Mit Bärten verhält es sich ein wenig wie mit der Förderung von Rohöl. So wie M. King Hubbert Peak Oil ursprünglich für die Siebziger vorausgesagt hatte, konnte man auch davon ausgehen, dass die Gesichtsbehaarung mit überdimensionierten Koteletten, buschigen Schnauz- und wuscheligen Vollbärten in den Siebzigern ihren Höhepunkt erreichen und danach zurückgehen würde. Doch neue Fördertechniken ermöglichten die Ausbeutung immer neuer Ölquellen. Was der Petroleumindustrie das Fracking, sind der Gesichtsbehaarung die Hipster. Die kauften in den vergangenen zehn Jahren nicht nur Original-Synthetik aus den Siebzigern im Secondhand-Laden. Sie machten, nachdem der letzte überlebende Kinnbart der Neunziger abrasiert war, wieder opulentere Bärte populär. So populär, dass obwohl Hipster längst ein Schimpfwort ist, Stil- und Mode-Kolumnisten seit Jahren vergeblich Peak Beard voraussagen.
Dieser Bartbewuchs befällt insbesondere Angehörige der Generation Y und Junggebliebene der Generation X. Dass man ihren Stil angesichts der üppigen Bärte beispielsweise nicht mit „Sexy-Salafisten-Look“ bezeichnet, sondern von lumbersexual redet, hat damit zu tun, dass der Vollbart häufig in Kombination mit karierten Holzfällerhemden getragen wird. Die Karos deuten körperliche Arbeit unter widrigen Bedingungen an, vermitteln ein archaisches Bild des starken Mannes. Zumal unter den Hemdkragen und -ärmeln die Umrisse einer üppigen Körperbemalung hervorlugen.
Trotz der vermeintlichen Naturverbundenheit dieser Burschen, haben sie ihr Smart-Phone stets zur Hand, wie man an den unzähligen Tumblr-, Pinterest- und Instagram-Feeds zum Thema „Beards and Tats“ erkennen kann, wo sie auf geradezu karrikaturale Art ihre sekundären Geschlechtsmerkmale zur Schau stellen. „They’ve got beards and they’ve got tattoos. And I’ll tell you something honey, that means trouble. A wild, daring trouble“, heißt es beispielsweise verrucht auf tattoosandbeards.tumblr.com, wo eine Auswahl bizepsbeugender Männer zu sehen ist, die angestrengt ihre Stirn in Falten legen. Dieses Stirnrunzeln scheint das Äquivalent des Lippenschürzens weiblicher Modebloggerinnen zu sein, die wahrscheinlich morgens im Bad nicht mehr Zeit brauchen als die bärtigen, tätowierten Männer. Geschniegelt und gestriegelt, so akkurat gekämmt wie sie sind, sind diese Möchtegern-Holzfäller wohl eher in der Handhabung des Haarkamms geübt als im Umgang mit Kettensäge und Axt. Es umweht sie vielmehr ein Duft von Pommade als der Geruch ihrer eigenen Arbeit. Und so scheint das Gefahrenpotenzial, das von ihnen ausgeht, trotz anderslautender Versprechen ziemlich beschränkt.
Damit setzen sie altgediente Codes außer Kraft. Wuschelbärte galten nach den Siebzigern als eindeutiges Signal für extreme religiöse Überzeugungen gleich welcher Konfession (jüdisch-, christlich-, ökologisch-orthodox). Mit Tätowierungen kennzeichneten sich Seeräuber, Mafiosi oder Gefängnisinsassen. Kombiniert sind sie aber mittlerweile ein relativ sicheres Indiz dafür, dass ihr Träger Grafikdesigner ist oder sonst einen Job in der „Kreativindustrie“ hat. Wobei auch Buchhalter, Unternehmensberater, Bankiers und andere Bürohengste sich zunehmend mit ihnen schmücken. Sie tauschen dann in der Freizeit den Anzug gegen Karohemden im Holzfällerstil, um zu signalisieren, dass sie auch mal an die frische Luft kommen.
Das Phänomen hat in der Zwischenzeit auch die Wissenschaft auf den Plan gerufen, die herausfinden wollte, warum Männer ihre Körper zunehmend bemalen, sich nicht mehr rasieren und immer mehr zu eitlen Pfauen werden. Are badges of status adaptive in large complex primate groups?, fragten sich Cyril C. Grueter, Karin Isler und Barnaby J. Dixon von der University of Western Australia in Evolution & Human Behaviour. Sie haben den Geschlechtsdiphormismus in der Ornamentierung 145 verschiedener Primatengattungen untersucht und stellten eine Verbindung zwischen Gruppengröße und geschlechtsspezifischer Verzierung fest. „In sum our analysis suggests that among primates with larger group sizes and multilevel social organisations, males have more developed visually conspicuous secondary sexual traits. This may reflect selection for amplified signals of individual identity, rank, dominance, or attractiveness in large and complex social organisations wherein social and physical conflict may arise frequently and individual recognition is limited.“
Aus dem Biologischen übersetzt heißt das ungefähr Folgendes: Von der zunehmenden Komplexität der Welt überfordert, in der die Partnerwahl nicht mehr nur auf dem Schulhof, am Arbeitsplatz, in der Kneipe sondern via Internet weltweit stattfindet und mehr Konkurrenz herrscht, entwickeln Männchen ihre sekundären Geschlechtsmerkmale, um den Mitbewerbern und möglichen Geschlechtspartnerinnen zu signalisieren, wer den längeren Bart hat.
Dieses Streben nach individueller Identität drückt sich beispielsweise auch in dem von Bartträgern gerne geäußerten Satz aus: „Ich hatte schon einen Bart, bevor es Mode war!“ – obwohl oft genug fraglich ist, ob sie zu besagten Zeitpunkt über mehr als einen präpubertären Lippenflaum verfügten.
Dabei hat Barnaby J. Dixon zusammen mit Forscherkollegen der University of New South Wales in Sydney in einer Studie unter dem Titel Negative frequency-dependant preferences and variation in male facial hair in der Zwischenzeit festgestellt, dass Bärte nur attraktiv auf Konkurrenten und auf Frauen wirken, wenn es davon nur wenige gibt. Was die Forscher anhand von Fotos mit frischrasierten Männern, solchen mit Dreitage-, Stoppel- und Vollbart im Labor belegt haben, lässt sich problemlos jedes Wochenende an Treffpunkten der Generationen X und Y beobachten: Dass die äußerlichen Zeichen der „individuellen“ Maskulinität und Virilität in der kollektiven Gesichtshaarfülle untergehen und es mittlerweile nichts Banaleres und Unaufregenderes gibt, als tätowierte Kerle mit Bart.