Philippe Marini ist ein etwas pingeliger Finanzinspektor mit einer feinen Brille, der für die regierende Partei UMP Berichterstatter des Finanzausschusses im französischen Senat ist. Seit über 20 Jahren ist er auch Bürgermeister der kleinen Gemeinde Compiègne nördlich von Paris, wo sich das Schloss befindet, in dem Napoleon III. die Sommerfrische zu genießen pflegte.
Deshalb ist Marini auch Experte für europäische Geschichte, und so erklärte er am Samstag auf France Culture salopp: „J’aurais préféré effectivement qu’en 1867 à Compiègne, Napoléon III et Bismarck aient un entretien qui débouche autrement et que le Luxembourg n’existe pas.“ Und hinzugefügt: „Il y a beaucoup de livres, de travaux historiques sur ce tournant de 1867 et c’est la faiblesse de Napoléon III qui a permis à ce pays d’exister, alors qu’il n’avait aucune espèce de raison historique d’exister.“
Zwei Tage zuvor hatte der Historiker, Geopolitiker und Universalexperte Alexandre Adler in seiner täglichen Chronik für denselben Sender selbstsicher behauptet, „que les Luxembourgeois ont fait toute la guerre comme malgré-nous dans l’armée allemande et que la résistance luxembourgeoise, il est vraiment un pays aussi petit, n’était pas absolument évidente“.
Es war ein merkwürdiger Zufall, dass am selben Tag mehrere tausend Luxemburger, Franzosen, Belgier und Deutsche auf der Place Clairefontaine gegen die Diskriminierung der Grenzpendler bei der Kürzung des Kindergelds protestierten. Jedenfalls sollte, vielleicht ohne es überhaupt zu wollen, Senator Philippe Marini mit zwei Sätzen dann gelingen, was Premier Jean-Claude Juncker am Freitag in einem einstündigen Pressebriefing versagt geblieben war: die Luxemburger Regierung vom beschämenden Vorwurf des nationalen Egoismus weißzuwaschen und ihr die weit angenehmere Opferrolle aufzutragen. Der Premier, der Außenminister und der Kammerpräsident nutzten die Gelegenheit weidlich, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen.
Selbstverständlich wollte Marini sich nicht dafür erkenntlich zeigen, sondern rächen, dass die Luxemburger EU-Kommissarin Viviane Reding vier Tage zuvor in Brüssel die französischen Massendeportationen von Zigeunern mit den sorgfältig vorbereiteten Worten kommentiert hatte: „I personally have been appalled by a situation which gave the impression that people are being removed from a Member State of the European Union just because they belong to a certain ethnic minority. This is a situation I had thought Europe would not have to witness again after the Second World War.”
Vielleicht ebenfalls ohne es zu wollen, hatte Kommissatin Reding so höchst erfolgreich die französische Regierung vom beschämenden Vorwurf des nationalen Egoismus weißgewaschen und ihr die weit angenehmere Opferrolle aufgetragen. Was Präsident Nicolas Sarkozy während des Brüsseler Gipfels selbstverständlich weidlich nutzte, um die Kommission zu beschimpfen und so Sympathiepunkte bei der sehr rechten Wählerschaft zu sammeln, welche die Kommission ebenso wenig leiden kann wie die Zigeuner.
Dabei liegen die beiden rechten Regierungen in Paris und Luxemburg in der Sache gar nicht so weit auseinander. Nachdem die CSV im Wahlkampf letztes Jahr den Ton angeben hatte, notierte die LSAP artig in ihrem Wahlprogramm: „In diesem Sinne wollen die Sozialisten den konkreten Bedarf an Sozialleistungen anhand einer eingehenden Untersuchung prüfen und das Prinzip einer selektiven, bedarfsorientierten Sozialtransferpolitik stärker verankern.“ Das übernahmen CSV und LSAP dann in ihr Koalitionsabkommen, wo es heißt: „Au niveau des transferts sociaux, l’objectif à moyen terme sera de freiner la croissance des dépenses en y introduisant davantage de sélectivité sociale.“ Und floss anschließend in die Regierungserklärung ein: „Iwwer eng méi selektiv Ausriichtung vun de Sozialausgabe muss mat de Sozialpartner diskutéiert ginn, am Kader an am Geescht vum Lëtzebuerger Modell op deen d’Regierung grousse Wäert leet.“
Leider lasen viele Leute aus diesen Ankündigungen heraus, was sie hineinlesen wollten, und glaubten irrtümlicherweise, dass die selektive Sozialpolitik darin bestehen sollte, besser verdienenden Familien staatliche Sozialleistungen zu entziehen. Doch der im Juli vom Parlament verabschiedete „Paradigmenwechsel“ bestand darin, die Grenzpendler zu benachteiligen und den besser verdienenden Familien im Inland großzügige Studienbeihilfen zu gewähren, die sie gar nicht gefragt hatten. Die selektive Sozialpolitik geschieht also nicht nach sozialen, sondern nach nationalen Kriterien, die soziale Selektivität ist in Wirklichkeit eine nationale Selektivität. Mit ihr hätte Präsident Sarkozy sicher keine Schwierigkeiten, wie Luxemburg seit Jahrzehnten weit strenger gegen Zigeuner vorgeht als Frankreicht (siehe Seite 5 in dieser Ausgabe).
