem Schweregrad 4 oder 5 entsprechen (1, 2 und 3 müssen sofort behandelt werden).„Ein service national kann kein service unique sein. Wir wollen uns auf auf die wirklichen Notfälle konzentrieren, auf Epilepsie- und Asthmakrisen, auf Meningitis und Fieber bei Neugeborenen“, sagt Schalbar. Er spricht von einer „regelrechten Anarchie“, wenn es um die Orientierung der kranken Kinder geht, von einer Dynamik, die sich um den Notfall dreht, auch wenn es sich nicht unbedingt um einen handelt. Ein erweitertes Angebot, also lokale Versorgungszentren, ebenso wie verlängerte Öffnungszeiten in der Maison médicale pédiatrique seien nötig. Mehr als die Hälfte der Kinder könnte bei erweiterten Öffnungszeiten in die MMP überwiesen werden, schätzt Romain Nati, Direktor des CHL.
De facto haben Familien mit kranken Kindern, die abends ärztlich versorgt werden müssen, ab 20 Uhr keine andere Wahl mehr als in die Kannerklinik und die dortige Maison médicale zu fahren. Ganz gleich, ob sie in Weiswampach, Rodange oder Schengen wohnen. Die pädiatrisch akuten Notfälle betreut die Bohler-Klinik in Kirchberg auch an Wochenenden nur bis 20 Uhr, Eltern mit weniger akuten Fällen werden telefonisch zur Terminvergabe auf Doctena aufgefordert – die für den gleichen Tag natürlich voll ist. Die vier Kinderärzte des CHEM sind jeden Tag bis 20 Uhr im Einsatz, den Rest der Zeit in Rufbereitschaft, falls vom Notfallmediziner gebraucht. Die Bereitschaftsdienste sind zwar anstrengend und schlafraubend, finanziell sind sie jedoch unter der damaligen Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) aufgewertet worden. Die Gebührenordnung der CNS schreibt vor, dass ein Arzt für eine Konsultation im pädiatrischen Notdienst, die zwischen 22 und 7 Uhr stattfindet und bei der ein leichterer Fall behandelt wird, 163,10 Euro aufschreiben darf. Doch ein niedergelassener Kinderarzt hat offenbar in seiner Praxis genug zu tun und ist finanziell gut versorgt. Am CHL, wo Salariatsmedizin praktiziert wird, sind Bereitschaftsdienste Teil der Verträge.
In Luxemburg arbeiten derzeit laut Register 123 Kinderärzte und -ärztinnen, davon 94 in Krankenhäusern (Stand März 2022). Die Zahl kann irreführen, da manche der liberalen Kinderärzte im Ruhestand sind oder nur noch stundenweise arbeiten. 2008 waren es noch 72. Sie konzentrieren sich auf Luxemburg-Stadt und Umgebung. Dass die Versorgung im Land ungleich verteilt ist, hat sich seit Jahren nicht verändert. Im Norden und Osten fährt man lange zu einem Kinderarzt. Drei Kantone (Redingen, Clerf und Vianden), mit einer Bevölkerung von knapp 46 000 Menschen, stehen ganz ohne kinderärztliche Versorgung da. Ende September wurde in der Chamber eine Petition für eine bessere pädiatrische Rundumversorgung im Norden debattiert, sicherlich auch das Resultat der vorübergehenden Maternité-Schließung im April, die nicht nur, aber vor allem do owen schockierte. Dabei sind die Probleme schon viel älter. Schon 2013 hatten die vier damaligen freiberuflichen Kinderärzte ihren Vertrag mit dem Ettelbrücker Krankenhaus gekündigt, weil die ständigen Bereitschaftsdienste als zu belastend und ungerecht empfunden wurden, da viele andere Kollegen keine leisten. (Anderthalb Jahre später passierte das erneut, dann auch im CHEM). Aus dem politischen Druck heraus entstand in Ettelbrück die „inhouse“ Maison medicale pediatrique im CHdN, das vom damaligen Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo (LSAP) konzipierte Pilotprojekt, das mittlerweile an Wochenenden und Feiertagen am Morgen zwei Stunden geöffnet ist. Das Ettelbrücker Spital verfügt seinerseits über fünf pädiatrische Belegärzte, die alle ebenfalls in einem unterbesetzten Teil des Landes in Praxen tätig sind.