Da konnte es ihnen so schwer nicht fallen, als sich inzwischen all die rechten Politiker aus Luxemburg und Frankreich untereinander entschuldigten. Doch der Luxemburger Regierung bleiben neben den aktuellen Problemen mit den Sozialpartnern und innerhalb der Koalition auch noch Probleme mit Frankreich. Denn der Streit zeigte erneut, dass Luxemburg seit der spätestens mit dem Lissabon-Vertrag beglaubigten Renationalisierung der EU-Politik nichts mehr geschenkt bekommt. Immerhin ist es kaum mehr als ein Jahr her, dass der damalige Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten, Franz Müntefering, die Steuerflucht nach Luxemburg und der Schweiz sehnsüchtig kommentierte: „Früher hätte man dort Soldaten hingeschickt. Aber das geht heute nicht mehr.“ Sein Parteikollege, der damalige Finanzminister, Peer Steinbrück, hatte ebenso militaristisch gedroht: „Die Kavallerie in Fort Yuma muss nicht immer ausreiten, manchmal reicht es, wenn die Indianer wissen, dass sie da ist.“
Steuergelder und Wählerstimmen wogen damals offenbar ungleich schwerer als die persönlichen Beziehungen von LSAP-Außenminister Jean Asselborn zu deutschen Sozialdemokraten. Wie auch Premier Jean-Claude Juncker letztes Jahr an eine stillschweigende Abmachung geglaubt hatte, dass beim G-20-Treffen in London kein EU-Staat zulassen würde, dass ein anderer auf die OECD-Liste der Steueroasen gesetzt würde. Doch die französische und die deutsche Regierung zwangen mit vereinten Kräften den plötzlich als parasitäre Volkswirtschaft angesehenen Partner zur schrittweisen Aufgabe des Bankgeheimnisses.
Die wirtschaftliche Globalisierung und die Krise der Staatsfinanzen machen eben alle Partner zuerst zu Konkurrenten. Und nach dem Ende des Kalten Kriegs sind die zuvor vom strategischen Blockdenken diktierten Rücksichten auf den Zwergstaat mit dem anscheinend unverschämt hohen Bruttosozialprodukt nicht mehr nötig. Mit jeder Erweiterung der EU ging zudem der Einfluss des kleinen, nostalgischen Ceca-Veteranen zurück. So als drohe der Rückmarsch zum Ausgangspunkt, als einer von Jean-Claude Junckers Amtsvorgängern und Parteikollegen, Émile Reuter, 1919 in Paris wegen allzu großer Deutschfreundlichkeit abblitzen gelassen wurde.
Allerdings könnten auch heute Luxemburgs anhaltende diplomatische Probleme zum Teil auf hausgemachte Fehler zurückzuführen sein, die sich nicht einmal mit drastisch erhöhten Militärausgaben und Zuschüssen für die Entwicklungshilfe ausbügeln lassen. Statt rechtzeitig Entgegenkommen in der Frage des Bankgeheimnisses zeigen zu wollen oder zu können, führte die Regierung so lange Rückzugsgefechte, bis sie zur Kapitulation gezwungen wurde. Und die „Schwierigkeiten“, die der französische Präsident laut Außenminister Asselborn mit Luxemburg hat, gehen auch darauf zurück, dass Luxemburg allzu oft deutsche Interessen als seine eigenen vertrat – was Jean-Claude Juncker als Sprecher der Eurogruppe während der Finanzkrise vor zwei Jahren nicht verziehen bekommt. Doch die außenpolitischen Erklärung vor dem Parlament im November letzten Jahres hatte noch einmal gezeigt, dass die Regierung und die übergroße Mehrheit der Abgeordneten die diplomatischen Schwierigkeiten des Landes am liebsten ignorieren würden. Schließlich ist das böse Ausland selber Schuld.