Doch rein zahlentechnisch ist die kindermedizinische Versorgung auch in Teilen der Hauptstadt ernüchternd. Stadtteile wie Bonneweg (Stand Januar 2022 knapp 18 000 Einwohner/innen) zeigen keinen einzigen Kinderarzt auf. Natürlich fährt es sich einfacher von Bonneweg in die Oberstadt, den Stadtteil, der die Doctena-Webseite als nächsten Pädiater vorschlägt, als von Wemperhardt nach Wiltz. Die Frage einer flächendeckenden Versorgung der Hauptstadt stellt sich trotzdem. Carla Kallenbach, die in ihrer Praxis in Howald Kinder aus Hesperingen, Bonneweg und Howald betreut (also ein Einzugsgebiet von mehr als 26 000 Menschen), ist keine Frau, die klagt, auch nicht wenn sie mal dreizehn Stunden in der Praxis steht. Die Mutter von vier Kindern arbeitet seit drei Jahren in Luxemburg, nach Jahren als Oberärztin und ambulanter Tätigkeit in Deutschland, hier sei sie gewissermaßen noch ein „Küken“. Den Beruf hat sie aus Leidenschaft gewählt, weil „es viel menschlicher zugeht – Kinder und Eltern lassen sich vieles einfach nicht gefallen.“ Ihre Praxis würde sie sich gerne mit jemandem teilen, aber die Suche sei schwierig. Sie erklärt sich das momentane Chaos auch dadurch, dass manche Eltern so lange den Arzt wechseln, bevor sie das bekommen, was sie wollen – zum Beispiel das Antibiotikum, das sie für nötig erachten. Das verschleudere Ressourcen. Andererseits stünden Eltern heutzutage unter enormem Leistungsdruck, vielen sei eine gewisse Intui-
tion, gepaart mit einem „Alles wird gut-Gefühl“, verloren gegangen. Sie müssten lernen, sich selbst und ihrem Kind wieder zu vertrauen – vor allem, wenn es um das Einschätzen vom Kranksein gehe.
Auf die Schwierigkeit, Kinderärzte zu finden, war schon der Bericht État des lieux des professions médicales et des professions de santé au Luxembourg im Jahr 2019 eingegangen. Neben der Psychiatrie und der Allgemeinmedizin stellt die Kindermedizin die am wenigsten attraktive Spezialisierung für Medizinstudenten dar. Das liege mitunter an der finanziell uninteressanteren Bezahlung – ein Kinderarzt verdient etwas weniger als der generelle Durchschnitt aller Ärzte und drei Mal weniger als ein Radiologe. Das führe zu den „difficultés très sévères de recrutement“. Das ist umso problematischer, da das Durchschnittsalter der zur Zeit praktizierenden Pädiatern bei etwa 50 Jahren liegt – und bis 2034 laut Bericht 33 von ihnen sich in den Ruhestand verabschieden.
In den Nachbarländern ist eine ähnliche Situation zu beobachten. Letzte Woche schlug Stéphane Dauger, Dienstchef in der pädiatrischen Reanimation eines Pariser Krankenhauses, auf France Inter Alarm. Die Qualität der Pflege würde „zusammenbrechen“, Kinder schwebten in Lebensgefahr aufgrund des Ressourcen- und Geldmangels. Die Versorgungswüsten wachsen, laut der Verbraucherorganisation UFC-Que choisir leben 27 Prozent der Kinder in Frankreich mehr als 45 Fahrtminuten von einem Kinderarzt. Auch hier wenden sich viele Familien an die Urgences, weil die außerklinische Versorgung entweder nicht existiert oder überlaufen ist. Und auch hier bräuchte man in etwa das Doppelte an Pädiatern, um die alternden Kinderärzte zu ersetzen. In Deutschland habe man ebenfalls verpasst, die nächste Generation auszubilden – dort gingen bis 2025 laut Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sogar ein Viertel aller Pädiater in Rente.
Wo bleibt der Nachwuchs? Viele Faktoren spielen eine Rolle. „Für diesen Beruf braucht man Fingerspitzengefühl, man behandelt die ganze Familie“, sagt Serge Allard, Präsident der Société luxembourgeoise de pédiatrie (SLP). Das habe und wolle nicht jeder. Einen brain drain gebe es ebenfalls: Wenn Studierende im Ausland blieben, auch wenn die Bezahlung hier besser sei, liege das auch an den interessanteren Forschungs- und Praxismöglichkeiten. Da es ohnehin schon eine große Herausforderung darstelle, genommen zu werden, würde man sich natürlich überlegen „für Impfungen und Schnupfen heem zu kommen“. Die junge Generation schaue auch zunehmend auf die viel beschworene Work-Life-Balance und beanspruche mehr Zeit mit ihrer Familie. „Mir hunn eis doutgeschafft, dat wëlle vill Jonk net méi.“ Mittlerweile würden zwei Pädiater gebraucht, um einen zu ersetzen. Es habe bisher auch keine politischen Visionäre gegeben, die die ärztliche Ausbildung vorangetrieben hätten. Auch die höhere Frauenlastigkeit des Berufs erkläre mitunter den derzeitigen Mangel, da Frauen als Mütter immer noch stärker familiär in der Verantwortung stünden, auch wenn dies sich langsam ändere, meint Carla Kallenbach.
Die Ärzte sehen als kurzfristige Lösungsansätze Einrichtungen einer Telefonzentrale, ähnlich wie jener, die es während der Pandemie gab, um sich als Eltern eine intelligente Antwort auf die Frage: „Müssen wir in die Notaufnahme?“ zu holen. Auch Elternschulen, die vom Ministerium initiiert würden und eventuell schon in der Schwangerschaft anfingen, seien eine Idee, ebenso wie die Schaffung eines Arzthelfer/innen-Berufs, wie er in Deutschland existiert. „Man sollte sich aber schon auch fragen, wo man in zehn, 20, 30 Jahren sein will“, moniert Claude Schalbar. Auch deshalb befürworten die Gesprächspartner die Schaffung einer Ausbildung zum Pädiater an der Uni.lu. Serge Allard schlägt vor, den im Ausland Studierenden finanzielle Anreize zu bieten, um nach der Ausbildung zurückzukehren. Insgesamt müsse man in Luxemburg ein „Delta der Attraktivität“ schaffen, sagt Romain Nati, um „aus der negativen Spirale in eine positive zu kommen“. Auf das Ausland könne man sich nicht verlassen, um die Lücken zu füllen. Als André Bauler (DP) und Gilles Baum (DP) sich im März bei der Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) in einer parlamentarischen Frage nach Details zur kinderärztlichen Versorgung erkundigten, fiel die Antwort optimistisch aus: „Les départs d’ici fin 2025 devront au moins être remplacés“. Dass das nicht reichen wird, wenn man sich die Bevölkerungsentwicklung anschaut, darüber wird lieber geschwiegen.
Die Thematik offenbart jedoch ein tiefgreifenderes Problem, nämlich dass Kinder keine Lobby haben. Auch wenn die Politik sie gerne für Wahlkampf-Zwecke in kitschige Werbespots einbaut, wenn sie in jeder zweiten Rede als Hoffnungsträger bezeichnet werden, für die es sich lohnt, für den Klimawandel und die ganzen anderen Probleme zu kämpfen, so zeigt sich in der Realität, dass sie oft eher verwaltet denn als wesentlicher Teil der Gesellschaft erachtet werden, dass sie keine Priorität sondern ein afterthought, ein Nachtrag, darstellen. Wie das Pandemiemanagement wohl ausgesehen hätte, wenn Covid-19 besonders kleine Kinder gefährdet hätte, fragte Fernand Pauly, Sprecher der SLP während des ersten Lockdowns auf RTL. Immer noch eine gute Frage.